Entzauberte Mär von der Allmacht des Marktes
Dass die Marktkräfte nirgends verhängnisvoller greifen als auf dem Börsenparkett, ist seit langem bekannt. Neu hingegen ist, dass die einstigen Matadore des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus den starken Staat schalten und walten sehen wollen. Der US-amerikanische Finanzminister Henry Paulson, lange Zeit Generaldirektor der Investmentbank Goldman Sachs, wirft den Wall Street-Akteuren vor, dass sie mit ihren Exzessen die Krise nicht nur zu verantworten, sondern den Risiken für Sparer und Steuerzahler gleichgültig gegenüber gestanden hätten. Regierungen gleich welcher Couleur sichern sich Beteiligungen an den einstigen Leuchttürmen der Finanzwelt: an Goldman Sachs und JP Morgan in New York, an Barclays und Lloyds TSB in London, an Dexia und Fortis in Brüssel. Tempora mutantur!
Die wackligen Säulen des Marktes
Hatte bis Mitte der 1970er Jahre noch die Vorstellung dominiert, der Staat müsse die Feinsteuerung der Wirtschafts- und Sozialordnung vornehmen, um gesellschaftliche und ökonomische Verwerfungen auszugleichen, wurden seither immer wieder die "Steuerungsdefizite des Staates und im Staate" (Martin Jänicke) herausgestellt – mit zunehmend schärferer Akzentuierung. Daher gilt vielen der Wohlfahrtsstaat kontinentaleuropäischer Prägung im Zeitalter der Globalisierung als von der ökonomisch-technologischen Entwicklung überholt, als Hemmschuh der Wettbewerbsfähigkeit und eigenwilliger Leviathan, der seine Bürgerinnen und Bürger mit übergebührlichen Steuern und Abgaben drangsaliert.
War die materielle Leistungserbringung einst konstitutives Merkmal des Staates, ist seit einem Vierteljahrhundert eine deutlich verstärkte Übernahme traditionell öffentlicher Güter und Dienstleistungen durch private Akteure zu beobachten. So haben die tatsächlichen und vermeintlichen Zwänge der Globalisierung – gepaart mit dem "selbst organisierten Ressourcenentzug" (Peter Bofinger) des Staates – in beinahe sämtlichen Politikfeldern zu einer Rückbesinnung auf die wackligen Säulen der "reinen" Marktwirtschaft anglo-amerikanischer Prägung geführt.
Sichtbarster Ausdruck dieser Entwicklung ist der Rückzug des Staates, der hierzulande auf kommunaler, Landes- und Bundesebene zunehmend auch im Bereich der Daseinsvorsorge stattfindet: Museen, Schwimmbäder, Schulen und Kliniken werden ebenso privatisiert wie städtische Wohnungsbaugesellschaften, Elektrizitäts-, Klär- und Wasserwerke. So werden selbst solche Gesellschaftsbereiche der Gewinnmaximierung unterworfen, die Versorgungssicherheit gewährleisten, Beschäftigung sichern und soziale Schieflagen ausgleichen sollen. Der Markt aber, nach dessen Vorbild immer mehr Gesellschaftsbereiche geordnet werden, lässt die Anwendung von Kategorien wie Gerechtigkeit, Solidarität und soziale Balance nicht zu.
Jürgen Habermas hat dieses Dilemma unlängst in einem Interview mit der Wochenzeitung "Die Zeit" zum Ausdruck gebracht: "Seit den Anfängen der Moderne müssen Markt und Politik immer wieder so ausbalanciert werden, dass das Netz der solidarischen Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer politischen Gemeinschaft nicht reißt. Eine Spannung zwischen Kapitalismus und Demokratie bleibt immer bestehen, weil Markt und Politik auf gegensätzlichen Prinzipien beruhen."
Mehr und mehr wird der Um- und Abbau des (Sozial-)Staates als eine Befreiung aus "bürokratischer Bevormundung", als eine beschäftigungswirksame "Belebung der Eigeninitiative" und als ein gleichsam die Entschlusskraft weckendes "Fördern und Fordern" gedeutet. Aber wie auch immer die schmückenden Etikette heißen mögen, verschärft sich mit vielen diesen "Verbetriebswirtschaftlichungen" sowohl der Gegensatz von öffentlicher Armut und privatem Reichtum als auch die Kluft zwischen den einzelnen Mitgliedern der Gesellschaft. Besonders anschaulich belegt dies die Privatisierung von Lebensrisiken. Dazu zählt die Zuzahlungspflicht bei der Inanspruchnahme bestimmter ärztlicher Leistungen ebenso wie der Missstand, dass viele prekär Beschäftigte die Alterversorgungslücke mit einer privaten "Riester"- oder "Rürup-Rente" nicht zu schließen vermögen.
Ziele jenseits betriebwirtschaftlicher Kennzahlen
Zudem lassen sich zahlreiche politische Ziele nicht in betriebswirtschaftliche Kennzahlen übersetzen, geben sie doch keine Antworten auf zentrale Fragen: Welchen Wert haben sozialstaatliche Grundsätze wie die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse oder die Verteilungs- und Chancengerechtigkeit? Wie soll das Vertrauen der Bevölkerung in Verwaltung und Gerichtsbarkeit monetär bewertet werden? Nach welchen Kriterien sollen institutionelle Arrangements wie Demokratie, Mitbestimmung, Minderheitenschutz etc. bewertet werden? Antworten auf derartige Fragen, die an den Kern der Staatlichkeit heranreichen und diese letztlich begründen, entziehen sich effizienztheoretischen Bewertungen, verlangen geradezu nach einer politischen, ethischen und normativen Einschätzung.
In Anbetracht der Tatsache, dass die von amerikanischen Subprime-Hypothekenkrediten ausgelöste Bankenkrise weltweit tiefe Bremsspuren in der Konjunktur und am Arbeitsmarkt hinterlassen wird, müssen diese Fragen wieder häufiger gestellt werden. Der große Kehraus im globalen Finanzkasino zeigt nämlich nicht nur, dass freie Märkte aufgrund ihrer weltweiten Vernetzung wesentlich stärker schwanken und damit krisenanfälliger geworden sind. Die schwersten ökonomischen Verwerfungen seit der Weltwirtschaftskrise 1929/30 sollten auch Anlass sein, das Verhältnis von Staat und Ökonomie zu überdenken und neu zu justieren. Der seit der Aufkündigung des Bretton-Woods-Systems geltende Schlachtruf, dass sich der Staat von den Kommandohöhen der Wirtschaft zurückziehen müsse, gilt nicht mehr – weder für die Finanzgeschäfte an der Wall Street noch für die Geschäfte des täglichen Lebens an der Main Street.
System "Bretton-Woods"
Mit dem Abkommen von Bretton-Woods, das 1944 unterzeichnet und 1973 aufgegeben wurde, sollte das internationale Währungssystem stabilisiert und die Weltwirtschaft neu geordnet werden. Das System "Bretton-Woods" ist als Reaktion auf die durch Abwertungswettläufe und Protektionismus gekennzeichnete Periode zwischen den beiden Weltkriegen zu verstehen. Erklärtes Ziel war es, den Welthandel von Handelsbarrieren zu befreien und durch eine Anbindung möglichst vieler Währungen an den US-Dollar enge Schwankungsbänder der Wechselkurse zu garantieren (Zielzonen-System).
Zur Person
Tim Engartner, Studienpreisträger 2006, hat in Bonn, Oxford und Köln Wirtschafts- und Sozialwissenschaften studiert. Seit Abschluss seiner Promotion arbeitet er an der Universität zu Köln im Bereich der politischen und ökonomischen Bildung.
Kategorien
Themen: Ökonomie