Wissenschaftlers Wachtraum
In seinen Briefen an einen jungen Dichter schreibt Rainer Maria Rilke: "Mit nichts kann man ein Kunst-Werk so wenig berühren als mit kritischen Worten: es kommt dabei immer auf mehr oder minder glückliche Mißverständnisse heraus. Die Dinge sind alle nicht so faßbar und sagbar, als man uns meistens glauben machen möchte; die meisten Ereignisse sind unsagbar, vollziehen sich in einem Raume, den nie ein Wort betreten hat, und unsagbarer als alle sind die Kunst-Werke, geheimnisvolle Existenzen, deren Leben neben dem unseren, das vergeht, dauert."
Eine junge Frau liest Zeitung. Auf dem Sofa. Oder in einer Pausenecke auf dem Campus, an einem abgenutzten Tisch mit Holzfurnier, schwarz lackierten Stahlbeinen und Brandflecken von Zigarettenkippen...?
Was liest sie? Einen Bericht über den bekannten Insektenforscher Prof. Lysenbeck – eine Koryphäe auf seinem Gebiet –, der aus Asien eine ganze Kiste kleiner Bombardierkäfer mitgebracht hat. Oder träumt sie bloß vor sich hin?
Denkt sie an ihr Seminar, an das Labor, in das sie gehen wird, wenn die Zigarette aufgeraucht ist und der Rest von Kaffee vor ihr im braunen Plastebecher kalt?
Oder ist es der Wissenschaftler, der hier träumt? In sich versunken, die letzten Tage seit seiner Rückkehr aus Asien rekapitulierend, abschweifend an jenen See, an dem er neulich Wasserläufer gefangen hat – oder irgendetwas ihn.
Steht sein Herz noch in unmittelbarem Kontakt zum Verstand?
Nastasja Keller
hat an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden studiert, malt Comics und ist Meisterschülerin bei Martin Honert. Wer mehr über sie wissen will, wird hier fündig.
Links zum Thema
- Homepage von Nastasja Keller
Zur Person
Christian Dries ist noch bis Ende Dezember 2008 Chefredakteur dieses Magazins.
Literatur
- Rainer Maria Rilke: Briefe an einen jungen Dichter; div. Ausgaben (zitiert nach der Ausgabe des Insel-Verlags von 1929).
Kategorien
Themen: Kunst