Lehrer werden ist nicht schwer?
Johannes* ist 30 und könnte in wenigen Monaten etwas haben, wonach sich sehr viele junge Menschen sehnen: eine feste Anstellung in einem Beruf, der ihm gefällt. Ein Schulleiter möchte ihn gern einstellen und freut sich bereits auf die Unterstützung im „Mangelfach“ Mathematik. Und doch wird Johannes’ Traum höchstwahrscheinlich einer bleiben.
Schuld daran ist der im Amtsdeutsch sogenannte „zweite Ausbildungsabschnitt für das Lehramt an Gymnasien“, das Referendariat. Wöchentliche Seminarssitzungen in zwei Unterrichtsfächern, dazu ein Seminar in Pädagogik, Unterricht in eigener Verantwortung und natürlich die Vorbereitungsarbeit lassen das Wochenpensum leicht auf 60 Stunden anschwellen. Auch Johannes hat das erleben müssen – und sich doch bis zur vorletzten Etappe der Ausbildung, der sechzigseitigen Examensarbeit, durchgekämpft. Die zweite Staatsprüfung wird er unter diesen Umständen eventuell nicht bestehen. Trotzdem: „Es macht mir Spaß, vor der Klasse zu stehen“, berichtet er mit einem entschuldigenden Schulterzucken, so als ob er sich dafür rechtfertigen müsste.
Den verantwortlichen Stellen ist die chronische Überlastung der Nachwuchslehrer offenbar kein Begriff: Beim Landesschulamt reagiert man auf Anfrage aufrichtig verwundert, und auch im Niedersächsischen Amt für Lehrerbildung und Schule (NiLS) findet sich nach längerem Zögern niemand, der Auskunft geben könnte zu Erfolgs- und Durchfallquoten im Referendariat. Stattdessen verschanzen sich die Befragten hinter der Vorgabe von Datenschutzgründen und verweisen auf weitere nicht auskunftsfähige Mitarbeiter.
„Im schlimmsten Fall hilft ihnen niemand“
Mehr Verständnis für die Lage des Lehrernachwuchses zeigen die Praktiker. Dieter Schmidt*, pensionierter Studiendirektor aus Niedersachsen und jahrelang selbst Ausbilder am Studienseminar, kann Johannes’ Situation nachvollziehen: „Die Referendare stehen ständig unter fürchterlichem Druck. Sie erleben einen Praxisschock, müssen ihre fachlichen Fähigkeiten mit der Praxis des Unterrichts konfrontieren und die Verzahnung von Methodik, Didaktik und Praxis lernen.“ Und Schmidt fügt auf Nachfragen hinzu: „Vor diesem Hintergrund stellt sich natürlich die Frage: Muss eine Examensarbeit in diesem Umfang eigentlich sein?“ Ein ähnliches Bild zeichnet Rolf Habekost*, der Referendare in Nordrhein-Westfalen ausbildet: „Nach einem halben Jahr müssen Referendare 9 Stunden eigenständigen Unterricht pro Woche erteilen, mit je 2-3 Stunden Vorbereitungszeit.“ Dabei liege das Problem eher an der ausbildenden Schule als am Studienseminar: „Im schlimmsten Fall hilft den Referendaren dort niemand.“
Als verantwortlicher Ausbilder ist Habekost oft in der Zwickmühle, Referendare zu Kollegen zu schicken, die sich keine Zeit für deren Ausbildung nehmen. Habekost schlägt den Bogen zur bildungspolitischen Gesamtsituation: „Es gibt insgesamt eine Leistungsverdichtung im System Schule. Die betreuenden Lehrer stecken selbst in diesem System; genauso wie die Referendare, die durch den eigenständigen Unterricht finanzielle Defizite ausgleichen müssen.“
„Das Referendariat ist keine Meisterlehre“
Doch klagen (ehemalige) Lehramtsaspiranten nicht nur über die hohe Arbeitsbelastung. Von ihren Ausbildern und Prüfern erwarten sie auch klar formulierte Anforderungen und eindeutiges Feedback: „Das war alles ganz schön schwammig“, erzählt Sonja* (32) von den Nachbesprechungen ihrer Probestunden und ergänzt: „Den Mitgliedern der Prüfungskommission kam es scheinbar vor allem darauf an, ihre Redezeit zu füllen.“
Zumindest als Vorwurf möchte Andreas Janocha, Leiter des Studienseminars in Salzgitter-Lebenstedt, diesen Eindruck nicht stehen lassen: „Der Lehrerberuf ist an Komplexität kaum zu überbieten“, erläutert er, das Referendariat sei „keine Meisterlehre, sondern ein Qualifizierungsprozess, der das ganze Berufsleben lang dauern wird.“ Dabei versuchen auch die Bundesländer mit neuen, an „personalen Kompetenzen“ orientierten Ausbildungsverordnungen, „die Schwierigkeiten der Referendare vorauszusehen“, erläutert Janocha. Ob er dies den angehenden Lehrerinnen und Lehrern auch so erläutere? „Ganz klar: ja.“
Dennoch scheint die Botschaft nicht überall deutlich verstanden zu werden. So berichtet Johannes: „Es wurde mir ja immer gesagt, ich sei ein Wackelkandidat. Nur auf meinen Wunsch, mir ein paar klare, umsetzbare Verbesserungsvorschläge zu machen, gingen die Ausbilder nicht ein.“ Dieter Schmidt, der pensionierte Ausbilder, kann diese Feststellung vor dem Hintergrund seiner langjährigen Erfahrung nicht nachvollziehen: „Die Lehrproben werden sehr differenziert besprochen“, berichtet er, „dabei machen wir Verbesserungsvorschläge und versuchen, das Positive zu stärken.“ Catja Croneberg, stellvertretende Leiterin des Studienseminars Salzgitter, ergänzt: „Wir beraten auf vielen Ebenen: Wie geht jemand auf die Schüler ein? Wie bereitet derjenige den Stoff auf? Wie verhält sie oder er sich in der Lehrerrolle? Dabei kann die Beurteilung der einzelnen Bereiche sehr unterschiedlich ausfallen.“ Zusätzliche Verwirrung entstünde allerdings, wenn sich die Referendare über das Feedback austauschten: „Dabei geht manchmal unter, dass die Kritik sich auf den jeweils eigenen Entwicklungsprozess bezieht und nicht bedeutet, dass man im Vergleich zu anderen ‚schlecht’ ist“, so Croneberg.
Eine Leistungsbeurteilung, die so weitgehend individualisiert ist, kann den Eindruck mangelnder Vergleichbarkeit oder sogar Ungerechtigkeit erwecken. So empört sich Sonja: „Bei der Methodik zum Beispiel geht es darum, zu begründen, weshalb man einen bestimmten Stoff auf eine bestimmte Weise ‚rüberbringt’. Aber: ‚richtig’ bedeutet in diesem Zusammenhang nur, dass man zufällig den gleichen Gedanken hatte, wie der Prüfer!“ Dass die Leistungserwartungen an angehende Lehrer aus der Luft gegriffen seien, weist Ausbilder Rolf Habekost zurück: „Die Zielsetzungen der Ausbildung sind an Praxis und Alltag des Lehrerberufs orientiert“. „Allerdings“, so räumt er ein, „gibt es natürlich eine Referendarssicht und eine Prüfersicht, die subjektiv sind.“ Und was ist mit dem Eindruck gerade der schwächeren Lehramtskandidaten einfach „abgestempelt“ zu werden, weil sie nicht einem bestimmten Typ entsprechen? „Was wir vermitteln, hängt eng mit der Persönlichkeit zusammen.“
Genau deshalb gehe es auch „leicht an die Substanz“, meint Catja Croneberg, die stellvertrende Seminarleiterin. Sie betont aber zugleich: „Wer sich offen auf die Ausbildung einlässt, kann für sich ganz viel mitnehmen. Nur ist das nicht immer leicht, da man sehr viel an sich selbst arbeiten muss.“
Und selbst wenn sich eine fehlende Eignung tatsächlich abzeichnet, versuche er damit „positiv umzugehen“, erläutert ihr Kollege Andreas Janocha den gewissermaßen schlimmsten Fall, „entweder durch gezielte zusätzliche Förderung oder durch Gespräche über berufliche Alternativen“, die beide zu seinen Aufgaben als Seminarleiter gehören. „Ich sage niemanden: Sie haben hier nichts zu suchen.“
Fallstricke des Systems
Doch selbst wenn Sonja und Johannes an weniger vorbildliche Ausbilder geraten sein sollten, bleiben die Lücken und Fallstricke des Systems: Wie ist beispielsweise zu erklären, dass angehende Lehrerinnen und Lehrer in Niedersachsen anderthalb Jahre lang keine Noten erhalten und so über ihren Leistungsstand im Unklaren bleiben? „Man kann auch verbal ausdrücken, was man von der Leistung von jemandem hält“, bemerkt der ehemalige Ausbilder Dieter Schmidt, um dann etwas weniger bestimmt hinzuzufügen: „Engagierte Pädagogen setzen schließlich viel Hoffnung in den Menschen. Wir haben auch selbst Entwicklungen durchgemacht, sind dabei durch Täler und Höhen gegangen.“ Pragmatischer formuliert es Seminarleiter Andreas Janocha: „Nach welchem Maßstab soll ich denn benoten?“ Schließlich könne eine „Zwei“ nach drei Monaten keine „Zwei“ nach Examensmaßstäben sein. Vielmehr gehe es darum, „Schwerpunkte zu setzen“ für die weitere Entwicklung der Referendarin oder des Referendars.
Das Bewertungssystem scheint unterdessen diesem Streben nach Kontinuität nicht zu entsprechen. So hat Johannes bei seinen Referendarskollegen ein Muster beobachtet: „Der eine hatte Vornoten im guten Zweier-Bereich. Doch als ich seinen normalen Unterricht besucht habe, gab es nichts als einen Lehrervortrag und ein ziemliches Tohuwabohu.“ Alle Anstrengung fließt in einige wenige Unterrichtsstunden, die vermeintlich über Top oder Flop entscheiden, während die Lehrer in spe den Rest der Zeit im unteren Mittelmaß „abreißen“. Das eigentliche Problem hier liegt laut Ausbilder Rolf Habekost allerdings weniger im Prüfungsunterricht, der „neben der Beurteilung durch die Seminarleiter und den Schulleiter nur 30 Prozent der Examensnote ausmacht.“ Viel schwerer wiege, dass die Referendare überhaupt so früh eigenverantwortlich unterrichten müssen, gepaart mit Zeitmangel bei den betreuenden Lehrern. Dieser Zeitmangel, so die einhellige Meinung, „schadet den Referendaren mit mittlerem Leistungsniveau am meisten. Denen, die durch eine solide Ausbildung die Chance hätten, anständige Lehrerinnen und Lehrer zu werden.“
Es ist also offenbar eine brisante Mischung aus Missverständnissen und fehlendem Problembewusstsein an oberster Stelle, die Deutschlands angehenden Lehrern zum Verhängnis wird. Dabei machen die Ausbilder und Seminarleiter nach eigenem Bekunden noch am ehesten Konzessionen. So wird am Studienseminar Salzgitter nach 15 Monaten eine Vornote in Zahlenform vergeben. Auch Evaluation ist an der Basis kein Fremdwort mehr: „Wir befragen unsere Referendarinnen und Referendare nach jedem Durchgang“, berichtet Rolf Habekost aus seinem Studienseminar, „so erhalten wir eine Rückmeldung über die Ausbildung als Ganze und merken, was wir an unserer eigenen Arbeit verbessern können.“ An den schwierigen äußeren Rahmenbedingen ändert das allerdings nichts: Johannes, wird ärgerlich, wenn er daran denkt, dass er im letzten Ausbildungshalbjahr an seiner Examens-Hausarbeit gescheitert ist.
Und neben dem alten Ungemach droht bereits neues: Mit der – an sich begrüßenswerten – Begründung, das Studium praxisnäher zu gestalten, werden künftig Praktikanten bereits nach kurzer Studienzeit in die Schulen geschickt; gleichzeitig wird das Referendariat in fast allen Bundesländern von zwei auf anderthalb Jahre verkürzt. „Diese Praxisphase kommt so viel zu früh“, kommentiert Rolf Habekost. „Woher sollen Studierende nach wenigen Semestern die Kompetenzen zum Unterrichten haben?“ Sowohl die Betreuung als auch der rechtliche Status der neuen Praktikantengeneration seien zudem noch völlig ungeklärt. Gleichzeitig gebe es immer weniger engagierte Pädagogen, die Ausbilder werden, eine Position „mit viel zusätzlichem Aufwand und ohne finanzielle Anreize.“ Dabei sind sie diejenigen, die der Lehrerausbildung aufgrund ihrer Vertrautheit mit dem Schulalltag die richtige Richtung weisen könnten.
* Name von der Redaktion geändert.
Zur Person
Christiane Zehrer ist Redakteurin dieses Magazins.