Leiden Ratten an Schizophrenie?

Wenn ein Biologe erzählt, dass er Krebs bei Mäusen oder Ratten erforscht, zieht niemand die Augenbrauen hoch. Biopsychologen, die sich der Nagetiere für die Erforschung psychischer Erkrankungen bedienen, müssen hingegen ihre Experimente an Tieren oft rechtfertigen. Leiden etwa auch Ratten an Schizophrenie, Depression oder Zwangsstörungen?

Die schon seit einigen Jahrzehnten verbreitete Anwendung verschiedener Tiermodelle in der psychologischen Forschung ist grundsätzlich dem Werk Charles Darwins zu verdanken. Mit seiner revolutionären Lehre über die gemeinsame Abstammung aller Lebewesen ist die Erforschung einer Art für die Erforschung jeder anderen relevant geworden. Vor Darwin unterschied die Wissenschaft klar zwischen Mensch und Tier: von Aristoteles’ Gruppeneinteilung aller lebenden Organismen in drei hierarchisch angeordnete Kategorien Pflanze, Tier und Mensch über Descartes’ Gleichsetzung der Tiere mit Maschinen, die ihr Verhalten auf einfache Reflexe reduzierte. Darwins Behauptung, dass Tiere und Menschen nicht nur homologe physische Strukturen, sondern auch analoges Verhalten aufweisen, war die treibende Kraft hinter der Entwicklung der vergleichenden Psychologie.

Homolog und Analog
Strukturen, die sich aufgrund ihrer evolutionären Abstammung entsprechen, zum Beispiel die Handknochen von Mensch, Schwein oder Pferd, werden homolog genannt. Ähnliche Strukturen, die sich unabhängig voneinander entwickelt haben, aber die gleichen Aufgaben erfüllen, werden als analog bezeichnet.

Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert haben Experimente mit Tieren Einzug in Psychologie und Biologie erlebt, da man zunehmend die gemeinsamen neurobiologischen Grundmechanismen erkannte. Inzwischen sind neue medizinische Entwicklungen, insbesondere in der Pharmazie und Gentherapie, die auf Experimenten mit Tieren basieren, Legion.

Im Fall der psychopathologischen Forschung ist die Nutzung von Tieren als Versuchsobjekte jedoch nach wie vor alles andere als selbstverständlich. Zwar kann man sich vorstellen, dass Infektionskrankheiten oder Krebs auch bei Tieren auftreten. Das Testen neuer Antibiotika oder Chemotherapien an ihnen ist gängige Praxis. Vollkommen anderes stellt sich die Situation bei der Erforschung psychischer Störungen (von Laien oft fälschlicherweise „Geisteskrankheiten“ genannt) dar, bei denen die Diagnostik primär auf sprachlichen Selbstaussagen und Ausdrucksformen von Patienten basiert, was mit Tieren natürlich nicht zu machen ist. Grundsätzlich stellt sich für den Forscher selbstverständlich die Frage: Haben Tiere denn eine Seele? Und kann man bei Tieren von „psychischen Störungen“ sprechen? Ist dieser Begriff für die psychopathologische Forschung überhaupt relevant?

Weltliche Existenz

Für die meisten Naturwissenschaftler ist die seelische Existenz nur ein Ausdruck körperlicher Vorgänge und das Gehirn das ihr entsprechende Organ. So richtet sich die Erforschung psychischer Störungen auf das Nervensystem und seinen „Output“ – das Verhalten –, das sich bei Tier und Mensch in vielem ähnelt. So braucht sich eine Biopsychologin, die sich bei der Erforschung von Schizophrenie eines Rattenmodells bedient, überhaupt keine Gedanken zu machen, ob ihr Versuchstier tatsächlich an dieser Krankheit leidet. Sie betrachtet die Ratte lediglich als ein Modell, das bloß ein oder mehrere Symptome dieser Störung zeigt, aber nicht unbedingt alle.

Ein Tiermodell spiegelt eine psychische Störung ähnlich wider wie ein Baumodell ein Haus; man darf von einem solchen Modell eine maßstabsgetreue Darstellung erwarten, aber natürlich nicht das gleiche Ausmaß oder die gleiche Festigkeit des fertigen Hauses. So wird etwa bei einem bestimmten Tiermodell für Schizophrenie (Latent Inhibition) nur das Aufmerksamkeitsdefizit der Krankheit erfasst: den Ratten gelingt es in diesem Fall nicht, irrelevante Nebengeräusche zu ignorieren, wie es auch bei Schizophreniepatienten der Fall ist. Dass andere Symptome der Krankheit, wie Halluzinationen und Wahnvorstellungen, nicht bei Tieren auslösbar sind, mindert die Gültigkeit solcher Modelle (auch für das Testen neuer Wirkstoffe) nicht.

Die Entstehung eines Modells

Grundsätzlich gibt es vier verschiedene Wege, ein Tiermodell für die Psychopathologie entwickeln. Im Bereich der Genetik kann etwa eine gezüchtete Rattenlinie (Flinders Sensitive Line) als Modell für Depression dienen. Die Ratten weisen Freud- und Lustlosigkeit (Anhedonie) auf und ziehen anders als gesunde Ratten nicht Süßwaren vor, wenn man sie vor die Wahl zwischen normaler oder gesüßter Nahrung stellt.
Auch die Pharmakologie kann hier einen Beitrag leisten. Das in der Drogenszene als ‚Angel Dust’ bekannte Phencyclidin (PCP) zum Beispiel hat psychoseauslösende Wirkungen und verstärkt bei schizophrenen Patienten psychotische Symptome. Auch bei Ratten verursacht es zahlreiche Störungen, wie den Mangel an sozialer Interaktion. Auch hieraus lässt sich also ein Modell für Schizophrenie entwickeln.

Eine seltenere Methode besteht in der Verletzung einer Gehirnstruktur (Läsion), zum Beispiel des Hippocampus. Dieser ist ein wichtiger Teil des Gehirns, da er eine zentrale Rolle für das Gedächtnis spielt. Wenn er bei neugeborenen Ratten verletzt wird, treten Verhaltensabweichungen wie die Überempfindlichkeit gegenüber Reizen und Gedächtnisdefizite beim Erwachsensein auf – ein weiteres Modell für Schizophrenie.
Nicht zuletzt greift man immer wieder auf Verhaltensmodelle zurück. In seltenen Fällen kommen schon in der Natur abweichende Verhaltensweisen vor, wie etwa das bei einer begrenzten Anzahl von Mäusen zu beobachtende übermäßige ‚Frisieren’. Dieses Phänomen hat viel gemeinsam mit der komplexen Impulsstörung Trichotillomanie, bei der die Betroffenen sich ihre eigenen Haare ausreißen. Genauso wie die Menschen reißen auch die Mäuse ihre Haare im Bereich der Augen und der Genitalien aus, wobei diese Störung sehr viel häufiger bei Weibchen als bei Männchen auftritt. Obwohl dieses Modell Antworten auf einige medizinische Fragen verspricht, muss es seine Gültigkeit erst noch erweisen, etwa durch den Beweis der Wirkung neuer Arzneinmittel bei den Tieren.

Der Ratten vergebliche Arbeit

Was ist eine Zwangsstörung?
Zwangsstörungen sind psychische Störungen, bei denen sich den Patienten Gedanken und Handlungen aufdrängen, die zwar oft als quälend empfunden werden, aber dennoch umgesetzt werden müssen. Wesentliche Merkmale sind rezidivierende, also immer wiederkehrende Gedanken (z.B. wahnhafte Abneigung vor Schmutz, Angst vor Verseuchung, Agressionen) und/oder kompulsive, also zwanghafte Handlungen (z.B. Reinlichkeitszwang, Ordnungszwang), die langwierig sind (mehr als eine Stunde pro Tag).

Eine elegante Art der künstlichen Modellierung von Zwangsstörungen ist das sogenannte Signalabschwächungsmodell (signal attenuation model). Hier lernen Ratten einen Druckhebel zu betätigen, um mit Futter belohnt zu werden. Jede korrekte Betätigung des Hebels ist von einem Signal begleitet (Ton oder Licht). Jeder, der einmal durch Knopfdruck einen Fahrstuhl bestellt hat, kennt das folgende Phänomen: Ein Lichtsignal kündigt den gelungenen Betrieb an; erscheint kein Licht, drücken viele Menschen überflüssigerweise weiter, obwohl dies nichts ändert. Bei Ratten lässt sich dasselbe Phänomen beobachten: Auch wenn sie durch das Druckhebeln schon längst kein Futter erhalten, drücken sie weiter übermäßig den Hebel. Mithin erfüllt das Modell zwei wesentliche Kriterien der Definition von Zwangsimpulsen: das überflüssige und das unangemessene Verhalten.
Dass die Behandlung mit Antidepressiva (Paroxetine und Fluvoxamine) bei Ratten wie bei Menschen einen gleichermaßen „anti-zwanghaften“ Effekt hat, wertet die Gültigkeit des Modells zusätzlich auf; so kann man die Wirkung neuer Arzneinmittel testen. Dass bei Ratten dabei nur zwanghafte Handlungen erzeugt werden können, und keine zwanghaften Gedanken (Obsessionen), tut dem keinen Abbruch.

Wie in unserem Fall die Schizophrenie an Ratten werden weltweit psychische Erkrankungen an Labortieren erforscht. Fast jede Störung von Alkoholismus über Drogenmissbrauch bis hin zu posttraumatischen Belastungsstörungen lässt sich an unterschiedlichenTiermodellen untersuchen. Der Beitrag der Tiere zu unserem Verständnis der neuronalen Basis der Psychopathologie ist immens. Ganz gleich, ob Ratten eine Seele haben oder nicht.

Beitrag von Ravit Hadar
Bildquellen in Reihenfolge: E. Figueras; Joiporrier, beide CC (share alike)

Zur Person

Ravit Hadar ist Psychologin und promoviert am Institut für Neurobiologie an der Freien Universität Berlin.

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