Erfolgsgeschichten neu gelesen
"Sage mir deinen Geburtstag und ich erkläre dir, in welcher Sportart du erfolgreich werden kannst!" Was sich anhört wie eine Verheißung aus einem billigen astrologischen Ratgeber, ist auf den zweiten Blick gesellschaftlich überaus relevant: "Wer hat, dem wird gegeben." Denn vom Sportverein bis zur Schule werden Kinder jahresweise in "Altersklassen" eingeteilt. So haben die zu Beginn eines Abschnitts Geborenen einen Entwicklungsvorsprung von bis zu einem knappen Jahr und sie erhalten so eher einen Platz in speziellen Förderprogrammen - und damit die Gelegenheit, sich eine zweite Voraussetzung des Erfolges zu sichern: mehr Übung als die nicht Geförderten.
So banal die Erkenntnis "Übung macht den Meister" auch sein mag, Gladwell gebührt die Ehre, den in uns tief verwurzelten Glauben an Wunderkinder und Genies als Mythos zu entlarven. Dabei stützt er sich einerseits auf die Analyse von Daten unter neuen Gesichtspunkten - wie beim Zusammenhang zwischen Geburtstag und Leistung. Andererseits analysiert er die Werdegänge zahlreicher sehr erfolgreicher Menschen, um zu zeigen, dass weder Begabung noch Fleiß allein jemanden zum Überflieger machen: So hatten etwa Bill Gates, Steve Jobs und Steve Ballmer das Glück, 1955 geboren zu werden – und waren somit in den Pionierstunden des IT-Zeitalters Anfang der 1970er-Jahre gerade in einem Lebensabschnitt, in dem ihre in jugendlichem Eifer gesammelte Computererfahrung schnell den ganz großen Erfolg ermöglichen konnte.
Die einzelnen Kapitel des Buches, in die Gladwell lange Zeit der akribischen Analyse von Daten und der Recherche historischer Zusammenhänge gesteckt haben muss, lesen sich wie eine anekdotische Aufbereitung der Wirtschafts- und Sozialgeschichte der letzten 200 Jahre.
Die verschiedenen Etappen dieser Zeitreise sind zum Beispiel das China der vorchristlichen Jahrtausende, die zweite Besiedlungswelle der Vereinigten Staaten Anfang des 19. Jahrhunderts oder die Armutsviertel der Bronx in heutiger Zeit. Dabei erzeugt Gladwell immer wieder Aha-Efekte, wenn die von ihm aufgedeckten Prinzipien des Erfolges in räumlich und zeitlich weit auseinander liegenden Kontexten immer wieder zum Vorschein kommen: Dies sind Fleiß, sublimiert in 10.000 Stunden Übung, die Notwendigkeit "good enough" (aber eben nicht unbedingt "genial") zu sein und "Glück" im Sinne der Gunst des Augenblicks. Sie zeigen sich sowohl bei den Nachkommen asiatischer Reisbauern, deren durch den Nassfeldbau gewachsener Fleiß ihre Nachkommen die in den Schulsystemen westlicher Einwanderungsländer sehr schnell zu den Besten zählen lässt, als auch bei einem Kind aus dem New Yorker Ghetto, das in einer neuen Schule, die realistische Chancen auf ein Studium bietet, zur guten Schülerin wird. Beide Male sind es kulturelle Prägungen und Kontextbedingungen, die zum Erfolg führen.
Zu Hochform läuft Gladwell allerdings auf, wenn er mit seiner Einsichtsfähigkeit und leichten Feder in die Rolle des Kulturanthropologen schlüpft. Dabei zeigt er zum Beispiel den Zusammenhang zwischen der hohen Unfallquote asiatischer und südamerikanischer Airlines und einer indirekten sprachlichen Ausdrucksweise sowie (über-)großem Respekt vor Vorgesetzten auf. Beide Faktoren sind kulturell bedingt, das Individuum kann also nicht "einfach" anders handeln. Die gute Nachricht lautet aber, dass Sensibilisierung – Bewusstmachung der Fehler und das Antrainieren anderer Verhaltensformen – möglich ist. Die Unfallquoten sanken, auch hier dank einer Maßnahme, die den Kontext mindestens genau so wichtig nimmt wie das Individuum.
Die gute Nachricht von "Überflieger" lautet, dass die Erfolglosen nicht mit einer Art Geburtsfehler auf die Welt gekommen sind, der sie zu Versagern macht. Vielmehr eröffnet zum Beispiel eine flexiblere Einteilung des Nachwuchses in Altersklassen die Chance, dass mehr Kinder eine wirklich "altersgerechte" Förderung erhalten - und die Gesellschaft ihr Potenzial besser ausschöpft. Die neutrale Nachricht lautet wohl "ohne Fleiß kein Preis" und die schlechte, dass auch Gladwell nicht in der Lage ist, eine wichtige Unterscheidung zu treffen, nämlich diejenige zwischen "Erfolg" und "Lebenszufriedenheit" oder zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und persönlichen Wünschen. Oder wie sonst kann man seine Lobeshymnen für ein System erklären, das 11-Jährigen nur 5 Stunden Schlaf pro Wochentag ermöglicht und zum Abbruch der sozialen Kontakte in Wohnumfeld bringt?
"Überflieger" ist dennoch ein äußerst lesenswertes Buch, das mit einem erhellenden Perspektivwechsel auf den gesellschaftlichen Leistungsmythos ebenso erfreut wie mit seinem leichten, typisch angelsächsischen Infotainment-Stil.
Zur Person
Beitrag von Christiane Zehrer. Sie ist Redakteurin dieses Magazins
Literatur
- Malcolm Gladwell (2008): Überflieger. Frankfurt/M. 19,90 Euro.
