Explosive Bildungslandschaft

Eine Schülerin der Computerklassen 25 Schulen in den afghanischen Ostprovinzen hat die Kinderhilfe Afghanistan seit 1998 aufgebaut; 1.400 Lehrerinnen und Lehrer unterrichten 50.000 Kinder. Doch die prekäre Sicherheitslage macht den Betrieb und Neubau von Schulen immer schwieriger. „Wenn die Amerikaner so weitermachen wie bisher, haben wir bald eine Schulsituation wie zu Zeiten der Taliban.“ prognostiziert Reinhard Erös.

„Schule ist in Afghanistan ein relativer Begriff,“ warnt Reinhard Erös, Begründer der Kinderhilfe Afghanistan . „In manchen Dörfern findet Schule im Schatten eines ausladenden Baumes statt, anderswo versammeln sich die Kinder in einem Zelt, ein Steingebäude ist nicht die Regel. Die Lehrer sind oft schlecht qualifiziert – manche können selbst kaum lesen und schreiben.“ Die Kinderhilfe Afghanistan hat sich zum Ziel gesetzt, diesen Zustand zu ändern: Unermüdlich sammelt die Familie Erös Spendengelder, um in Ostafghanistan Schulen zu bauen. In den achtziger Jahren behandelte der Arzt Erös unter Lebensgefahr Menschen, die in den von den Sowjets unbesetzten Regionen Afghanistans lebten. Seitdem hat Afghanistan die Familie Erös nicht mehr losgelassen.

Annette und Reinhard Erös
Annette und Reinhard Erös mit Kindern der Sir Peter Ustinov-Friedensschule Paghman

500 Anfragen nach einer Schule erreichen die Kinderhilfe Afghanistan jährlich aus jeder Region, die Mittel reichen jedoch nur, um drei Schulen zu finanzieren. Afghanische Mitarbeiter der Kinderhilfe wählen aus allen Anfragen die geeignetsten Orte aus. Da sich meist fünf bis sechs Dörfer zusammenschließen, um gemeinsam eine Schule zu bauen, sollte das Schulgebäude aus allen Dörfern gleich gut erreichbar sein. Für afghanische Verhältnisse bedeutet dies, dass keine Kind länger als zwei Stunden in die Schule laufen muss. Im Vorfeld muss abgeklärt werden, ob der Bezirksgouverneur, aber auch die örtlichen Vertreter der Taliban den Schulbau absegnen. Ebensowenig kommen Orte in Frage, die häufig von den amerikanischen Streitkräften auf Terroristenjagd bombardiert werden. Anderenfalls wäre das Sicherheitsrisiko für Schüler und Lehrer zu hoch. Und auch Mutter Natur fordert Respekt: weil der Osten Afghanistans immer wieder von Erdbeben heimgesucht wird, sollte sich das Schulhaus an einem erschütterungsarmen Ort ohne Steinschlaggefahr befinden.

Schulgebäude
Schulgebäude

Steht der Bauplan, packen alle Dorfbewohner mit an. „Unsere Devise ist Hilfe zur Selbsthilfe,“ erläutert Reinhard Erös. „Die Männer aus den Schuldörfern arbeiten gegen Lohn am Bau, während die Frauen in dieser Zeit die Feldarbeit allein erledigen. So erhöht sich das Familieneinkommen. Auch die Schulbänke und andere Ausstattung bestellen wir bei ortsansässigen Handwerkern. Das kurbelt die örtliche Wirtschaft an und alle Dorfbewohner identifizieren sich mit ihrer Schule.“ Um die Schulgebäude möglichst erdbebensicher zu machen, greifen die einheimischen Bauleiter auf die traditionelle afghanische Steinbauweise zurück, die allerdings durch moderne Stahlträger verstärkt wird. Eine Dorfschule für 1000 Schüler kostet an die 50.000 Euro, für eine Oberschule mit 4.000 Schülern, wie sie die Kinderhilfe Afghanistan in den Provinzhauptstädten baut, muss man an die 200.000 Euro veranschlagen. Da verwundert es nicht, dass Erös die Afghanistan-Strategie der Bundesregierung wegen ineffizienter Geldverwendung kritisiert: Auf Anfrage teilte das Bundesentwicklungsministerium mit, dass seit 2005 insgesamt 15 Millionen Euro in ein Programm zum Bau von Schulen und Lehrerausbildungsstätten investiert wurde. 2008 wurden im Rahmen dieses Programms im Norden Afghanistans gerade einmal 15 Schulen fertig gestellt.

Auf dem Pausenhof
Auf dem Pausenhof

Auch nachdem die Gebäude errichtet sind, kümmert sich Familie Erös weiter um ‚ihre’ Schulen. Alle Schüler bekommen Bücher, Hefte und Stifte gestellt und besonders bedürftige Kinder erhalten eine Schulspeisung. Die Lehrer und Lehrerinnen freuen sich über einen Aufschlag auf das staatliche Gehalt, der das Auskommen ihrer Familien sichert. Einzigartig ist das Konzept „Erziehung zum Frieden“, das sich wie ein roter Faden durch alle Unterrichtsfächer zieht. Historisch ist Afghanistan, so Reinhard Erös, durch einen moderaten Islam geprägt, und seine größten Blütezeiten erlebte das Land in Perioden des Friedens. Indem die heutigen Schüler immer wieder auf diese Zusammenhänge hingewiesen werden und die beiden Landessprachen Paschtu und Farsi erlernen, soll ein Grundstein für ein friedliches Afghanistan gelegt werden. Eine Investition in die Zukunft sind auch die Computerklassen, die in neun Ausbildungszentren zur Verfügung stehen.

Dennoch blickt Reinhard Erös sorgenvoll nach vorne. „In Afghanistan sind 50 Prozent der Bevölkerung jünger als 14 Jahre. Der Bedarf an Schulen ist schon heute bei weitem nicht gedeckt, wird aber dramatisch anwachsen. Deshalb werden wir in fünf bis sechs Jahren mit der Situation konfrontiert sein, dass nur noch 5 Prozent der Mädchen und 20 Prozent der Jungen eine Schule besuchen.“ Heute erhalten nach Erös’ Schätzung 30 Prozent der Mädchen eine Schulbildung; eine verlässliche Statistik zum Schulbesuch gibt es nicht. Ein Übriges tun die Bombardierungen der amerikanischen Streitkräfte, derentwegen sich die Eltern in manchen Gebieten nicht trauen, ihre Kinder auf den oftmals weiten Schulweg zu schicken. Dennoch baut die Kinderhilfe Afghanistan weiter Schulen, denn eines ist sicher: Bildung wird Afghanistan brauchen.

Beitrag von Sandra Birzer
Bildquellen in Reihenfolge: Kinderhilfe Afghanistan

Links zum Thema

  • Homepage der Kinderhilfe Afghanistan

Zur Person

Sandra Birzer ist Redakteur von sciencegarden .

Literatur

  • Reinhard Erös (2006): Tee mit dem Teufel. Als deutscher Militärarzt in Afghanistan. Hamburg.
  • Reinahrd Erös (2008): Unter Taliban, Warlords und Drogenbaronen. Eine deutsche Familie kämpft für Afghanistan. Hamburg.

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Themen: Afghanistan | Schule
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