Kein Fingerabdruck: Ein Fall für die Forschung?
Haben Sie sich schon mal überlegt, welche biologische Funktion Ihre Fingerrillen erfüllen? Die Natur muss sich ja irgendetwas dabei gedacht haben. Wenn Sie Ihre Finger mal langsam über einen glatten Tisch gleiten lassen, dann bemerken Sie bestimmt eine geringe Reibung. Fingerrillen sind für die Verrichtung ganz alltäglicher Dinge viel wichtiger als man vielleicht denkt. Ohne sie sollten Sie etwa das Kartenmischen lieber anderen überlassen: Die Rillenmuster auf den Fingerkuppen dienen nämlich zum einen als Halt an Oberflächen, aber nach neuesten Forschungen auch zum Ertasten feinster Strukturen, die nicht dicker sind als ein Haar.
Dass jeder Mensch ganz individuelle Fingerlinien besitzt macht sich die Kriminalistik bekanntermaßen schon lange zu Nutzen. Im späten 19. Jahrhundert nutzte ein britischer Kolonialbeamter in Indien als erster den Abdruck der Fingerlinien: Mit ihrer Hilfe sollte unter anderem der Betrug bei Rentenauszahlungen ehemaliger indischer Soldaten unterbunden werden, denn „mit europäischen Augen glichen sich diese Soldaten alle“ heißt es in Jürgen Thorwalds Klassiker der Kriminalistik „Das Jahrhundert der Detektive“.
Der Fingerabdruck – die sichere Identifikation
Schließlich ist jeder Fingerabdruck tatsächlich einzigartig: Selbst eineiige Zwillinge können anhand ihrer Kurven und Schleifen unterschieden werden. Seit den ersten Experimenten in den Kolonien fand daher die Identifikation anhand von Fingerabdrücken in der ganzen Welt Verbreitung. Im Zuge des Sicherheits- und Überwachungswahns der jüngeren Zeit ist es zu einem sprunghaft gestiegenen Einsatz von Geräten gekommen, die Menschen anhand ihrer „biometrischen“ Merkmale – wie eben auch Fingerabdrücke – identifizieren. So verhelfen die Rillen den einen zum Fahndungserfolg und bringen den anderen hinter Gitter. Auch die Einreise in die USA wird einem heutzutage nicht erleichtert: Jeder Einreisende muss sich gleich alle zehn Finger einscannen lassen. Jetzt stellen Sie sich aber vor, sie stehen nach stundenlangem Anstehen endlich vor einem Fingerabdruck-Scanner und müssen wiederholt ihre Finger einscannen, weil der Sensor ständig eine Fehlermeldung ausspuckt: Kein Fingerabdruck! Ein defekter Sensor? Vielleicht gehören Sie aber auch zu den wenigen Menschen, die an Dermatopathia pigmentosa reticularis leidet.
Dermatopathia pigmentosa reticularis
Dieser komplizierte Begriff klingt nicht wie Musik in den Ohren. Hört man ihn zum ersten Mal, so würde der eine oder andere sofort fragen: „Ist das gefährlich, infektiös, tödlich?“ Tatsächlich handelt es sich bei Dermatopathia pigmentosa reticularis (DPR) um eine sehr selten auftretende, genetisch bedingte Krankheit, von der bisher weniger als 40 Menschen auf der ganzen Welt betroffen sind. So unmelodisch der Begriff auch klingt, die Krankheit ist nicht infektiös und führt auch nicht zum Tod. Unangenehm ist sie aber trotzdem. „Dermatopathia“ bedeutet nichts anderes als eine Erkrankung der Haut (Derma); „pigmentosa reticularis“ ist eine Bezeichnung für eine netzartige Struktur der Hautpigmentierung.
Menschen ohne Fingerabdrücke? Diese Frage gab den Wissenschaftlern jahrelang Rätsel auf, bis eine Doktorandin aus dem Technion Institute of Technology in Israel im September 2006 den Übeltäter entlarvte, der Menschen seine Fingerabdrücke raubt: ein defektes Keratin-14-Gen.
Mutation von Genen
Jede menschliche Körperzelle verfügt über genetische Informationen in Form von DNA. Nicht umsonst heisst es, dass unser Leben an DNA-Fäden hängt. Ein Gen wiederum ist ein winziger Bestandteil der DNA, das die Information dafür trägt, wie ein bestimmtes Molekül, meistens ein Eiweiß (Protein), hergestellt wird. Das Gen kann man sich als ein Wort vorstellen, dessen Alphabet jedoch nicht aus 26, sondern nur aus vier Buchstaben, den Basen A, T, G und C, besteht. Jedes Gen weist eine bestimmte Basenreihenfolge auf. Auf identischen Abschnitten eines Chromosomenpaares liegen die gleichen Gene. Durch geringfügige Änderungen in der Basenreihenfolge (Mutation) dieser Gene entstehen Allele, die zu verschiedenen Genausprägungen führen. Zum Beispiel kann das „Augenfarbe-Gen“ zwei Allele besitzen: „blaue Augen“ und „braune Augen“. Die Zelle entscheidet nun, welches von beiden Allelen verwendet (dominant) oder „unterdrückt“ (rezessiv) wird. Eine Mutation kann aber auch verheerende Folgen haben. Wie im Fall der Dermatopathia pigmentosa reticularis.
Das Keratin-14-Gen, das für die fehlenden Fingerrillen verantwortlich ist, ist normalerweise für die Bildung eines Proteins, Keratin-14, zuständig. Durch einen einzelnen Basenaustausch an einer bestimmten Stelle des Gens verliert die Zellmaschinerie die Fähigkeit, normales Keratin-14 zu bilden. Dabei reicht ein verändertes Gen auf einem der beiden Chromosomen aus, um an DPR zu erkranken. Stellen Sie sich das Keratin-14-Gen als Wort vor: Ersetzt man zum Beispiel das A in „Keratin“ durch S, so entsteht „Kerstin“. Und Kerstin kann noch lange nicht was Keratin kann.
Symptome der DPR Erkrankung
A: netzartige Hautpigmentierung (pigmentosa reticularis)
B: Verdickung der Fußsohle (Plantar keratoderma)
C: Fehlwuchs der Nägel (Nageldystrophie)
D: Fehlen des Fingerabdrucks (rechts) verglichen mit normalem Fingerabdruck (links)
Copyright 2006 The American Society of Human Genetics Published by Elsevier Inc.
Am J Hum Genet. 2006 October; 79(4): 724?730.
First Author: Jennie Lugassy. Mit freundlicher Genehmigung der Urheber
Was ist überhaupt Keratin?
„Ein Frauenhaar zieht stärker als ein Glockenseil“ sagt ein Sprichwort. Und tatsächlich sind Haare extrem reißfest. Man denke nur an die Artisten, die sich an ihrem Haarschopf fünf Meter in die Höhe ziehen lassen. Dafür sorgt ein Eiweiß namens Keratin, einem hornähnlichen Molekül, welches auch zu 90% in Nägeln und Haut vorkommt. Je nach Struktur und Bildungsort unterscheidet man 20 Keratin-Arten. Keratin-14 ist eine davon, übt seine Funktion aber nur in Anwesenheit von Keratin-5 aus. Beide Keratine werden in den keratinproduzierenden Zellen der Oberhaut (Keratinozyten) gebildet. Durch ihr Zusammenwirken entstehen zugfeste und biegsame Fäden, die die Bindungen zwischen den einzelnen Keratinozyten zusätzlich verstärken und somit der Haut Schutz, Stabilität und Belastbarkeit verleihen. So haben Sie Ihre Fingerrillen und über drei Millionen Schweißdrüsen Keratin-14 zu verdanken. Beim Sport fängt der Körper an zu schwitzen, und das ist auch gut so! Der Schweiß tritt über die Schweißdrüsen auf die Hautoberfläche und verdunstet. Dadurch kühlt sich die Haut ab; der Körper reguliert so seine Temperatur. Keratin-5 dagegen verleiht Ihnen Ihre Hautfarbe. Es sammelt das der Haut ihren Farbton gebende Pigment Melanin, welches in den melaninproduzierenden Zellen (Melanozyten) gebildet wird, und verteilt es gleichmäßig über die gesamte Haut.
Hitzetod und abdrucklos
Was passiert nun, wenn das Keratin-14 Gen mutiert? Die „Buchstaben“ des Gens werden vertauscht: Aus Keratin wird „Kerstin“, und Kerstin paart sich nicht mit Keratin-5. Folglich sind die Keratinozyten nur noch locker miteinander verbunden; jede kleinste Reibung führt zu schmerzhaften Blasenbildungen auf der Haut. Auffällig sind auch ungleichmäßig verteilte dunkle Verfärbungen auf der Haut, die an eine netzartige Struktur erinnern. Diese kommen durch die ungeordnete Melaninverteilung zustande. Auch kann die kleinste körperliche Anstrengung zur Herausforderung werden: denn ohne Keratin-14 auch keine Schweißdrüsen. Die sich aufstauende Hitze sammelt sich im Körper an; schlimmstenfalls droht ein „Hitze-Kollaps“, der tödlich enden kann. Was DPR aber so besonders macht, ist das Fehlen von Fingerrillen. Aus noch ungeklärten Gründen begehen die äußersten Zellen der Haut Selbstmord (Apoptose). Dieser „geregelte Zelltod“ ist ein wichtiger Vorgang in der Zelle, um das Gleichgewicht zwischen der Eliminierung und Neubildung von Zellen aufrechtzuerhalten. Denn der Körper sorgt dafür, dass Zellen, die nicht mehr benötigt werden, spurenlos beseitigt werden. Doch ohne Fingerlinien auch kein Fingerabdruck. Und ohne Fingerabdruck ist das moderne Leben nicht gerade einfach.
Kaum Aufmerksamkeit von der Forschung
Bisher ist für Betroffenen keine Therapie in Sicht. Das liegt nicht zuletzt daran, dass der Krankheit kaum Aufmerksamkeit von Medizinstudenten, Ärzten oder Wissenschaftlern geschenkt wurde. Warum auch, wenn Millionen anderer Menschen an Diabetes oder AIDS leiden? Doch birgt die Zukunft Hoffnung. Zum Erstaunen der Wissenschaftler ist ein Defekt im Keratin-14 Gen längst bekannte Ursache einer Gruppe von anderen schweren Hauterkrankungen. Und zwar der Epidermolysis Bullosa Simplex (EBS), von der immerhin eins von 30.000 bis 40.000 Neugeborenen betroffen sind. Nur findet die Mutation an einer anderen Stelle des Keratin-14-Gens statt.
Eine Gentherapie für DPR, der Fingerabdruckskrankheit, bei der das defekte Gen durch ein gesundes ersetzt würde, wäre auch auf Krankheiten wie die EBS übertragbar. Es würden also bei weitem nicht nur DPR-Erkrankte profitieren, sondern auch EBS-Betroffene.
Doch noch viel grundsätzlichere Fragen könnte die genauere Erforschung der so seltenen DPR eventuell klären. Gelänge es herauszufinden, wie genau der Zelltod im Falle von DPR zustande kommt und was für eine Rolle Keratin-14 dabei spielt, könnte das ein übertragbares Modell auf die Krebsforschung sein. Normalerweise beugt das „freiwillige“ Ableben der Zellen einer möglichen Zellentartung vor. Doch Krebszellen entgehen geschickt dem Tod, da in ihnen die Gene so verändert sind, dass das Selbstmordsignal der Krebszelle ausgeschaltet ist: Sie teilen sich ungehindert weiter. Könnte man nun mittels neuer Therapieansätze die Krebszellen gezielt in den Selbstmord lenken, ohne dabei gesundes Gewebe zu schädigen, wäre das ein weiterer Meilenstein für die Krebsforschung.
DNA
Engl.: desoxyribonucleic acid; Jede menschliche Körperzelle enthält DNA; sie gilt als Träger der gesamten Erbinformation. Die Bausteine der DNA sind die Nukleotide, die sich jeweils aus einem Zucker (Desoxyribose), einer Phosphatgruppe und einer Base zusammensetzen. Die Nukleotide verbinden sich zu zwei Nukleotidsträngen. Beide Stränge ordnen sich spiralförmig an und sind über die Basen miteinander verbunden: es entsteht die berühmte Doppelhelix. Die DNA-Stränge sind zu 46 Chromosomen verpackt.
Basen
„Alphabet des Lebens“: Bausteine der Nukleotide bestehend aus Adenin (A), Thymin (T), Guanosin (G) und Cytosin (C), die die Erbinformation codieren. Die Verbindung zweier DNA-Stränge erfolgt über die Basen, wobei sich A mit T, und G mit C paart.
Chromosom
Träger der Erbinformationen. Bei Menschen existieren Chromosomen in doppelter Ausführung. Es gibt insgesamt 23 Chromosomenpaare: ein Chromosom von der Mutter, das andere vom Vater. 22 davon sind nicht-geschlechtliche Chromosomen (Autosomen), während das andere das Geschlechtschromosom (XY: Mann, XX: Frau) darstellt. Chromosomen bestehen aus Genen, wobei ein Gen die Information für die Herstellung eines bestimmten Moleküls enthält.
Zur Person
Manolya Ezgimen studiert Medizinische Biotechnologie an der Technischen Universität Berlin.