Wo ist hier? Wann ist jetzt? Und wer ist ich?
Mit der Information aus dem Gedankenspiel des bekannten Linguisten Stephen Levinson kann man herzlich wenig anfangen. Es drängen sich dem Finder der Flaschenpost folgende Fragen auf: Wer ist mit me gemeint? Und wo ist here? Ist next year vielleicht schon gewesen? Welche Länge hat der Stock? Worauf beziehen sich eigentlich solche referentiell vagen Ausdrücke wie me, here, same time, next year und this long? Genau dieser Problematik möchte Anja Stukenbrock in ihrem Habilitationsprojekt nachgehen.
Was sind Deiktika?
Deiktika wie hier, da oder drüben sind Ausdrücke des Zeigens, mit deren Hilfe wir unter anderem unsere Raumwahrnehmung strukturieren
» ganzer Text
In der neueren Interaktions-Forschung ist Multimodalität ein wichtiger Aspekt: Nicht nur Sprache wird untersucht, sondern es werden auch Gestik, Mimik und Blickrichtung der Interaktionsteilnehmer beobachtet und exakt beschrieben. Neu ist vor allem, dass diese Komponenten als gleichwertig für den kommunikativen Erfolg angesehen werden. „Dem Non-Verbalen wird heute in der linguistischen Forschung mehr Relevanz eingeräumt als früher“, erklärt Anja Stukenbrock. „Heute bemüht man sich um eine holistische Sicht auf Kommunikation: Ein Kommunikationsakt wird als ein Phänomen betrachtet, in dem Sprache, Gestik und Mimik zu einem Gesamtpaket miteinander verschnürt sind. Die Gesprächspartner müssen ihre Aufmerksamkeit auf das Gesagte, aber auch auf die Äußerungssituation selbst richten, um die referentiell variablen Deiktika zu entschlüsseln.“
Um das Zusammenspiel zwischen Deiktika, Blick und Gestik zu verstehen, betrachtet Anja Stukenbrock sowohl verbale als auch visuelle Aspekte von Interaktion: Wohin muss jemand schauen oder zeigen, der da sagt? Welche Rolle spielt die Körperausrichtung des Zeigenden? Wohin muss derjenige schauen, der verstehen will, was mit hier, mit nicht das, sondern das da gemeint ist oder wer zur Gruppe du, du und ihr beide gehört? Wie werden Missverständnisse „repariert“?
Theoretische und technische Weiterentwicklung der Interaktionsforschung
Lange Zeit arbeiteten Linguisten auf dem Gebiet der Deixis-Forschung ausschließlich auf der Ebene der sprachlichen Zeichen und gingen davon aus, dass man Gesten nicht mitstudieren müsse. „Aber weil Deiktika so stark situations- und standpunktbezogen sind, liegt es ja gerade nahe, multimodale Aspekte in die empirische Analyse mit einzubeziehen und die Deiktika im Gesamtkontext ihres Gebrauchs zu untersuchen. Dadurch können wir ihre Vagheit, Offenheit und Variabilität – und damit ihre Funktion – besser verstehen“, erklärt Stukenbrock.
Die Dominanz der Sprache in der Interaktions-Forschung hatte nicht nur theoretische, sondern auch technische Gründe: Erst seit den letzten Jahren können Video-Mitschnitte in der erforderlichen Qualität hergestellt und am Computer analysiert werden. Um das zu tun, braucht Anja Stukenbrock vor allem eines: Viel ELAN. Damit ist nicht nur ihr eigener Schwung gemeint, sondern ein Programm, mit dessen Hilfe Videos transkribiert und in kurze Sequenzen eingeteilt werden können. Während das Video im Programm läuft, kann die Linguistin das erstellte Transkript der verbalen Äußerung sehen und gleichzeitig die Bewegungen der Interaktionsteilnehmer betrachten. Das Programm erleichtert es auch, einzelne Stellen in den jeweiligen Videodateien wiederzufinden. Und so braucht sie neben Elan auch Geduld, denn sie sitzt oft stundenlang am Computer, transkribiert das Gesagte, die Bewegungen und Blicke der Akteure – und schaut sich kurze Sequenzen hundert Mal an, um herauszufinden, wie sich die Zeige-Gestik in einem bestimmten Fall entwickelt. Da Stukenbrock mehrere Kommunikationsmodi – Sprache, Gestik, Blick – gleichzeitig beobachtet, müssen diese auch einzeln transkribiert und geordnet werden. Ihre Erfahrung mit dieser zeitintensiven „multimodalen Transkription“ hat sie in einem Artikel verarbeitet, der demnächst in einem von ihr mit herausgegebenen Sammelband über die Arbeit mit Transkripten erscheint.
„Big Brother“ als Datenfundus
Anja Stukenbrock nutzt in ihrem Forschungsprojekt unter anderem die Fernsehproduktion „Big Brother“. Verschiedene Mitschnitte der ersten und zweiten Staffel dieser Reality-Show wurden vom Deutschen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg archiviert und stehen seitdem für verschiedene linguistische Projekte zur Verfügung. Das Korpus eignet sich für die Untersuchung der Raumdeixis besonders wegen des Showformats von Big Brother: „Sehr wertvoll ist für mich vor allem, dass in der Reality-Show Alltagssituationen dargestellt werden“, erklärt Stukenbrock. „Ich kann die Kandidaten bei den einfachsten Tätigkeiten beobachten und ihre Gestik und Mimik analysieren.“ Für die Forscherin ist es kein allzu großer Nachteil, dass sich die Akteure in einem inszenierten Umfeld befinden – und genau wissen, dass sie aufgezeichnet werden. Denn trotz der eigens für das Fernsehen aufgezeichneten Lebenssituation müssen die Kandidaten alltägliche Dinge verrichten wie Kochen, Essen, Aufräumen, Putzen und so weiter. Die bei diesen Alltagsroutinen von der Forscherin beobachteten Phänomene laufen so unreflektiert und automatisiert ab, dass das Big Brother-Material dafür eine wahre Fundgrube darstellt.
Dokumentation von Videoanalysen: Wann ist der Screenshot deutlich genug – oder schon suggestiv?
Methodisch stellt sich die Frage, wie die systematische Beschreibung der multimodalen Interaktion an das interessierte Fachpublikum weitergegeben werden kann. Zwar ist es üblich, die verbale Beschreibung von Gestik, Mimik, Blickausrichtung und Körperorientierung mit in das Transkript aufzunehmen; diese Form der Wiedergabe besitzt jedoch nicht die Aussagekraft eines Bildes. Stukenbrock möchte ihren Rezipienten jedoch eine genaue Vorstellung der verwendeten Sequenzen vermitteln und legt daher großen Wert auf Screenshots. Die Ausschnitte müssen jedoch mit Bedacht ausgewählt werden. Sie sollen die Analyse stützen; doch es ist gleichzeitig verlockend, in Publikationen besonders suggestive Bildausschnitte zu wählen, die im Standbild deutlicher wirken, als das in der Bewegung der Fall war.
Stukenbrocks Habilitationsprojekt läuft seit April 2005 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Seit April 2008 setzt die Linguistin ihre Arbeit am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) fort.
Zur Person
Der Beitrag von Julia Harig und Christian Schmieder erschien erstmals in „DS – Magazin des Deutschen Seminars“ der Universität Freiburg
