Religion reloaded

Alternativtext Leben wir in einer postsäkularen Gesellschaft? War Religion, deren „Rückkehr“ weiterhin in aller Munde ist, jemals fort? Und wo waren „die Götter“ in der Zwischenzeit? Ein Bericht über fünf Elefantenrunden zur Relevanz von Religion und dem Stand der Säkularisierung in westlichen Gesellschaften.

Es ist eine glückliche Fügung, dass sich Altkanzler Helmut Schmidt auch „außer Dienst“ noch zu Themen der Gegenwart zu Wort meldet, etwa als Impulsgeber: So gab Schmidt, der in den vergangenen Jahren wiederholt auf die Bedeutung von Toleranz und die Gefahr eines weltweiten „Clash of Civilizations“ hingewiesen hat, den Anstoß zu dem internationalen Symposium „Beyond Secularism? The Role of Religion in Contemporary Western Societies“, das die ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius zusammen mit der Herbert Quandt-Stiftung am 9. und 10. Juli an der Bucerius Law School in Hamburg ausrichtete.

ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius
Die ZEIT-Stiftung wurde 1971 in Hamburg von dem Rechtsanwalt Gerd Bucerius gegründet.
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In fünf Podien diskutierten Wissenschaftler, Politiker und Journalisten über die Rolle und Relevanz von Religion in westlichen Gesellschaften, den Ort der Religion zwischen öffentlichem Raum und Privatsphäre, die religiöse Dimension des interkulturellen Dialogs und das Spannungsfeld zwischen Religion, Moderne und Kultur.

Das Ergebnis war der Gedankenaustausch auf höchstem wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischem Niveau, den die prominente internationale Besetzung erwarten ließ: zu den Vortragenden und Diskutanten zählten neben dem Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, um nur eine Auswahl zu nennen, die Islambeauftragte der SPD, MdB Lale Agkün, der Erzbischof von Lublin und Professor für katholische Theologie, Józef Życiński, der Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur in Leipzig, Dan Diner, der protestantische Theologe Friedrich Wilhelm Graf ( LMU München ) und der Soziologe José Casanova, dessen Arbeitsplatz in Washington D.C., das Berkeley Center for Religion, Peace and World Affairs , den Geist der Tagung bereits in seinem US-amerikanischen Namen trug.

Von Abwesenden, Unverfügbarem und Trivialitäten

Im Zentrum des Interesses stand nicht etwa der im gesellschaftlichen Diskurs ansonsten mit Allgegenwartsqualitäten ausgestattete Slogan von der „Rückkehr des Religiösen“ – denn, so vermutete Markus Baumanns von der ZEIT-Stiftung in seinen Eröffnungsworten, die Religiösität sei vielleicht nie verschwunden gewesen. Roland Löffler, Leiter des von der Herbert Quandt-Stiftung initiierten „Trialogs der Kulturen“, sekundierte mit der Frage, wo „die Götter“ denn in den letzten zwanzig Jahren gewesen sein sollen und überließ es der Vorstellungskraft der rund 150 Teilnehmer, unter ihnen weitere 40 Hochschul-Professoren und die Bischöfin der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche , Maria Jepsen, in welche - womöglich säkularen - Gewänder diese in der Zwischenzeit geschlüpft sein könnten.

Alternativtext
Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble

In seinem Einführungsvortrag konstatierte Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble eine wachsende Sensibilisierung für religiöse Themen, die sich etwa in der Debatte über den Gottesbezug in der EU-„Verfassung“ oder die Stammzellenforschung, aber auch in der Anteilnahme am Tod Johannes Pauls II. 2005 und in dem Wunsch der „türkischen Community“ nach mehr Moschee-Bauten manifestiert habe.
Religion, so der Innenminister, sei eben eine Sache von Gemeinschaft und gerade für das Funktionieren einer individualisierten Gesellschaft von Bedeutung. Die Menschen müssten mit ihrem „Sein, Tun und Wollen“ aber letztendlich in Verantwortung stehen vor „einer Instanz, die sie nicht eingesetzt haben“, sonst drohe Gefahr, wie es der katholische Bischof von Dresden Joachim Reinelt in seiner Rede zum 50. Jahrestag der Bombardierung seiner Stadt auf den Punkt gebracht hat: „Wo immer in der Welt einer nicht mehr weiß, dass er höchstens der Zweite ist, da ist bald der Teufel los.“
Für das friedliche Zusammenleben in der deutschen Gesellschaft sei die Unantastbarkeit der Würde des Menschen (Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes) ebenso konstituierend, wie die christliche Forderung der Freiheit der Konfession als Grundrecht, die der Minister von dem Bibelwort des Menschen als Ebenbild Gottes (1. Mose 1, 27) herleitete: dieses gelte für alle und verpflichte daher zu Toleranz. Das „Wissen um ein Unverfügbares“, mithin der Bezug auf den christlichen Gott, sei „die beste Vorkehrung gegen Totalitarismus.“

Die Zurückhaltung bezüglich einer klaren persönlichen Positionierung und die auffallend häufige Betonung von sich selbst erklärenden, „trivialen“ Sachverhalten in der anschließenden Podiumsrunde bildete den aktuellen Stand des interreligiösen Dialogs und damit auch den weiteren Verlauf des Symposiums in seinen Grundzügen bereits ab. Noch geht es anscheined darum, Standpunkte abzugleichen, eine gemeinsame Sprachebene zu finden und sich nicht aus der weltanschaulichen Reserve locken zu lassen. Inhaltlich dominierte das Thema „Islam“ die Debatte.
Dan Diner, der klar stellte, nicht als Vertreter des Judentums gekommen zu sein, war immerhin noch das Bekenntnis zu entlocken, dass er die Säkularisierung „mit Zähnen und Klauen“ verteidigt wissen wollte. Daneben betonte er die soziale Komponente der Integrationsfrage in Deutschland. Lale Agkün, nach eigenem Bekunden „Kultur-Muslimin“, erklärte die Schäuble-Aussage, „der Islam ist Teil unserer Gesellschaft“, trotz ihrer „Banalität“ zum „Satz der Legislaturperiode.“ Größere Relevanz ist sicherlich dem Dialog auf lokaler Ebene als „wahre Chance des Kennenlernens“ beizumessen, den die SPD-Islambeauftragte der aus ihrer Sicht ergebnislos verlaufenen Islamkonferenz entgegenstellte: Wo sich Imam, Pfarrerin, Priester und Rabbiner zusammen mit Bürgern über die Belange des eigenen Stadtteils austauschten, wie beispielsweise in ihrer Heimatstadt Köln, würden tatsächlich Vorurteile abgebaut. Friedrich Wilhelm Graf schließlich betonte „Trivialitäten“ gleich in Serie: dass die Islamkonferenz den Menschen gezeigt hat, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, dass „mehr Verschiedenheit auch mehr Konflikt“ bedeutet und dass Religion eine ambivalente Dimension habe: „man kann mit Gott eben auch …“ - an die hier anklingenden Auslassungspunkte ließ sich unschwer „eine Menge Unheil anrichten“ anschließen.
Aus dem Publikum heraus unternahm der Direktor des Max-Weber-Kollegs für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt, Hans Joas, den Versuch, die nebeneinander im Raum stehenden Stellungnahmen in eine diskussionsdienliche Richtung zu lenken. Ein möglicher Umgang mit der Grafschen Ambivalenz sei, sich mit Abraham Lincoln zu fragen, ob ein Mensch verkünde „Gott steht auf meiner Seite!“ oder ob er prüfe „wie steht Gott zu mir?“ Man könne sich der Frage nach einem Maßstab nicht entziehen, die Debatte bedürfe jedoch vor allem Optimismus.

Secularism Revisited

Herbert Quandt-Stiftung
Die nach dem Unternehmer Herbert Quandt benannte und in Würdigung seines Lebenswerks 1980 gegründete Herbert Quandt-Stiftung setzt sich unter dem Leitspruch „Den Bürger stärken – die Gesellschaft fördern“ für die Fortentwicklung des freiheitlichen Gemeinwesens ein.
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Von eben diesem optimistischen Ansatz getragen war sein Referat zu dem Thema „Does secularism lead to moral decline?“, das zu den Höhepunkten des Symposiums zählte. In den vergangenen 20 Jahren, so Joas, sei die Theorie von einer besseren säkularen Welt kollabiert: „History is on our side!“ gelte heute nicht mehr, die Verfechter der Säkularisierung müssten ihre Sache nunmehr „ohne Hilfe der Geschichte“ verteidigen. Gleichzeitig habe aber auch die Gegenthese, nach der Religion unverzichtbar für die moralische Gesundheit der Menschen sei, als widerlegt zu gelten.
Joas strich heraus, dass auch die säkulare Weltsicht notwendigerweise Spuren der religiösen Vorstellungswelten trüge, aus denen sie hervor gegangen sei, selbst in der Negation. Eine Betrachtung der auf vermeintlich rein praktischen Beziehungen der Reziprozität aufbauenden Sozialstrukturen von Stammesgesellschaften zeige einerseits, dass auch diese letztendlich auf Werten wie gegenseitigem Vertrauen gründeten, das Scheitern von russischen Missionsbestrebungen in Sibirien im 19. Jahrhundert erkläre sich andererseits gerade damit, dass das Christentum die existierenden Reziprozitätsbeziehungen ausgehebelt habe. Die Dichotomie zwischen „Gläubigen und Ungläubigen“ müsse durch jene zwischen „Universalisten und Nicht-Universalisten“ ersetzt werden, letztere charakterisiert durch „Erfahrungen der Selbsttranszendenz.“ Bislang, so sein Fazit, sei in den säkularisierten Gesellschaften kein moralischer Verfall zu konstatieren.

Die sich anschließende Diskussion auf dem Podium ließ das ganze Potenzial der Veranstaltung aufleuchten. Der türkischen Soziologieprofessorin der Pariser École des Hautes Études en Sciences Sociales , Nilüfer Göle, zufolge zeigt sich die Säkularisierung gerade in der Auseinandersetzung mit dem Islam als „hoch moralisches“, mitunter „arrogantes“ System, dessen Anhänger in der Gewissheit stünden, über die höheren moralischen Werte zu verfügen. Dabei ginge es beispielsweise in der Debatte um das Kopftuch oder die Höhe eines Minaretts auch um ästhetische Fragen. Der Universalimus-Ansatz sei aus ihrer Sicht nur bedingt hilfreich, vielmehr müsse man sich auf „das Gemeinsame“ konzentrieren. Dem Ansatz des Gemeinsamen hielt Joas entgegen, dass es ihm ja genau um das den Einzelnen Transzendierende ginge und nur so gewährleistet werden könne, dass jeder – „all the people on the road“ - mit einbezogen würden. Tariq Ramadan, Islamwissenschaftler an der Universität Oxford, hob auf die Ängste einer forcierten Säkularisierung in der „stark transzendenten“ islamischen Gesellschaft ab, die für ein verfälschtes Bild der Qualität der westlichen Moralstandards in der muslimischen Welt mit verantwortlich zeichne.

Die Elefanten sind los!

Das Spektrum der Debatte reichte von der klar kirchennahen Meinung des FAZ -Redakteurs Daniel Deckers, der Benedikt XVI. in seiner Warnung vor dem moralischen Verfall in säkularen Gesellschaften bestätigt sah, bis zu dem meinungsstarken Plädoyer für eben jene säkulare Moral, die der ehemalige SPD-Finanzminister und heutige Vorsitzende des Aufsichtsrates der Universität Haifa und des Kuratoriums der ZEIT-Stiftung , Manfred Lahnstein, verlas: Das Lehren kreationistischer Überzeugungen an öffentlichen Schulen in den USA, die religiös begründeten Ansprüche auf Territorien wie Samaria durch Israel und die fragwürdige Beziehung zwischen Wissenschaft und Koran belegten das unheilvolle Wirken von Religion, die nur im Privaten existenzberechtigt sei. Lahnstein bezeichnete Islam, Judentum und Christentum gar als „drei Elefanten“, die aus seiner Sicht rücksichtslos durch den säkularen Weltporzellanladen trampelten.
Die kompromisslose Haltung Lahnsteins zeigte gleichzeitig die Grenzen des Dialogs und einen möglichen Weg auf, diese zu überwinden, und zwar genuines gegenseitiges Interesse: Hans Joas fragte Lahnstein erst einmal nach seiner Lebensgeschichte, um sein Gegenüber besser verstehen zu können, der Soziologe und Vizepräsident der Universität Haifa, Majid Al-Haj, bemühte das Bild eines repräsentativen muslimischen Ehepaars, dessen Bund fürs Leben selten mit einer Liebesbeziehung beginne, aber aufgrund von gemeinsamen Interessen und in dem Wissen darum, dass keine bessere Alternative zur Hand sei, ebenso selten in einer Scheidung ende. „It’s not the religion, Manfred“, so Al-Haj zu Lahnstein, „it’s how we use it.“

Kultur ohne Preis

Den Schlusspunkt des Symposiums bildete eine Lesung mit dem deutsch-iranischen Schriftsteller Navid Kermani, der im März zunächst als Träger des Hessischen Kulturpreises nachnominiert worden war, welcher ihm wenige Wochen darauf jedoch wieder aberkannt wurde. Der Schauspieler, Regisseur und Dramaturg Frank Arnold trug vier „Bildansichten“ Kermanis vor, darunter auch jenen Text über die Begegnung des Autors mit einer Kreuzigungsdarstellung des italienischen Barock-Malers Guido Reni in der Kirche San Lorenzo in Lucina in Rom, der für seine Co-Preisträger, den Mainzer Bischof Karl Kardinal Lehmann und den ehemaligen Kirchenpräsidenten der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Peter Steinacker, zum Stein des Anstoßes wurde, weil Kermani die Kreuzestheologie aus seiner persönlichen Sicht dort zunächst als „Gotteslästerung und Idolatrie“ bezeichnet hatte, bevor er sich im weiteren Verlauf seiner Bildmeditation doch noch Zugang zu dem zentralen Symbol des Christentums erabeitete.
In Hamburg sollte jedoch nicht die Misere um den Hessischen Kulturpreis, sondern die Texte Kermanis im Mittelpunkt stehen: Sie sind im Wortsinne schön. Nun wären die Organisatoren allerdings kaum darauf gekommen, Kermani einzuladen, wenn seinen Texten nicht über ihren literarischen Wert aufgrund der Beschäftigung eines deutschsprachigen Autors mit islamischem Migrationshintergrund mit der christlichen Konfession auch eine gesellschaftspolitische Bedeutung zukäme. Vor dem Hintergrund des in Hessen gescheiterten Versuchs, Kirchenvertreter und Künstler in einen interreligiösen Trialog der Toleranz treten zu lassen, erscheint weniger die Aussage Kermanis von Bedeutung, dass er weder vor noch nach dem Erscheinen seines Textes in der Neuen Zürcher Zeitung damit gerechnet habe, solchen Aufruhr zu erzeugen. Sie ist eine Selbstverständlichkeit. Bemerkenswert ist, dass nach derzeitigem Stand der gesellschaftlichen Debatte den Vertretern der etablierten christlichen Kirchen in Deutschland keine Empfindsamkeit zugestanden wird.

Elefanten auf Wiedervorlage

Zu guter Letzt rückte eine Stimme aus der Zuhörerschaft noch das Bild der Religion als Elefant zurecht: dieser werfe zwar „viel Schatten“, wie Friedrich Wilhelm Graf feststellte, ist aber gemeinhin als ruhiges und friedliebendes Tier bekannt - und wurde schon von Plinius gerade für seine Toleranz gerühmt. In diesem Sinne erlebten die Teilnehmer gleich fünf Elefantenrunden zu Themenkreisen von hoher, sicherlich in Zukunft weiter steigender Relevanz für ein friedliches gesellschaftliches Zusammenleben.
Dennoch wurden zahlreiche Anregungen und einige viel versprechende Ansätze – der „Dialog von unten“, der nicht nur in Köln Ergebnisse liefert, Joas’ universalistischer Ansatz, die Unverfügbarkeits-These des Bundesinnenministers – auf den Tisch gebracht. Und dies hoffentlich auf Wiedervorlage, denn eine Fortsetzung und Vertiefung des aufgenommenen Austauschs, womöglich im Rahmen einer institutionalisierten Konferenz in Hamburg wäre wünschenswert. Mit der ZEIT- und der Herbert Quandt-Stiftung stehen erfahrene und kompetente Partner bereit. Vielleicht ermöglicht wahlweise göttliche Fügung oder säkulares Glück das nächste Mal auch die persönliche Teilnahme des Ideengebers Helmut Schmidt.

Beitrag von Moritz Trebeljahr
Bildquellen in Reihenfolge: Thies Ibold, www.ibold.com (2)

Links zum Thema

  • Helmut Schmidts Rede „On a Politician’s Ethics“ im Rahmen der von dem emeritierten Tübinger Theologieprofessors Hans Küng initiierten Global Ethics Lectures am 8. Mai 2007
  • Zeit-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius
  • Herbert Quandt-Stiftung

Zur Person

Moritz Trebeljahr ist Redakteur von sciencegarden .

Literatur

  • Helmut Schmidt (2008): Außer Dienst. München.
  • Samuel P. Huntington (1998): Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. New York; dt. Übersetzung, Hamburg 2006.
  • Jürgen Habermas/Joseph Ratzinger (2005): Dialektik der Säkularisierung: Über Vernunft und Religion. Freiburg.
  • Bärbel Beinhauer-Köhler/Claus Leggewie (2009): Moscheen in Deutschland. Religiöse Heimat und gesellschaftliche Herausforderung. München.

Kategorien

Themen: Gesellschaft | Politik | Religion
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