Wider den mathematischen Analphabetismus

Bosporus-Brücke„Verdammt!“ Der Flügel weist in die falsche Richtung. Zweifel ausgeschlossen. Und so fliegt ein weiterer Origami-Pegasus in den Papierkorb. Das Symbol der Dichtung als geometrische Faltung. Einfach ist es bestimmt nicht, Literatur mit mathematischer Präzision zu verbinden.

Doch genau das versucht die Germanistin Franziska Bomski tagtäglich. Ihr Promotionsprojekt beweist, dass ein Verständnis der Mathematik das Verständnis von Literatur erweitern und die Lektüre bereichern kann. Vorteil: Die Literaturwissenschaftlerin hat ein Mathematikstudium hinter sich.
Welche Bedeutung nimmt die Mathematik im literarischen Werk des Romantikers Novalis und des Neo-Romantikers Robert Musil ein, zwei Autoren, die ihre Epoche entscheidend geprägt haben? Diese Frage untersucht Franziska Bomski anhand der Hauptwerke der beiden Autoren – Novalis’ Heinrich von Ofterdingen (1800 –1802) und Musils Mann ohne Eigenschaften (1921–1931). Obwohl zwischen den beiden Romanen mehr als ein Jahrhundert liegt und sie unterschiedlichen literarischen Epochen angehören, lohnt sich der Vergleich: Beide Texte entstehen jeweils an der Schwelle zweier Epochen, Heinrich von Ofterdingen kennzeichnet den Umbruch von der Klassik und Romantik zur Moderne, Der Mann ohne Eigenschaften die Schnittstelle zwischen Moderne und Postmoderne. Die Untersuchung der Mathematik hilft, exemplarisch zu zeigen, wie sich zu diesen Zeitpunkten die epistemologischen Bedingungen jeweils verschieben, das heißt, wie sich der erkenntnistheoretische Zugriff auf die Wirklichkeit verändert. Beide Schriftsteller haben sich intensiv mit der Mathematik und ihrem Erkenntnispotenzial auseinandergesetzt.

„Bei Novalis wird die Mathematik in keiner Passage thematisiert, sondern implizit ästhetisch fruchtbar gemacht. Die mathematischen Gesetze regeln den formalen Aufbau, die Handlungsstruktur und die Figurenkonstellation. Der Roman integriert die Mathematik vollständig“, sagt die Promovendin. Dies kann im homogenen Textganzen sichtbar gemacht werden, indem sie Novalis theoretische Schriften hinzuzieht. Im Mann ohne Eigenschaften hingegen wird die mathematische Reflexion darüber hinaus in den essayistischen Passagen und Gesprächen der Figuren explizit.

Alternativtext
Jetzt ist der Flügel gelungen!

Ähnlich ist jedoch bei beiden Dichtern die Motivation für die Auseinandersetzung mit der Mathematik: Musil und Novalis geht es um die Frage, inwiefern die Mathematik, verstanden als eine besondere Erkenntnishaltung, für das Ich konstitutiv ist. „Entgegen der früheren Forschungsmeinung schreibt Novalis der Mathematik durchaus eine wesentliche Funktion für die Erkenntnis des Absoluten zu, die nicht zuletzt im systematischen und in sich geschlossenen Charakter ihrer Zeichen begründet liegt. Für ihn spiegelt die Mathematik die Strukturen der Erkenntnis. Sie zeigt die Analogien zwischen den verschiedenen Formen des Wissens auf und verbindet dadurch alle miteinander. Als mathesis universalis liegt sie aller Erkenntnis zugrunde. Durch sie lasse sich dann die ‚Sprache der Natur‘ entziffern, was ja ein erklärtes Ziel der Romantiker ist.“

Ohne ihr vorheriges Mathematikstudium wäre die Studie von Franziska Bomski nicht denkbar. Die Arbeit selbst aber soll vor allem Germanisten neue Bedeutungsschichten eröffnen. Dass die Promovendin in diese Vermittlungsrolle längst hineingewachsen ist, zeigt sich deutlich darin, wie sie Ergebnisse ihrer Arbeit greifbar macht: „Wichtig für das Verständnis des Heinrich von Ofterdingen sind etwa die konvergenten Reihen. Das sind, einfach formuliert, mathematische Zahlenreihen, die einem Grenzwert beliebig näher rücken, diesen aber nie erreichen. Ein Beispiel wäre die Zahlenreihe 1, 1/2, 1/3,..., die sich immer stärker Null nähert, diesen Wert aber nie erreicht.“ In seinen theoretischen Schriften hat sich Novalis mit diesem Prinzip intensiv auseinander gesetzt, es wird für ihn zur Metapher von Erkenntnis insgesamt. Das Absolute wird angestrebt, kann aber genau wie der Grenzwert nie erreicht werden.

Franziska Bomski hat nun herausgefunden, dass der Reihung der Figuren im Heinrich von Ofterdingen eben dieses Prinzip der konvergenten Reihe zugrunde liegt. Beispielsweise wohnt jeder der Frauenfiguren bereits eine Komponente des Ideals inne; am Ende steht das Ideal Mathilde. Durch ihren frühen Tod wird sie sogleich ins Transzendente überhöht und bleibt somit unerreichbares Ziel, auf das man sich dennoch zubewegt. „In der Forschung wurde bislang immer behauptet, Novalis habe die Gestaltung der weiblichen Figuren schlicht aus Goethes Wilhelm Meister übernommen. Dem möchte ich entgegensetzen, dass Novalis hier seine theoretische Reflexion über die mathematische und damit erkenntnistheoretische Annäherung an ein Ideal ästhetisch vorführt“, sagt die Doktorandin.

Etwas vereinfacht besagt das Gesetz der Großen Zahlen Folgendes: Berechnet man das durchschnittliche Ergebnis einer hinreichend großen Anzahl gleichartiger, voneinander unabhängiger, zufälliger Ereignisse, so liegt dieses Ergebnis mit nahezu hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit sehr nahe am arithmetischen Mittel der möglichen Werte.
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Während bei Novalis die Synthese der verschiedenen Zugänge zur Wirklichkeit als Ideal bestehen bleibt, sieht Musil letztlich keine Chance, den Bereich des Nichtbegrifflichen, Imaginären und das „Ratiode“, so nennt er das Verstandesmäßige, dauerhaft zu vereinen. Stattdessen müsse das Individuum fortwährend zwischen beiden Polen pendeln, ohne von einem vereinnahmt zu werden. Welche Rolle der Zusammenhang von Erkenntnis und Mathematik bei Musil spielt, lässt sich anhand des Gesetzes der Großen Zahlen aus der Wahrscheinlichkeitstheorie verdeutlichen: „Im Roman Der Mann ohne Eigenschaften wird es zunächst unmittelbar mit einem fatalistischen Geschichtsbild verknüpft. So wird jede noch so individuelle Handlung, wie beispielsweise der spätere Selbstmord einer Nebenfigur (Hans Sepp), als außergewöhnliche Einzeltat, durch die Integration in Selbstmordstatistiken, die an anderer Stelle erwähnt werden, relativiert.“Was die Forschung aber oft übersieht, ist, dass die Mathematik im Roman auch eine positive Rolle spielt, insofern der Text sie mit einem schöpferischen Potenzial assoziiert, das Phantasie und Exaktheit verbindet und grundlegend für das Ich ist.

„Fiktum versus Faktum?“
Interdisziplinäre Zusammenarbeit muss sein, findet die Promovendin. Gemeinsam mit dem Mathematiker Stefan Suhr hat sie deshalb im März die Tagung „Fiktum versus Faktum? Mathematik in Literatur und Film des 20. und 21. Jahrhunderts“ veranstaltet.
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„Natürlich geht es nicht darum, herauszufinden, ob der Autor die mathematischen Grundsätze richtig oder falsch anwendet, sondern darum, wie er sie ästhetisch produktiv werden lässt, und warum er in manchen Fällen von der mathematischen Korrektheit abweicht. Dafür ist aber der Blick des Mathematikers unbedingt notwendig“, sagt Franziska Bomski. Dass der Einfluss der Mathematik und der Naturwissenschaften auf die Literatur in der Germanistik zunehmend wahrgenommen wird, findet sie sehr erfreulich. Nun verfügen aber die wenigsten Literaturwissenschaftler über eine Doppelqualifikation wie die Promovendin. „Deshalb muss die interdisziplinäre Zusammenarbeit unbedingt gefördert werden. Wir brauchen den Mathematiker, den Physiker, den Chemiker. Nicht allein, um unsere Aufsätze gegenlesen zu lassen, sondern auch, weil sie uns ganz andere Perspektiven auf den literarischen Text eröffnen.“ Aus dieser Überzeugung ist auch die Idee zur Tagung „Fiktum versus Faktum? Mathematik in Literatur und Film des 20. und 21. Jahrhunderts“ entstanden, bei der Franziska Bomski Mathematiker und Literaturwissenschaftler an einen Tisch holte. Und siehe da:
So glückt es dann doch, Mathematik und Dichtung zu verbinden. Und am Ende steht ein Origami-Pegasus mit perfekt gefaltetem Flügel für das Tagungsplakat grazil Modell.

Beitrag von Svenja Frank. Der Beitrag erschien erstmals in „DS – Magazin des Deutschen Seminars“ der Universität Freiburg, Nr. 2.
Bildquellen in Reihenfolge: Michelle Rowbotham (Gestaltung)

Links zum Thema

  • Das Programm der Konferenz „Fiktum versus Faktum“
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