Hungern in Zeiten des Überflusses

Zeltstadt Landvertriebener in der Hauptstadt Bogotá Eine Milliarde Menschen sind unternährt. Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind. Nicht der Mangel an verfügbaren Lebensmitteln, sondern ein perverses Weltwirtschaftssystem trägt daran Schuld. Mauricio García vom Schweizer Hilfswerk Swissaid sprach mit sciencegarden darüber, warum auch in ressourcenreichen Ländern wie Kolumbien Menschen arm sind und was dagegen zu tun ist.

sciencegarden: Mauricio García, Sie leiten das kolumbianische Programm des Schweizer Hilfswerkes Swissaid „Unser Saatgut – unser Leben“, was kann man sich darunter genau vorstellen?

Mauricio García: Wir sind Teil einer lateinamerikanischen Kampagne, die um den Erhalt der Biodiversität und der traditionellen Agrarkultur der Kleinbauern kämpft. Beide sind durch die weltweite Monopolisierungspolitik schwerstens bedroht, die von den transnationalen Konzernen mit Rückendeckung der nationalen Regierungen vorangetrieben wird und die Ernährungssouveränität unserer Bevölkerungen untergräbt. Wir wollen dieser umwelt- und menschenfeindlichen Politik Alternativen gegenüberstellen: Etwa durch den Austausch altüberliefterten Wissens und traditionellen Saatgutes unter den ländlichen Gemeinden, deren Unabhängigkeit wir dadurch stärken wollen.

sg: Auf welche Weise wird denn deren Unabhängigkeit konkret bedroht?

Kolumbien
liegt zwischen Atlantik und Pazifik im Norden Südamerikas und ist mit einer Fläche von 1.141.748 Quadratkilometern mehr als dreimal so groß wie Deutschland.
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MG: Auf ganz unterschiedliche Weise: Schwer wiegt die Freihandelspolitik der vergangenen Jahrzehnte, die auch uns Kolumbianer in eine krasse Abhängigkeit von Lebensmittelnimporten gestoßen hat. Heute importieren wir hier 8 Millionen Tonnen an Lebensmitteln, davon etwa 3 Tonnen Mais, Getreide und Soja. Die Getreideproduktion in Kolumbien ist zum Erliegen gekommen, da wir es heute aus Argentinien und den USA importieren. Mit deren Billigpreisen konnten die kolumbianischen Bauern nicht mithalten. Dem zugrunde liegt freilich die sogenannte „Grüne Revolution“, also das dominante Landwirtschafts-Enwicklungsmodell der vergangenen 60 Jahre, dass die agarindustrielle Großproduktion in den Mittelpunkt gestellt hat. Durch die Privatisierungen und die verschärfte Monopolisierung hat sich die Situation für kleinere Erzeuger in jüngerer Zeit noch drastisch verschärft.

sg: Worin besteht denn das Problem dieser Privatisierung?

Kolumbien
Kolumbien

MG: Anfangs war das Saatgut in öffentlicher Hand, und die staatliche Finanzierung der Forschungseinrichtungen garantierte zumindest eine gewisse gesellschaftliche Teilhabe an ihrem Nutzen. Doch durch die neoliberale Politik der vergangenen Jahrzehnte ist dieses öffentliche Gut nach und nach in die Hände privater Großkonzerne geraten. Diesen Multis geht es ausschließlich um Gewinnerbringung. Darum richtet sich auch die Forschung nicht mehr am Wohl der Menschen aus, sondern am Interesse einiger weniger. Heutzutage wird Saatgut etwa ohne Rücksicht auf die Kleinbauern, aber auch ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der Bevölkerung, vorzugsweise für die große Agrar-Industrie entwickelt. Saatgut, das auf riesigen Anbauflächen mithilfe landwirtschaftlicher Großtechnologie angebaut wird, die auf immense Mengen an Treibstoff und Pestiziden angewiesen ist. Kleine bäuerliche Betriebe können freilich mit dieser industriellen Produktionsweise gar nicht mithalten. In Ländern wie Kolumbien haben sie auch gar nicht die Mittel, das Saatgut der Großkonzerne überhaupt zu kaufen, geschweige denn die technischen Möglicheiten es auch erfolgreich anzubauen. Daher werden sie immer weiter vom Markt verdrängt. In diese Stoßrichtung geht auch die Entwicklung von genmanipuliertem Saatgut, die höchst monopolisiert ist: Nur zehn Konzerne teilen diesen Markt weltweit unter sich auf.

sg: Gerade aber Befürworter der Gentechnik führen als Argument an, nur mit deren Hilfe ließe sich der Hunger nachhaltig und global bekämpfen.

MG: Das ist doch nur ein riesengroßes Täuschungsmanöver. Erst einmal ist die Produktion einer ausreichenden Menge an Nahrungsmitteln überhaupt nicht das Problem. Schon heute werden weltweit genügend Lebensmittel produziert; und zwar fast doppelt so viel als man bräuchte, um die gesamte Menschheit auf dem Planeten zu ernähren. Was wir haben ist ein Verteilungsproblem. Und das löst man nicht mit genmanipulierten Pflanzen. Zumal diese Technik einhand geht mit einer schwindelerregenden Landkonzentration auf Kosten der Armen. Um riesige Flächen zusammenzulegen, vertreibt man die Kleinbauern in Afrika, Asien und hier in Lateinamerika oft mit Gewalt von ihren Schollen. Diese werden dann von der Agrar-Industrie etwa für für die Massenproduktion von Fleisch, neuerdings aber vor allem für den Anbau von Biodiesel benutzt. Lebensmittelpreise sind auf diese Weise in den vergangenen Jahren in die Höhe geschossen, denn das Land wird nicht für die Grundbedürfnisse der Mehrheit, sondern für einen überzogenen Konsum einiger weniger benutzt. Dahinter steckt reines Profitinteresse.

sg: Aber ermöglicht die Gentechnik nicht wenigstens theoretisch höhere Erträge zum Wohle aller?

Mauricio García
Mauricio García, studierter Agrar-Ingenieur und Leiter des Programmes "Semillas"

MG: Der Ertrag einer Kulturpflanze hängt doch von ganz vielen Faktoren ab, nicht nur von ihren genetischen Veranlagungen. Die Befürworter der Gentechnik versprechen entgegen den Fakten immer noch größere Erträge und „saubere“ Lebensmittel. In den meisten Fällen haben die Schädlinge aber sehr schnell Resistenzen gegen die genmanipulierte Saat entwickelt. Um dieser Resistenz Herr zu werden, muss man die Dosis an Herbiziden und Pestiziden immer weiter erhöhen oder auch neue Chemikalien hinzufügen. Das ist die Logik der Agrarindustrie: Töten, töten und nochmals töten! Meist ist es der selbe Konzern, der für seine genmanipulierte Pflanze die passende Chemikalie im Angebot hat. Er verdient also doppelt daran. Abgesehen davon frage ich mich, wie „sauber“ beispielsweise ein Apfel ist, der den Wurm tötet, der ihn frisst.

sg: Es gibt also gar keinen Ertragsgewinn durch Gentechnik?

MG: In Einzelfällen. Aber auf welche Kosten? Es gibt diese Scheinargumente, dass man den Nahrungswert bestimmter Lebensmittel erhöhen konnte, etwa bei einer bestimmten afrikanischen Reissorte. Die Menschen dort haben dann aber gar nicht die ökonomischen Mittel diesen Reis zu kaufen. Das ist doch absurd. Um den Hunger nachhaltig zu bekämpfen, müssen die Menschen ihr Böden behalten und ihr eigenes Saatgut und ihre eigenen Techniken anwenden können. Dabei ist erwiesen, dass kleine Schollen mit zahlreichen, verschiedenen Pflanzen sehr viel ertragreicher sind als die grünen Wüsten der Monokulturen.

sg: Kolumbien sollte doch eigentlich genügend fruchtbaren Boden haben, um seine 45 Millionen Einwohner ernähren zu können.

Die Fleischproduktion verschlingt kostbaren Ackerboden
Die Fleischproduktion verschlingt kostbaren Ackerboden

MG: Natürlich. Aber auch in Kolumbien treibt ein falsch verstandenes Entwicklungsmodell die Menschen in größte Not. Das fing schon vor 60 Jahren an, als mit einem ersten Weltbankprojekt unter der Führung Lauchlin Curries, Vorschläge gemacht wurden, wie Kolumbien sich zu entwickeln habe. Um die Industrialisierung voranzutreiben, sollten die Menschen in die Städte geholt werden. Diese forcierte Urbanisierung hat viele der bäuerlichen Gemeinden, ihr Brauchtum, ihre Traditionen, ihr Kulturland zerstört. Damit verbunden waren die bis heute nicht abreißenden gewaltsamen Vertreibungen, die Millionen zur Landflucht genötigt haben. Gehörten noch in den siebziger Jahren 50 Prozent aller Kolumbianer der bäuerlichen Bevölkerung an, sind es heute gerade mal 24 Prozent. Diese Entwicklungen haben dazu geführt, dass weniger als 5 Prozent der Landbesitzer mehr als 65 Prozent der Ackerböden besitzen.

sg: Und die produzieren nicht vorrangig Lebensmittel?

MG: Vor allem produzieren sie für den Exportmarkt: Kaffee, Bananen, Kakao und in rasant wachsendem Maße Palmöl. Sie produzieren am Bedarf der Menschen hier vorbei. Währenddessen produzieren die kleinen Erzeuger 50 Prozent aller Lebensmittel, obwohl sie nur einen viel kleineren Teil der Fläche bewirtschaften. Dem trägt man aber weiterhin nicht Rechnung. Nachdem es in den sechziger Jahren eine zwar kleine, aber in Teilen dennoch erfolgreiche Agrarreform gab, wurden die Kleinbauern ab den siebziger Jahren erneut von ihrem Land vertrieben. Wir nennen das die Contra-Agrarreform. Es ist eine Allianz aus Großgrundbesitz, Drogenmafia und Paramilitärs, die bis heute ihr Unwesen treibt.

sg: Präsident Álvaro Uribe behauptet allerdings, dass der Paramilitarismus genauso wie die Guerrilla in Kolumbien fast am Ende sei.

Zeltstadt Landvertriebener in der Hauptstadt Bogotá
Zeltstadt Landvertriebener in der Hauptstadt Bogotá

MG: Das ist die größte und erfolgreichste der unzähligen Lügen dieser Regierung. Doch der Krieg geht fort, er ist vielleicht sogar noch brutaler als zuvor, denn es geht um Ressourcen, um Minen, Wasser, die Produktionszentren des Kokains und die großen Agrar-Landflächen. Und dieser Krieg gleitet uns immer mehr aus den Händen, da er durch Profitinteressen internationaler Akteure angetrieben wird.

sg: Nennen Sie ein gegenwärtiges Beispiel für den Krieg um Ackerland?

MG: Massenhafte Vertreibungen gehen beispielsweise seit einiger Zeit im Pazifikdepartement Chocó vonstatten. Zuerst werden die Gemeinden von Paramilitärs vertrieben. Wer deren Drohungen nicht ernst nimmt, wird ermordet. Der Boden der Vertriebenen wird dann mit riesigen Monokulturen der Ölpalme bepflanzt. Die Regierung unterstützt diese Bepflanzungen aktiv mit Subventionsgeldern. Und wenn die vertriebenen Gemeinden auf Druck internationaler und kolumbianischer NRO doch zurückkehren können, sehen sie vollendenten Tatsachen ins Gesicht: Ihr Land ist mit Ölpalmen bepflanzt. Und durch Drohungen und Gewalt, werden sie dazu gezwungen, diese auch weiter anzubauen.

sg: Die Regierung unterstützt also die gewaltsame Konzentration von Land mit Steuergeldern?

Landwirtschaft in den Anden
Landwirtschaft in den Anden

MG: Das Niveau an Korruption wurde im vergangenen Jahr besonders deutlich an dem Skandal um ein Programm des Landwirtschaftsministeriums, das „Agro ingreso seguro“ (sicheres Agrareinkommen). Offiziell sollte dieses Programm Subventionsgelder an kleine Agrarerzeuger austeilen, die besonders negativ von den desaströsen Auswirkungen der Freihandelspolitik betroffen sind. Dann kam allerdings heraus, dass dieses Geld an Leute ausgezahlt wurde, die überhaupt nichts mit der Landwirtschaft zu tun haben, oder an Großgrundbesitzer und Lebensmittelproduzenten, die nun ganz bestimmt keine Subventionen benötigen. Abermillionen an Pesos wurden an die Klientel des Präsidenten ausgehändigt, um dessen Wiederwahl zu sichern. Entgegen der erfolgreichen Propaganda ist diese eine der korruptesten Regierungen, die wir in Kolumbien je hatten, und eine die Macht und Reichtum des Großgrundbesitzes weiter festigt und ausdehnt.

sg: Was setzen Sie dem entgegen?

MG: Notwendig ist eine weitreichende Neuverteilung des Landes. Sie käme nicht nur den kleinen Erzeugern zu Gute, sondern ist Voraussetzung für eine nachhaltige und ökologische Landwirtschaft. Auch ist sie Voraussetzung für die Erhaltung der Biodiversität. Sie könnte auch in Kolumbien unsere Ernährungssouveränität wiederherstellen. Um das zu erreichen, versuchen wir natürlich auch ein Umdenken bei den Verbrauchern zu erwirken: Lebensmodelle des schnellen Konsums, wie wir sie aus den Industrieländern importiert haben, sollten einem neuen Begriff von dem, was wirklich lebenswert ist, weichen. Wenn jedoch nicht in den reichen Ländern, wie dem Ihren, Maßnahmen ergriffen werden, die ungeheure Macht der Multis einer Kontrolle zu unterwerfen, stehen wir auf ziemlich verlorenem Posten.

Dieses Video der Diözese Quibdó zeigt, wie in Kolumbien Kleinbauern Vertreibung und Mord zum Opfer fallen, damit in den Industrieländern wie unserem Tanks mit pflanzlichem Öl gefüllt werden können (spanisch mit englischen Untertiteln).

Das Interview führte Joachim Jachnow.
Bildquellen in Reihenfolge: Damien Fellous; wikipedia (lizenzfrei); Joachim Jachnow (3)

Links zum Thema

  • Internetseite des Schweizer Hilfswerkes Swissaid zu Projekten in Kolumbien
  • Ein weiteres Video über die Ölpalme in Kolumbien zeigt auf ironische Weise die fatalen Auswirkungen des angeblich zukunftsträchtigen Wachstumsektors des Bio-Sprits (spanisch mit englischen Untertiteln).
  • Bericht des UN-Sonderberichterstatters, Olivier de Schutter, zum Recht auf Nahrung aus dem Jahr 2009 (mehrsprachig), der die Patentierung von Saatgut problematisiert.

Zur Person

Joachim Jachnow ist Chefredakteur von sciencegarden .

Kategorien

Themen: Biologie | Klimawandel | Politik
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