Hämophilie – Was tun, wenn das Blut nicht gerinnen kann?
Als Alexej Nikolajewitsch Romanow am 12. August 1904 im russischen Peterhof geboren wurde, hatten seine Eltern die Hoffnung, dass er ein ganz normales Leben führen würde. Doch der russische Kronprinz Alexej hatte häufig über mehrere Wochen hinweg blaue Flecken und so starke Schmerzen in den Gelenken, dass er das Bett nicht verlassen konnte. Er war Bluter.
Auch heute leben etwa 8000 Menschen mit Hämophilie in Deutschland. Ihnen fehlen Proteine im Blut, die für die Gerinnung zuständig sind.
Als Blutgerinnung bezeichnet man die Vernetzung verschiedener Proteine, mit deren Hilfe der Körper eine Wunde verschließt. Dabei beeinflussen sich die beteiligten Proteine untereinander.
Wichtig ist dabei zunächst das Protein Fibrin. Tritt Blut aus, legt es sich wie ein Netz über die Wunde und verschließt sie. Um ein Netz aus dem Fibrin zu flechten, benötigt der Körper weitere Proteine, die als Gerinnungsfaktoren bezeichnet werden. Kann der Körper einen Faktor nicht in ausreichenden Mengen produzieren, stört das den gesamten Gerinnungsprozess. Denn sobald ein Schritt nicht richtig ausgeführt wird, blockiert das die folgenden Schritte. Wunden können dann nur noch schwach oder gar nicht mehr verschlossen werden.
Eine Form der Blutgerinnungsstörung heißt Hämophilie. Es gibt Hämophilie A und Hämophilie B. Um welche Hämophilie es sich handelt, hängt davon ab, welcher Faktor im Blutplasma fehlt. Blutern mit Hämophilie A fehlt Faktor VIII, Blutern mit Hämophilie B Faktor IX.
Häufig werden auch Menschen als Bluter bezeichnet, deren Blutplättchen nicht richtig funktionieren. Die Blutplättchen haben jedoch nicht direkt etwas mit der Blutgerinnung zu tun. Sie sind vor allem wichtig für die Blutstillung. Dementsprechend unterscheiden sich die Symptome von Blutplättchenstörungen und Hämophilie. René Mahnel, Hämostaseologe aus Frankfurt, erklärt: „Im Gegensatz zu den Blutplättchenstörungen führen Gerinnungsstörungen hauptsächlich zu inneren Blutungen in Muskeln und Gelenken. Äußere Hämatome oder Schleimhautblutungen kommen bei der Hämophilie A und B kaum vor.“
Um Gelenkverletzungen zu verhindern, wurde Zarewitch Alexej auf großen Veranstaltungen stets von einem Matrosen getragen. Denn blutet es in Gelenke, ist das nicht nur sehr schmerzhaft, sondern schädigt den Bewegungsapparat dauerhaft: „Jedes Mal, wenn es in Gelenke hinein blutet, kommt es zu einer Entzündungsreaktion. Das verursacht Gelenkverschleiß, also Arthrose“, sagt Mahnel.
Von der Krankheit betroffen sind fast ausschließlich Männer. Das liegt daran, dass sie X- chromosomal rezessiv vererbt wird. Die Information, dass die entsprechenden Gerinnungsfaktoren gebildet werden sollen, liegt also auf dem X-Chromosom. Da Frauen zwei davon haben, kann das eine Chromosom den Fehler auf dem anderen ausgleichen. Männer hingegen haben nur ein X-Chromosom. Ist es fehlerhaft, müssen sie mit den Symptomen des Gendefekts leben.
Auch Kronprinz Alexej erbte die Krankheit von seiner Mutter. Ausgehend von Alexejs Urgroßmutter, der englischen Königin Victoria, wurde der Defekt auch in das Spanische Königs- und das Deutsche Kaiserhaus weitergegeben. Da es im 19. Jahrhundert noch keine wirksamen Therapien gab, kostete der Gendefekt einige Mitglieder der Adelsfamilien das Leben, weshalb er bis heute auch als „Krankheit der Könige“ bezeichnet wird.

Inzwischen ist es relativ einfach, die Symptome des Defekts zu behandeln: „Die Patienten spritzen sich den fehlenden Gerinnungsfaktor“, sagt Mahnel. Um das Risiko für Gelenkblutungen so gering wie möglich zu halten, wird das häufig prophylaktisch gemacht. Im Gegensatz zur Prophylaxe kann der Faktor bei schwachen Formen auch nur bei akuten Blutungen eingesetzt werden. Experten bezeichnen das als on demand-Behandlung. „Ob ein Patient prophylaktisch oder on demand behandelt werden muss und wie viel Faktor er braucht, ermittelt man aus Erfahrungswerten. Hat der Patient noch zu häufig Blutungen, muss er mehr Faktor bekommen“, erklärt Mahnel. „Zum Glück sind die Patienten meistens so gut sensibilisiert, dass sie selbst winzige Blutungen sehr schnell bemerken. Dann können sie direkt die fehlenden Faktoren spritzen, bevor es zu großen Entzündungen in den Gelenken kommt.“ Hat sich ein Patient schwer verletzt oder wurde er operiert, muss er auch an den folgenden Tagen zur Faktorspritze greifen. Sonst kann der Körper die Wunde nicht sicher verschließen. Das stört auch die Wundheilung.
Seit der Entwicklung von Faktorpräparaten in den 1960ern, wurden diese lange Zeit ausschließlich aus Spenderplasma hergestellt. In den 80er Jahren führte das zu einem Skandal: Da Krankheiten wie HIV und Hepatitis C noch wenig erforscht waren, wurden die Viren immer wieder durch das Plasma von Spendern auf Hämophile übertragen. Heute ist es möglich, die fehlenden Faktoren gentechnisch herzustellen, so dass man weitestgehend auf Plasmapräparate verzichtet.
Aber auch die synthetischen Präparate sind keine Allheilmittel. Wie auch bei den Plasmapräparaten, entwickelt der Körper bei Hämophilie A in bis zu 30 Prozent der Fälle Antikörper gegen den Faktor. Die Behandlung ist damit wirkungslos. „Die Antikörperbildung findet aber im Wesentlichen bei den ersten 50 bis 100 Injektionen statt. Später werden nur sehr selten noch Antikörper gebildet. Da die Krankheit angeboren ist, sind also meist Kinder betroffen“, berichtet Mahnel.
Schlagen die Faktoren nicht an, gibt es verschiedene Möglichkeiten: „Im Wesentlichen geht man mit immunhemmenden Medikamenten wie Cortison gegen die Abwehrreaktion des Körpers vor“, erklärt der Experte. Immunhemmer sind Stoffe, die die Aktivität des Immunsystems blockieren. So können sich keine Antikörper gegen die Faktoren bilden. „Wenn das auch nichts bringt, kann man statt des fehlenden Faktors auch Faktor VII geben. Durch ihn werden weitere Proteine aktiviert. Sind diese in ausreichender Menge vorhanden, kann das Blut trotz der fehlenden Faktoren gerinnen“, beschreibt er.
Zunächst vielversprechende Versuche zur Behandlung der Hämophilie durch Gentherapie konnten bislang nicht weiterentwickelt werden. In der Gentherapie versucht man die fehlerhaften Genabschnitte auf dem X-Chromosom durch richtige zu ersetzen. Dazu muss die korrekte DNA in die Zellen der Betroffenen gebracht werden. Meistens setzt man dazu Viren ein. In der Fachsprache werden diese DNA-Überbringer Vektoren genannt. Die Vektoren führen jedoch immer wieder zu Problemen. Einige klinische Studien mussten abgebrochen werden, weil der Verdacht aufkam, dass die Vektoren Tumore verursachen. „Die Vektoren sind ein generelles Problem bei allen Versuchen, Gentherapien zu entwickeln“, erklärt Mahnel. „Oft sind sie noch nicht sicher genug, um sie bedenkenlos beim Menschen einzusetzen.“ In anderen Studien kam es zu unerwarteten Reaktionen des Immunsystems der Patienten. Um das zu Umgehen versucht man zunehmend sogenannte Plasmide einzusetzen. Sie können keine Reaktion des Immunsystems hervorrufen, sind aber noch nicht effektiv genug um sie in der Gentherapie von Hämophilen einzusetzen. Bis zur Entwicklung einer sicheren und wirksamen Gentherapie müssen Hämophile also weiterhin mit den Faktorspritzen vorlieb nehmen.
Zur Person
Julia Merlot studiert Wissenschaftsjournalismus an der Hochschule Darmstadt und hat sich für das Projekt Wissenschaftsjournalismus mit dem Thema Hämophilie beschäftigt.