Pseudodemenz

Wenn das Gehirn nicht mehr so will wie früher, muss die Ursache keinen physischen Ursprung haben. Die so genannte Pseudodemenz ist ein Symptom, an dem unter Depressionen Erkrankte leiden. Es stört die Leistungsfähigkeit des Gehirns beträchtlich, bleibt aber oft lange unentdeckt, da nur Experten die Anzeichen erkennen.

Zurückhaltend, unter Fremden etwas unsicher. Aber durchaus hilfsbereit, humorvoll und gewissenhaft bei seiner Arbeit. Nur eine leichte Tendenz zum Perfektionismus: So beschreibt sich Christian B. (Name geändert) selbst. Nichts besonderes. Seine Probleme begannen schleichend. Schon in der Grundschule, erinnert er sich heute. In seinem Fall habe die Pseudodemenz als solche zunächst eine eher zweitrangige Rolle gespielt. Andere Probleme störten seine Leistung mehr. „In der Schule konnte ich meine Konzentrationsschwierigkeiten noch gut durch flüssiges Vorlesen verbergen“, erinnert sich Christian. Aber durch seine Unsicherheit unter Menschen – immer wenn viele Augen auf ihn gerichtet waren – verweigerte sein Gehirn ihm die volle kognitive Leistung. Was viele nur als Prüfungsangst kennen, das war für ihn ein Dauerzustand. Später plagten ihn auch erste Konzentrationsstörungen beim Lesen zu Hause. Es fiel ihm immer schwerer, sich den Inhalt eines Textes zu verinnerlichen. Wie automatisiert las er zwar Zeile für Zeile, seine Gedanken waren aber längst wo anders. Die ganze Wucht seiner Erkrankung traf ihn im Alter von 25 Jahren. Christian litt unter Depressionen und Angstzuständen, die ihn schließlich zur Aufgabe seines Studiums zwangen.

Der Zentralcampus im Frankfurter Westend
Mit Depressionen ist mehr verbunden als „miese Laune“

Geschichten wie seine gibt es viele. Nicht immer drängt dabei die Pseudodemenz in den Vordergrund. Meist spielt sie eine verborgene Rolle. Je nach Ausprägung kann sie aber zu einem wichtigen Protagonisten avancieren: Gedanken, die immer wieder kehren, die schon unzählige Male im Geiste durchgekaut wurden, aber trotzdem keinen Frieden finden, belasten die Psyche der Betroffenen. Das Grübeln über Vergangenheit, Gegenwart und vor allem die Zukunft zehrt an ihren kognitiven Ressourcen. So sehr, dass daneben kein klarer Gedanke möglich ist. Denkvorgänge ziehen sich wie Gummi oder reißen abrupt ab. Das eigene Gehirn scheint sich jedem Lernerfolg widersetzen zu wollen. Selbst das Merken einfachster Wichtigkeiten gerät zum Glücksfall. Denn für das Gehirn haben die Grübeleien höchste Priorität – die Pseudodemenz gibt es so vor.

TK-Studie: Studenten leiden immer häufiger unter Depressionen

Im Bezug auf Depressionen sind in jüngster Zeit Studenten vermehrt in das Blickfeld der Öffentlichkeit geraten. Unter anderem kam eine Erhebung der Techniker Krankenkasse zu dem Ergebnis, dass die Zahl jener, die sich zwischen 2004 und 2007 in psychotherapeutische Behandlung begeben haben, um 15 Prozent zunahm. Nach einer aktuellen Hochrechnung sind das insgesamt 90 000 Studenten pro Jahr. Da sich bei ihnen alles um die Aneignung von Wissen dreht, die Pseudodemenz dies aber verhindert, hat sie besonders deutliche Auswirkungen. Hinzu kommt, dass auch der Weg nach draußen gestört ist und eigentlich vorhandenes Wissen nicht abgerufen werden kann. Extreme Gedächtnislücken, Orientierungslosigkeit und Sprachstörungen plagen die Betroffenen, was sie oft mit „Fischen nach Worten“ beschreiben. Die eingeschränkte Fähigkeit sich zu artikulieren, führt beispielsweise dazu, dass Erkrankten beim Wiedergeben eines komplexen Sachverhalts der rote Faden fehlt. Sind sie sich der psychischen Ursache ihres Leidens nicht bewusst, kann sie das aus Selbstzweifeln noch tiefer in die Depressionen stürzen.

Der Zentralcampus im Frankfurter Westend
Die Pseudodemenz ist eines von vielen Symptomen von Depressionen, bisher aber kaum thematisiert

„Auch Misserfolge beim Studium können die Depressionen verschlimmern“, weiß Professor Hubertus Himmerich von der psychiatrischen Abteilung der Uniklinik Leipzig. Da er nicht nur praktizierender Mediziner sondern auch lehrender Professor ist, kennt er das Symptom Pseudodemenz sowohl von seinen Patienten als auch von seinen Studenten, die ihn bei auffälliger Lernschwäche um Rat fragen. „Oft berichten sie mir, dass sie sich bei Vorlesungen nicht mehr richtig konzentrieren können oder dass sie große Probleme beim Auswendiglernen haben.“ Ein eingehendes Gespräch mit dem Experten fördere dann oft Krisen zu Tage, unter denen die Psyche der Betroffenen leidet. Familiäre Probleme, Leistungsdruck, Prüfungsstress oder der Wegfall sozialer Kontakte auf Grund des zeitintensiven Studiums sind häufige Gründe.

„Menschen, die an Pseudodemenz leiden, antworten häufig mit ‚ich weiß nicht‘“, erzählt der Professor. Der Grund für derlei Aussagen liege darin begründet, dass Depressive ihr Nichtwissen eher in den Vordergrund stellen. Wo andere Menschen die Auffassung „das kann man doch mal vergessen“ vertreten, stehe für sie das Defizit als Teil ihrer allumfassenden negativen Sichtweise im Vordergrund. „Aufgrund des Vergessens, oft auch unwichtiger Details, tun sie so, als könnten sie gar nichts mehr“, so Himmerich. In solch heftig depressiven Phasen sei es dann sehr schwer, den Erkrankten Mut zu machen.

Psychologische Beratungsstellen können bei der Ursachenforschung helfen

Christian B ist seit einiger Zeit in einem Internetforum aktiv, in dem sich an Depressionen Erkrankte austauschen. „Die Hilfestellung von Laie zu Laie klappt ganz gut“, ist seine Erfahrung. Das sei im umgekehrten Fall, dem Verhältnis von Arzt zu Patient nicht selbstverständlich. In der Vergangenheit habe er wiederholt versucht, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Teils seien die Versuche daran gescheitert, dass er auf Grund seiner Angststörung und der Depressionssymptome kaum fähig war, sich verständlich zu machen. Angemessen entgegengekommen seien ihm seine Gegenüber allerdings auch nicht. „Keiner der konsultierten Fachleute wollte oder konnte mir adäquate Hilfe gewähren“, bemängelt er. Im Forum tauscht er sich mit Menschen aus, die ähnliche Leidenswege zu beklagen haben.

Im Internet gibt es mittlerweile viele solcher Plattformen, über die sich Betroffene finden und austauschen können. Teils unglaubliche Geschichten offenbaren User in ihren Profilen. In Bezug auf die Pseudodemenz ist meistens von vorher nie da gewesener Vergesslichkeit die Rede. In Foren, in denen viele Studenten verkehren, ist eines häufig zu lesen: „Ich dachte ich schaffe es alleine. Aber ich kann einfach nichts mehr lernen. Ich werde jetzt doch professionelle Hilfe suchen.“ Wenn Studenten diese Entscheidung treffen, dann landen sie nicht selten bei einer psychologischen Beratungsstelle.

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Kampf der Pseudodemenz heißt Kampf den Depressionen

Kathrin Wodraschke von der psychologischen Studentenberatung in Wien hat mit ihrem 15köpfigen Team pro Jahr circa 1400 so genannte Beratungskontakte, die auf Probleme durch Depressionen zurückzuführen sind. Dabei muss jedoch nicht immer die Pseudodemenz die Ursache für Lernschwierigkeiten sein. „Viele Auslöser kommen in Frage, wenn es mit dem Lernen nicht mehr so klappt wie früher“, weiß Wodraschke. Als erste Maßnahme biete sie den Studenten einen Konzentrationstest an. Wenn dieser keine Auffälligkeiten zeigt, bezieht Wodraschke andere Ursachen in die Suche mit ein. „Manche haben sich einfach das falsche Studienfach ausgesucht. Daraus hat sich eine abneigende Haltung entwickelt und die fehlende Motivation wirkt sich negativ auf die Leistungsfähigkeit aus“, so die Psychologin. Stellt sich jedoch heraus, dass die Pseudodemenz für die Lernschwierigkeiten verantwortlich ist und die betroffene Person demnach an Depressionen leidet, muss Wodraschke an einen Therapeuten verweisen. Anlaufstellen wie ihrer fehle für eine adäquate Therapie schlicht das Personal.

„Das Studium kann eine Belastung sein – aber auch eine wichtige Ressource“

Wenn Professor Himmerich solche Patienten überwiesen bekommt, versucht er gemeinsam mit ihnen eine Lösung zu finden. Dabei kann der Experte seinen Patienten aber auch nur bei der Abwägung helfen: „Die Entscheidung das Studium abzubrechen, müssen sie selbst treffen.“ Dazu könne es zum Beispiel kommen, wenn sich herausstellt, dass sie das Studium nur den Eltern zu Liebe begonnen haben, dann aber schnell überfordert waren. Andererseits könnten mit dem Abbruch auch wichtige soziale Kontakte verloren gehen. „Das Studium kann eine Belastung sein – aber auch eine wichtige Ressource“, so Himmerich. In letzter Konsequenz muss aber niemand mit einer Depressionen und deren Symptomen leben. „Es handelt sich ja nicht um ein unaufhaltsam fortschreitendes Leiden wie bei einer richtigen Demenz“, erklärt Himmerich. Bei einer erfolgreichen Therapie verschwindet auch die Pseudodemenz rückstandslos. Allerdings sei sie das Symptom, das sich am hartnäckigsten hält und als letztes abklingt. Umso wichtiger ist es, eine Depression von vornherein zu verhindern: „Kein Student sollte sich ausschließlich mit seinem Studium befassen“, rät Himmerich. Es sei wichtig Tätigkeiten beizubehalten, die Freude bereiten. Ein Hobby, also zum Beispiel Sport oder einfach nur mit Freunden treffen, ist ein essenzieller Ausgleich, schützt und lehrt das Gemüt, was Spaß ist. Denn auch die Seele kann vergessen, dass es Freude gibt.

Beitrag von Sebastian Faerber.
Bildquellen in Reihenfolge: Sebastian Faerber (3)

Zur Person

Sebastian Faerber ist freiberuflicher Journalist und Student.

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Themen: Biologie | Medizin | Psychologie
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