Europafunken
Von dem Philosophen Odo Marquardt stammt die Charakterisierung der am Bad Homburger Wingertsberg beheimateten Werner Reimers Stiftung als „weltoffenes Trüffelschwein“, in seinen Worten „ein arbeitsam fleißiges Wesen, das grabenderweise und mit fähiger Nase Kostbares sucht und findet, es dabei aber nicht selber frisst, sondern zu gutem Gebrauch es anderen überlässt.“ Freilich wusste Marquardt, dass sich am Wingertsberg keine Schweine tummeln, sondern Forscher, deren Sinn weniger nach Trüffeln steht, als nach Wissenschaftsfunden.
Werner Reimers Stiftung
Die Werner Reimers Stiftung wurde 1963 von dem im japanischen Yokohama geborenen und später in Bad Homburg lebenden Unternehmer Werner Reimers gegründet.
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Wertvolle wissenschaftliche Erkenntnisse versprach das Fachkolloquium „Aufarbeitung von Diktaturen im internationalen Vergleich – europäische Perspektiven, Forschung und Lehre“, zu dem sich am 20. Mai Wissenschaftler aus Universitäten, Forschungseinrichtungen und Stiftungen sowie Fachkräfte aus dem Schuldienst und Ministerialbeamte in der Werner Reimers Stiftung versammelten.
„In Zeiten der grenzenlosen Mobilität hat das Nachdenken über den Wechselbezug von öffentlichem Gedächtnis und Identitäten von Gemeinwesen besondere Bedeutung. Das führte mich zu der Frage, wie es um die Übertragung solcher Erinnerungsinhalte auf die nächste Generation bestellt ist, umso mehr als in der nachwachsenden Generation der Anteil an Menschen mit Zuwanderungsgeschichte stark zunimmt“, schilderte der Historiker und Romanist Albrecht von Kalnein, derzeit Non-Resident Fellow an der Werner Reimers Stiftung, seine Beweggründe, die Tagung ins Leben zu rufen. Basis und räumlichen Bezugsrahmen für seine Überlegungen bot dabei Europa und seine vielfältige Erfahrung mit totalitären Systemen.
Der Nachholbedarf der Europäischen Union in puncto gemeinsames Gedächtnis wurde bereits im Auftaktvortrag offenbar. Die Gestalter des europäischen Gedenkjahres 2009 hätten es versäumt, Impulse für eine Neudefinition europäischer Identität zu setzen, so Ulrich Mählert von der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Brüssel und Straßburg sei kaum mehr eingefallen, als Schillers „Freude“ in der zur Europa-Hymne erkorenen 9. Symphonie Beethovens auf den zentralen Gedenkfeiern ein weiteres Mal durch „Freiheit“ zu ersetzen.

Das 20jährige Jubiläum des „Jahres der Revolutionen“ 1989 verstrich auch deswegen ungenutzt, weil Freiheit als Bezugswert heute nur für die eine Hälfte Europas identitätsprägend ist. Den aktuellen Grenzverlauf für ein gemeinsames Geschichtsbild von „Ost“ und „West“ zeigte Katrin Hammerstein (Universität Heidelberg) auf. Zwar agiere die EU als um Aufarbeitung bemühter geschichtspolitischer Akteur. Konfliktpotential berge aber insbesondere die Gleichsetzung von nationalsozialistischer und kommunistischer Diktatur, wie sie etwa die „Entschließung zum Gewissen Europas“ des Europäischen Parlaments vom 30. März 2009 impliziert: Straßburg hatte vorgeschlagen, den 23. August in Erinnerung an die Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes 1939 zum gesamteuropäischen Gedenktag für alle Opfer des Totalitarismus zu erklären.
Die Referate zu Erinnerungskulturen auf nationaler Ebene zeigten, dass die Forderung nach einer „Trauerkultur für alle Opfer“ schon einzelne Mitgliedsstaaten vor Herausforderungen stellt. So hat sich in Italien erst in jüngerer Zeit eine Betrachtung der Jahre 1943-1945 als mit neuem Leid verbundener Bürgerkrieg durchgesetzt. Der Gründungsmythos der „Resistenza“ als „gesamtitalienischer Befreiungskampf“ unter Ausklammerung der Jahre 1922-1943 und Ausgliederung der faschistischen Republik von Salò (1943-45) als Fremdkörper des „nazi-fascismo“, sei heute nicht mehr unangefochten, so der Historiker Carsten Kretschmann (Universität Stuttgart). Von einer vergleichbar lebhaften Debatte über nationale Identität berichtete Ekaterina Makhotina vom Collegium Carolinum in München am Beispiel Litauens. Gerade im Vergleich zum großen Nachbarn Russland, wo noch heute kein Zentrum zum Gedenken der Opfer des Stalinismus existiere, finde in Litauen seit 1990 ein intensives Nachdenken darüber statt, wie ein gemeinsames staatsbürgerliches Verständnis von litauischen und russischstämmigen Bürgern entstehen könne.

Zusätzliche Impulse erfuhr das Fachkolloquium durch Beiträge aus der Aufarbeitungspraxis. Besonders aufschlussreich zum Status quo der wechselseitigen Wahrnehmung europäischer Identitäten war der Bericht von einem Besuch des ehemaligen Moltkeschen Gutshofs in Kreisau mit einer deutsch-polnischen Studentengruppe von Birgit Schwelling von der Forschungsgruppe „Geschichte und Gedächtnis“ an der Universität Konstanz. Während die polnischen Studierenden auf eine ungebrochene nationale Erinnerungskultur aus der „Wir“-Perspektive rekurrieren konnten, distanzierten sich die Teilnehmer aus Deutschland naheliegenderweise von der NS-Vergangenheit ihres Landes. Bezeichnend unbeholfen wirkt der Versuch einer Studentin, das Erinnerungsgefälle mit dem Vorschlag „Stellen wir uns doch vor, wir wären alle Japaner“ zu überbrücken.
Eine post-nationale Verortung als „Menschen in Europa“ mit empathischen Interesse an der jeweiligen Biografie, wie Ralf Possekel von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ sie vorschlug, scheint zugleich zukunftsträchtiger und zielführender im Hinblick auf eine gemeinsame Identität. Entscheidend, so Possekel, sei das Bewusstsein dafür, dass die gewonnene Freiheit in Deutschland wie in Europa weiterhin prekär ist.
Über den begrenzten Wert von Freiheit als einender „Gründungsmythos“ für Europa waren sich die Teilnehmer einig. Der insbesondere von den akademischen Vertretern vorgebrachten Scheu vor einer verordneten Erinnerungspolitik ex machina europaea, hielten die Aufarbeitungsmanager der auf diesem Gebiet führenden Stiftungen entgegen, dass kollektives Erinnern pädagogischer Begleitung bedürfe. Die Bedeutung des gemeinsamen Gedächtnisses für Europa betonte schließlich auch Albrecht von Kalnein in seiner Nachlese: „Fälle wie der Griechenlands vom Frühjahr 2010 zeigen, dass wir eine Debatte über das Selbstverständnis der Europäischen Union jenseits von Währung und Wohlstand bitter nötig haben. Wenn wir wollen, dass Europa Gestalt annimmt als Teil unserer politischen Identität, dann müssen wir auch über ein europäisches Bürgerverständnis nachdenken. Politische Identität und Zukunftsentwürfe aber brauchen, wie wir seit Ernest Renan wissen, gemeinsames Erinnern.“
Hierfür wird es jedoch einer Rückbesinnung auf Grundvoraussetzungen politischer Identität aus der Zeit nach der Überwindung der Totalitarismen bedürfen. Die ehemalige Hessische Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst erinnerte in diesem Zusammenhang an die klar umrissenen Vorstellungen von der Unantastbarkeit der menschlichen Würde und der Widerstandsfähigkeit des Bürgers gegen Diktatur, wie sie noch die Hessische Verfassung von 1946 zum Ausdruck bringt: dort wird der Widerstand gegen staatlich ausgeübte öffentliche Gewalt zu „jedermanns Recht und Pflicht“ erklärt. Dieses Werteverständnis gilt es, an die nachfolgende Generation zu vermitteln.
Als Ergebnis bleibt festzuhalten, dass die Ausgangsthese des Kolloquiums erste empirische Untermauerung fand: die Beschäftigung mit Diktaturen und deren Überwindung scheint ein Ansatz für ein gemeinsames europäisches Gedächtnis zu sein. Zuversichtlich stimmte darüber hinaus die bewusste Berücksichtigung von Nachwuchswissenschaftlern bei der Auswahl der Referenten und der Besetzung des Plenums. Die Einladungspolitik zielte auf eine unbequeme akademische Realität in Deutschland: „Junge Leute können strahlen, wenn sie Platz erhalten und sie sprechen freier, wenn keine Platzhirsche der Wissenschaft anwesend sind. Das bestätigt implizit die Annahme, dass es in deutschen Universitäten immer noch eine stille Hierarchie gibt, die junge Leute allzu oft zu stumm sein lässt“, so von Kalnein.
Eine Fortsetzung der Diskussion auf dem akademischen Trüffelfeld am Wingertsberg ist für das kommende Wintersemester in Form einer Ringvorlesung angekündigt: am 28. Oktober spricht der Kunstkritiker und FAZ-Feuilletonist Eduard Beaucamp über Aufarbeitung in der Kunst, am 30. November kommt mit Joachim Gauck eine der gewichtigsten deutsch-deutschen Stimmen der Gegenwart zu Wort, für Januar ist ein Konzert des Klenke Quartetts mit Werken verfolgter Komponisten geplant, am 10. Februar 2011 schließlich hält die führende Expertin für kulturelles Gedächtnis, die Konstanzer Kulturanthropologin Aleyda Assmann einen Vortrag. Die Publikation der Vorträge des Kolloquium und der Ringvorlesung soll am 17. Juni 2011 in Berlin vorgestellt werden.
Zu hoffen steht, dass sich eine der auf dem Kolloquium vertretenen Stiftungen der Thematik annimmt: noch fehlt in Europa der Think Tank, der auf dem Feld der Identitätsstiftung in eine gemeinsame Zukunft voraus denkt. Solange Brüssel hier blass bleibt, wird auch der Freude-Funken darüber nicht überspringen, dass wir in einem Europa der Freundschaft leben, in dem zwischen Reichstag und Élysée-Palast keine Panzer mehr rollen werden. Stellen wir uns doch vor, wir wären alle Europäer – dann könnte es ein Götterfunken werden.
Links zum Thema
- Website der Werner Reimers Stiftung
Zur Person
Moritz Trebeljahr ist Redakteur von sciencegarden .