Philosophischer Brocken
Wer im digitalen Zeitalter ein mehrbändiges Lexikon drucken lässt, muss entweder verstockt oder verrückt sein, wahrscheinlich beides auf einmal. E-Learning und neue Medien haben die spätmoderne Bildungslandschaft inzwischen derart umgepflügt, dass künftig – so pfeifen es schon die studienbewehrten Spatzen von den Dächern sozialwissenschaftlicher Forschungsinstitute – kaum ein Student mehr ins Bücherregal greifen wird. Die Bologna-Reform tut dazu ihr Übriges. Eng getaktete Stundenpläne und modularisierte Lehrveranstaltungen lassen keinen Raum mehr für langwierige Lektüre. Wikipedia, Hausarbeiten.de und andere elektronische Informationsdealer machen die einst zeitraubende Arbeit in Bibliotheken, an Referaten und Magister-Thesen bolognakompatibel – „Copy & Paste“ sei Dank! Und seit Apples MacBook zu den studentischen Must-haves nicht nur an elitären Kunstakademien, sondern praktisch jeder Massenuniversität gehört, will sich niemand mehr den Zauberberg oder Karl Marx’ Kapital aus Papier in den Rucksack stopfen. Spätestens beim übernächsten Umzug – und der ist für die Generation Praktikum garantiert nicht der letzte – kühlt die mäßig temperierte Liebe zur Gesamtausgabe dann endgültig ab. Für dauerflexible Arbeitsnomaden ist jeder zusätzliche Regalmeter eine veritable Mobilitätsbremse.
Die Wissenschaftliche Buchgesellschaft aus Darmstadt hat auf diesen Trend bereits reagiert und die letzten, in der Tat recht wuchtigen, Exemplare des berühmten Historischen Wörterbuchs der Philosophie abverkauft. Jetzt serviert sie das geisteswissenschaftliche Juwel konsequent auf DVD. Von den ursprünglich zehn Bänden ist, wie ein verirrter Saurier, nur noch das Register übriggeblieben. Fast im Gegenzug wartet der für seine philosophischen Klassikertexte bekannte Hamburger Meiner-Verlag nun mit einer Neuerscheinung auf, die bis in die Ausstattung hinein anachronistischer kaum sein könnte: Drei Bände Quartformat, dezent strukturiertes Halbleder und lindgrünes Leinen im Schuber verleihen den 3.247 Seiten der gründlich überarbeiteten und immer noch von Hans-Jörg Sandkühler herausgegebenen Enzyklopädie Philosophie die nötige bildungsbürgerliche Gravitation.
Ja, sind die denn übergeschnappt?! Mit einem solchen Brocken wollen neue Lesergenerationen sich trotz beigefügter CD-ROM wohl kaum beschweren. Doch das wäre ein Fehler. Denn der Editor und sein Team haben ganze Arbeit geleistet. Herausgekommen ist ein Nachschlagewerk, das nicht nur gewichtig, sondern vor allem verblüffend frisch ist.
Schnöde Werkzeuge für die Kärrnerarbeit im geisteswissenschaftlichen Weinberg der Wissenschaften, gelten Lexika bekanntlich nicht gerade als besonders attraktiv. Die Lektüre dieses Exemplars jedoch macht richtiggehend Freude! Wer sich durch die oft gestelzten, meist abstrakten und nicht immer hilfreichen, geschweige denn inspirierenden Einträge so mancher renommierter Enzyklopädien gekämpft hat, wird den Stil der Sandkühlerschen schätzen lernen. Die Sprache ist elaboriert, aber nicht verkünstelt, auf der Höhe ihres Gegenstands und trotzdem auch für Nicht-Experten verständlich. Dabei bilden die drei Bände das ganze Spektrum akademischen Philosophierens und Schreibens ab. Rund 300 Autorinnen und Autoren haben dazu einen Beitrag geleistet, der die Meiner-Enzyklopädie zu einem echten Arbeits- und Forschungs(hilfs)mittel macht. Die Vielfalt disziplinärer Zugänge und Schreibstile empfehlen die drei Bände ebenso zur Anschaffung wie der Mut des Herausgebers, Raum für individuelle Schwerpunkte zu gewähren und editorische Vorgaben – den Gegenständen angemessen – großzügig auszulegen.
So umfasst beispielsweise der historisch breit angelegte Eintrag „Sein/Seiendes“ erwartungsgemäß rund 15 zweispaltig gesetzte Seiten. Immerhin ganze 6 sind für den Totalitarismus-Begriff vorgesehen. Viele Einträge sind neu hinzugekommen. Die aktuelle Version der Meiner-Enzyklopädie ist um die Hälfte umfangreicher als die alte und bietet nun beispielsweise Lemmata zu aktuellen Themen wie Aggression, Gehirn und Geist, Globalisierung, Migration, Nachhaltigkeit, Sterbehilfe oder Weltstaat. Auch der von einem Rezensenten der ersten, damals noch zweibändigen, Auflage bemängelte fehlende Artikel über Zynismus ist inzwischen vorhanden.
Wie in der ersten Ausgabe beginnt jeder Eintrag zunächst mit einem knappen Rekurs auf die jeweilige Begriffsverwendung in Alltag und Wissenschaft, bietet jedoch – mit Absicht – keine abgeschlossene Definition. Denn das Meiner-Werk will kein bloßes Konversationslexikon und kein Fußnotenlieferant sein, sondern einen eigenen Beitrag zur Forschungsdiskussion leisten. Gewiss muss man daher einen Teil dessen, was man bei Sandkühler sucht, vorher schon gefunden haben. Die Edition ist kein Nachschlagewerk. Ihr Reiz liegt im enzyklopädischen Konzept, der selektiven Mischung aus begriffshistorischem und systematischem, forschungsanleitendem Wissen. Den Kern der Einträge bildet daher ein jeweils sachorientiert gegliederter begriffs- und problemgeschichtlicher Kommentar mit einführendem Charakter, aber systematischem Anspruch und aktuellem Forschungsbezug; wie üblich abgerundet durch weiterführende Literaturhinweise (die leider immer noch sehr leserunfreundlich präsentiert werden).
Band drei enthält darüber hinaus ein umfangreiches Stichwort- und Personenverzeichnis sowie ein Personen- und Sachregister, dessen Vorzüge sich jedoch erst in der elektronischen Fassung auf der mitgelieferten CD-ROM voll entfalten. Einmal installiert, lassen sich dann nicht nur elektronische Anmerkungen und Lesezeichen anlegen, sondern auch Querverweise anzeigen oder – per Index- und Volltextsuche mit Operatoren – sämtliche Einträge erschließen und mit Hilfe einer eigenen Textverarbeitung sowie umfangreicher Kontextmenüs spielend weiterverarbeiten. Gibt man in der Adhoc-Suche beispielsweise Totalitarismus ein, wird man zugleich auf weitere Fundstellen unter Staat/Staatsformen, Diktatur, Pluralismus, Utopie, Demokratie, Macht/Herrschaft/Gewalt und Sozialphilosophie verwiesen, die man dann wiederum mit bibliophilem Genuss in den Quartbänden nachschlagen kann.
Aktuelle Studien zum Umgang mit neuen Medien belegen übrigens, dass selbst rundum digitalisierte Jungakademiker nicht auf Bücher verzichten wollen, weil die sich überall hin mitnehmen, anfassen und vollkritzeln lassen – und keinen Akku haben, der im unpassenden Moment den Geist aufgibt. Die drei Bände der Enzyklopädie Philosophie lassen sich gewiss in keinem Rucksack unterbringen, sind aber ein Schmuck für jedes Studentenregal (vom lieblos grauen, unhandlichen Pappschuber einmal abgesehen). Und fürs MacBook gibt’s ja außerdem noch die CD-ROM.
3.247 Seiten. Drei Bände (Format 18,5 x 27,5 cm) im Schuber mit einer CD-ROM. Subskriptions-Preis bis 31. Dezember 278,- Euro, danach 348,-.
Zur Person
Christian Dries ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Redakteur von sciencegarden.