Sonnenuntergang?

Wohnviertel: gar nicht trostlos Das „Land der aufgehenden Sonne“ bleibt für den westlichen Beobachter auch heute undurchdringlich. Das englischsprachige Sachbuch „Shutting out the Sun“ nimmt sich mit den Hikkikomori – jugendlichen Einsiedlern – einem hierzulande weitgehend unbekannten Phänomen an.

Hikkikomori: Das sind junge, oft sehr intelligente, mit feinen Antennen ausgestattete und überwiegend (ca. 80 Prozent) männliche Japaner, die es in der Gesellschaft einfach nicht mehr aushalten. Von Mitschülern gemobbt und von Lehrern alles andere als unterstützt, verlassen sie monate-, manchmal jahrelang nicht ihre meist winzigen Zimmer. Michael Zielenziger hat sich dieses Gegenstandes angenommen und zahlreiche Experten interviewt. Denen zufolge sind die Hikkikomori ein rein japanisches Phänomen. Grund genug für den Autor, an ihrem Beispiel der Eigenartigkeit der Japaner ingesamt nachspüren zu wollen. Einer Eigenartigkeit, die das Inselvolk oft auch selbst für sich mit Stolz in Anspruch nimmt.

Gesichtwahrung
Gesichtwahrung findet sich bei allen Völkern und auch interkulturell in der zwischenmenschlichen Kommunikation. Der Begriff wurde als „Imagepflege“ (en. „face work“) von dem kanadischen Soziologen und Ethnologen Erving Goffman geprägt.
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In seinen Hikkikomori-Gegenüber stößt der Autor, langjähriger Ostasien-Korrespondent der Knight-Ridder-Zeitungsgruppe, in der Tat auf viel typisch Japanisches. Als sehr zerbrechlich, aber auch reflektiert schildert er diese jungen Menschen, und beschreibt mit viel Empathie ihr Drama in der japanischen Gesellschaft. Diese stellt gruppenkonformes Verhalten weit über individuelles Wohlbefinden. Entsprechend ist das Verhalten der Mitmenschen geprägt von „tatemae“, dem sozialen Spiel der Gesichtswahrung (s. Infokasten). Wer es, wie viele der Hikkikomori, durchschaut, sieht die Mimik seiner Mitmenschen als Maske, und fühlt sich überwältigt von innerer Leere und gesellschaftlicher Bedeutungslosigkeit. Letztere wiegt umso schwerer, als die Garantie, im Tausch für harte Arbeit und Konformität materiellen Wohlstand zu erhalten, seit den 1990er-Jahren auch in Japan schwieriger zu bekommen ist. Dennoch klammert sich der gesellschaftliche Mainstream wohl so sehr wie in keinem anderen Land an Wachstum, Wohlstand und Konsum. Das bemerkt selbst der weniger aufmerksame Besucher beim Besuch in einer x-beliebigen Innenstand oder Mall schnell. Gleichzeitig gibt es keine heiligen Orte, an denen das Leitmotiv Konsum vollständig durchbrochen würde: In Tempeln werden Weihrauch und Votivtafeln neben Souvenirs verkauft, und wahrscheinlich wissen selbst die Einheimischen nie so richtig, ob sie sich gerade auf Pilgerfahrt oder auf einem Sightseeing-Trip befinden.

All das wäre eher exotisch als schlimm, würde nicht gleichzeitig der Gruppenkonsens zum höchsten Gut erhoben. Wem es nämlich schwerfällt, das soziale Spiel des „tatemae“ erfolgreich mitzuspielen, wird oft Opfer von Ausgrenzung. Das entsprechende Verhalten einer Gruppe bezeichnet man in Japan als „ijime“. Dabei handelt es sich aus Sicht der Allgemeinheit nicht etwa um eine Ungehörigkeit an der Grenze zum Kriminellen wie sein westliches Pendant, das Mobbing. Vielmehr wird ijime als legitimer Weg angesehen, ein Individuum der Gruppe gefügig zu machen und so gewissermaßen ein verlorenes Schaf wieder in die Herde einzubinden. Nicht selten unterstützen Erzieher und Lehrer daher auch das „Bearbeiten“ von Außenseitern mit Gruppendruck. Einige Eltern von Hikkikomori berichten in Zielenzigers Buch, ihre Beschwerden, das eigene Kind werde ausgegrenzt, seien in der Schule auf Ignoranz gestoßen. Nach einem Schulwechsel erzählen ehemalige Lehrkräfte häufig den Kollegen an der neuen Schule von der Außenseiter-Vergangenheit eines Jugendlichen – aus westlicher Perspektive in zweifelhafter Absicht. So erhält das „Opfer“ ein Stigma, vor dem es kein Entrinnen gibt. Im schlimmsten Fall sehen die Betroffenen als Ausweg dann nur noch den totalen Rückzug in sich selbst – ein Dasein als Hikkikomori.

Sonnenuntergang?
Sonnenuntergang?

Ein weitere Besonderheit der japanischen Kultur, „amae“, ermöglicht es, dass die totale Zurückgezogenheit von Jugendlichen über lange Phasen aufrechterhalten werden kann. Amae bezeichnet eine extrem enge Beziehung zwischen zwei Menschen, Mutter und Kind, aber beispielsweise auch zwischen Vorgesetzen und Untergebenen. Der Begriff geht auf die Vorstellung zurück, dass hilfsbedürftige Gesellschaftsmitglieder ein Recht darauf haben, Fürsorge durch zur Schau gestellte Hilflosigkeit oder auch Trotz einzufordern - und auch zu erhalten. Demgegenüber steht der extrem geringe Status der neu verheirateten Frau, die bis zur Geburt des ersten Sohnes in der Hierarchie ihrer angeheirateten Familie ganz unten steht.

Dieses traditionelle Muster wird von den Rahmenbedingungen der aktuellen japanischen Erwerbsgesellschaft weiter befeuert. Die berühmt-berüchtigte Lebenszeitstellung in japanischen Unternehmen verlangt vom Arbeitnehmer, dem Ehemann, auch einen Großteil seiner Freizeit im Kollegenkreis zu verbringen. Dies führt dazu, dass Ehefrauen und Mütter beim ersten Kind die eigene Karriere ad acta legen müssen. Gleichzeitig verlagert sich auch der Druck, den schulischen Erfolg des Nachwuchses sicherzustellen, auf ihre Schultern. Ein Hikkikomori-Kind bietet in dieser Konstellation die Möglichkeit, gebraucht zu werden und so das eigene Ansehen bei der Familie (des Mannes) zu steigern. Allerdings ist diese innerfamiliäre Karrierechance teuer erkauft. Denn auch auf der Familie lastet eine Form gesellschaftlichen Konformitätsdrucks. Sie bekommt „sekentei“ in der Nachbarschaft zu spüren. Zielenziger beschreibt dieses Verhalten als verurteilende Blicke und berichtet schaudernd davon, wie schlimm Japaner stieren und starren könnten. Ständige Beobachtung am Rande der systematischen Observierung und schließlich bewusstes Ignorieren zeigen der betroffenen Familie, dass ihr Problem inakzeptabel und unerwünscht ist. Sekentei trägt maßgeblich dazu bei, dass betroffene Familien Hilfe von außen nur ungern annehmen und schon gar nicht aktiv einfordern. Folgerichtig bietet keine andere entwickelte Gesellschaft so wenig Hilfsangebote für familiäre und psychische Probleme wie Japan!

Shintô-Schrein: Zwischen Tourismus und Gebet
Shintô-Schrein: Zwischen Tourismus und Gebet

Wenn die „Hikkikomori“ in Zielenzigers Buch vom „Ausgefrorenwerden“ in der Schulklasse, den kalte Blicken der Nachbarn und der geringen Hoffnung auf eine neue Chance im Schul- oder Erwerbsleben sprechen, offenbart dies einen düsteren Winkel der japanischen Gesellschaft. Es ist wohl auch kein Zufall, dass ausgerechnet die japanische Sprache ein illustres Vokabular für alle Formen der Konformität, der Abhängigkeit und des Gefügigmachens besitzt. Autor Zielenziger findet ein treffendes Bild dieser Gesellschaft und ihrer Sozialmechanik, wenn er sie einen „Topf voller Kraken, in dem jeder Arm der eigene sein könnte und nur deshalb nicht gebissen wird“, nennt. An der Oberfläche garantiert der Schein der Harmonie den reibungslosen Ablauf des täglichen Lebens, darunter herrscht eine qualvolle soziale Enge, die kaum Platz für Individualität, geschweige denn Gefühle, lässt.

Mit dem Hikkikomori-Problem als Blaupause beschreibt Autor Michael Zielenziger in seinem Buch weitere Krisensymptome der japanischen Gesellschaft, die er auf dieselben kulturellen Eigenarten: Gruppenorientierung, Anpassungsdruck, Erfolgsstreben zurückführt. Alltäglich ist etwa der freizügige – übrigens seinerseits in Rituale eingebundene – Umgang mit Alkohol. Im Kollegenkreis bieten regelmäßige Trinkgelage die Chance, im Schutz des Vollrausches einmal eine eigene, abweichende Meinung zu äußern. Abgesehen davon würde eine Nicht-Teilnahme dem Vernehmen nach der Karriere schaden. Teenager kleiden sich nach dem Abstreifen der unumgänglichen Schuluniform in verrückten Moden, die nirgends so schnell wechseln wie in Tokyo. Wenige Jahre später sind es Designerwaren, die einen Hauch Individualität verleihen und den Selbstwert steigern sollen.

Wie hart es gerade für exponiertere Persönlichkeiten ist, einen eigenen Standpunkt zu vertreten, belegen Zielenzigers Recherchen unter hochqualifizierter Experten und Personen des öffentlichen Lebens: Ein Kabinettsmitglied zeigt sich enttäuscht von der nicht vorhandenen Konfliktkultur der Regierungskreise, wo er schließlich Opfer von „ijime“ wird. Ein Psychiater, der sich im Gesundheitsministerium jahrelang für westliche Behandlungsansätze stark gemacht hat, unterliegt schließlich den körperlichen Folgen jahrelangen Mobbings. Die Fachleute und engagierten Laien, die sich lange vor der offiziellen – und beschwichtigenden – Anerkennung des Syndroms für die Hikkikomori einsetzten, bezeichnen sich selbst als „lunatics“, „Irre“. „Ich sehe das als eine Ehre an“, kommentiert eine von ihnen, „denn in Japan als irre bezeichnet zu werden heißt, dass man wirklich gute, innovative Arbeit leistet.“

Innenstand vonTokyo: Wachstum, Wohlstand und Konsum
Innenstand vonTokyo: Wachstum, Wohlstand und Konsum

Zielenziger fährt in seiner Darlegung der japanischen Verhätnisse fort, indem er das Desinteresse für Politik und das extrem geringe gesellschaftliche Engagement im Land mit der Veränderungsunfähigkeit der führenden Schichten in Verbindung bringt. Auch willige Mitglieder von Regierungs- und Expertenkreisen sind derart im Netz gesellschaftlicher Zwänge gefangen, dass es einen Weg zu echten Reformen nicht zu geben scheint. Ähnliches diagnostiziert er für die Wirtschaft. Seit 1991 mit kurzen Unterbrechungen in der Krise steckend, unterliege sie derselben Übervorsicht wie der Krake, der es nicht wagt, einen Arm abzureißen, aus Angst, es sei der eigene. Angesichts vertikal integrierter Riesenunternehmen, mächtiger Bankennetzwerke und mannigfacher Verbandelungen zwischen Staat und Wirtschaft sicherlich eine vertretbare These.

Würde der Autor an dieser Stelle aufhören, er hätte die heutige japanische Gesellschaft markant porträtiert und die ihr unterliegenden kulturellen Werte für westliche Denkmuster plastisch dargestellt. Leider ergeht sich Michael Zielenziger ab ungefähr der Mitte des Buches in unsäglichen Vergleichen mit den USA. Dabei stilisiert er den Westen zum Hüter des allein seligmachenden Weges. So macht er das Christentum zum glanzvollen Gegenstück all dessen, was er an Japan kritisiert: Der Monotheismus sei Garant eines gesunden Individualismus‘ gegenüber einem extremen Anpassungsdruck, ein einziger Gott als höhere Instanz fördere soziales Verantwortungsgefühl und wirke dem uneingeschränkten Materialismus entgegen. Zum guten Schluss kommt dann noch der Messias Pfizer auf die Bühne, der mit seiner – zumindest für den deutschen Geschmack – hinterlistigen Werbekampagne für das Antidepressivum „Prozac“ in Japan ein kulturell zurückgebliebenes und vom eigenen politisch-gesellschaftlichen Komplex unterdrücktes Volk ans Licht geführt hat.

Es bedarf keiner besonderen sozialwissenschaftlichen Vorbildung, um zu wissen, dass auch die USA, Deutschland und der Rest des „Westens“ gesellschaftliche und wirtschaftliche Probleme mit sich herumschleppen. Ein Verweis darauf, dass sich seine Japan-Analyse auf Extrembeispiele stützt und so die Darstellung verzerrt, hätte Michael Zielenzigers Buch bereits viel Gutes getan. Hätte er danach das scharfe Seziermesser westlicher Rationalität auch noch zumindest ansatzweise auf sich selbst angewandt, er hätte seiner hellsichtigen Analyse die intellektuelle Krone aufgesetzt. Zumindest aber hätte er bemerkt, dass japanische Städte und Wohnvororte im Vergleich zu seinem Herkunftsland USA weder trostlos sind, noch zwangsläufig zu Arbeitssucht, Sozialneurosen und Suizid führen. So bleibt der bittere Beigeschmack einer hochnäsigen Abrechnung mit Japan. Und die verpasste Chance, aus dessen guten Seiten selbst etwas zu lernen.

Beitrag von Christiane Zehrer
Bildquellen in Reihenfolge: Christiane Zehrer

Zur Person

Christiane Zehrer ist Redakteurin von sciencegarden und forschte im Herbst 2010 zwei Monate mit einem DAAD-Stipendium an der Shizuoka University in Japan.

Literatur

  • Zielenziger, Michael (2007): Shutting out the Sun. New York.

Kategorien

Themen: Ausland | Gesellschaft | Japan | Kultur | Soziologie
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