Jetzt kommen die Kinder

Kommilitonen werden „Mitschüler“ genannt, die Universität auch manchmal „Schule“: Das Durchschnittsalter in den Masterstudiengängen sinkt. Dass die Beschleunigung des Studiums ungute Folgen hat, zeigt sich inzwischen deutlich.

An den Hochschulen werden sich in Zukunft nicht nur immer mehr, sondern auch immer jüngere Studierende einschreiben. Die frühe Einschulung, das verkürzte Abitur (G8), Fachabiturienten nach verkürzten Ausbildungen und der Wegfall von Zivil- und Wehrdienst beschleunigen die Karriere im Bildungssystem. In den Bachelor-Studiengängen verändert sich daher die Lehrkultur, aber inzwischen sind auch die Masterstudiengänge betroffen.

Absolventen dieser forschungsorientierten, „höheren“ Studiengänge sind zum Teil jünger als 25 Jahre. Das liest sich zwar wie eine frohe Botschaft, war es doch das Ziel der Hochschulreform, die Studienzeiten zu verkürzen. Aber die Beschleunigung verändert die universitäre Lehrkultur, und sie führt zunehmend zu Konflikten.

Im Unterschied zur Schule folgt die Universität der Idee, dass Lehrende und Lernende eine Gemeinschaft Erwachsener bilden, die zusammen ein Thema befragen und erschließen. Der Orientierungsüberschuss der Lehrenden bezieht sich auf das Fachwissen oder Feldkenntnisse und weniger auf die entwicklungspsychologische Reife. Wissens- und nicht Rollenhierarchien sind Kennzeichen der Universität. Bestenfalls arbeitet man auf Augenhöhe und etabliert eine Kultur gemeinsamen „forschenden Lernens“.

Der Lärmpegel ist enorm

Die jungen Masterstudenten sind aber sozialisiert durch die Schule, durch verschulte BA-Studiengänge, und ihnen fehlt oft jede ernsthafte Erfahrung mit der real existierenden Arbeitswelt. Sie wohnen noch im Kinderzimmer bei den Eltern, auch aus finanziellen Gründen. Viele Entwicklungskrisen des jungen Erwachsenenalters liegen noch vor ihnen. Um einen der begehrten Studienplätze in den Masterstudiengängen zu erreichen, spielen oft die Noten eine entscheidende Rolle - damit werden Wagnisse im BA-Studium strukturell verhindert. Erfahrung ist hier also Anpassungserfahrung und dies unter Zeitdruck. Studierende haben eine große Sensibilität, wenn es um das Erkennen der Notenvergabepraxis geht. Es reicht ein Blick auf die Notenlisten, um zu sehen, bei welchem Dozenten einem „nichts passieren“ kann.

In den höheren Studiengängen werden dann zwar nichtschulische Anforderungen an die Studenten gestellt, aber paradoxer Weise sind die Strukturen der Masterstudiengänge oft sehr viel schulischer als im BA-Studium. Sie sind oft klein und bieten die typische Gruppengröße einer Schulkasse. Studiert wird im Klassenverband und nach Stundenplan, dies provoziert schulische Verhaltensweisen: Man sitzt immer auf dem gleichen Platz, viele am liebsten in der letzten Reihe. Es ist überaus irritierend: Erst in den Masterstudiengängen werden die Lehrenden fachlich stärker gefordert, und sie sind daher oft motivierter, aber sie finden sich vor einer kaugummikauenden, lauten Schulklasse wieder. Junge Mädchen spielen mit ihrem iPhone, Zettelchen werden geschrieben und durch den Raum geschickt. Die Jungs surfen im Facebook. Die Dozenten bekommen Spitznamen. Der Lärmpegel ist manchmal enorm, das „Blaumachen“ fest etabliert, wer sich zu oft meldet, wird ab und zu als Streber beschimpft.

Können Sie mich bitte duzen?

Aber auch an vielen kleinen Zeichen ist zu erkennen, dass sich inzwischen selbst ein Teil der Masterstudierenden in der Schülerrolle einrichtet. Es gibt klare Rollenerwartungen an die Dozentenschaft, die auf ihre Aufsichts- und Sanktionspflicht hingewiesen wird, die Gnade vor Recht ergehen lassen soll und der die Aufgabe zugewiesen wird, die Klasse zu bändigen, zu motivieren und mit Lehrmaterial zu versorgen. Es wird attribuiert wie in der Schule: Für schlechte Leistungen ist der Dozent, für gute der Student verantwortlich. Auch kommunikativ zeigen sich Schülersehnsüchte. Einige wollen von den Dozenten gern geduzt werden, aber Siezen natürlich ihren „Lehrer“. Kommilitonen werden „Mitschüler“ genannt, die Universität auch manchmal „Schule“; statt von Männern und Frauen zu sprechen, sagen viele durchgängig „Mädchen und Jungen“. Die Mails beginnen mit der Anrede „Sehr geehrter Herr Dr.“ und schließen mit „Lieben Gruß, Anja“.

Anpassung steht hoch im Kurs, aber die Aufforderung, selbständig zu arbeiten, erzeugt oft unverhältnismäßige Ängste. In der Evaluation werden Dozenten nicht selten dafür bestraft, weil sie Studierende dazu zwingen, selbst ein Thema für die Hausarbeit zu wählen und sich selbst die Literatur zu suchen. Selbstorganisationszumutungen werden als Selbstorganisationsüberforderung erlebt, weil die Schülerrolle sehr viel passiver definiert ist als die eines Studenten. Dozenten behandeln (spätestens) in den Masterstudiengängen die Studierenden aber erst einmal als Erwachsene, oft zum Leidwesen ihrer „Schüler“.
Aus Sicht der Hochschullehre ärgerlich

In den Masterstudiengängen finden sich natürlich auch solche, die etwas älter sind und ihre Lebens- und Berufserfahrung zurück an die Hochschule bringen. Sie sind eine große Bereicherung - aber sie erzeugen eine Heterogenität der Gruppe, auf die didaktisch kaum reagiert werden kann. Zwischen diesen Studenten und denen, die lieber Schüler bleiben wollen, kommt es schnell zu Konflikten. Während die einen wissen wollen, ab welcher Temperatur es „hitzefrei“ gibt, regen sich die anderen allein über so eine Frage tagelang auf. Folgen die Lehrenden dem Wunsch nach rigideren Vorgaben, protestieren diejenigen, die lieber frei agieren.

Wie überhaupt auf diese neue Situation reagieren? Teilnehmerorientiert den Studentenwünschen zu folgen überschreitet die Kompetenzen des Hochschullehrkörpers: für Erziehungsaufgaben ist dieser nicht ausgebildet; Professoren haben kein Referendariat absolviert, sie sind keine Lehrer im schulischen Sinn. Natürlich könnte man den Stoff durchpauken lassen und in Multiple-Choice-Klausuren prüfen, man könnte den Eltern brieflich mitteilen, wenn ihr Kind sich im Seminar danebenbenimmt oder sogar Kopfnoten einführen. Solche schulischen Sanktionsinstrumente existieren in Hochschulen zum Glück bisher nicht, aber wer weiß, was die Zukunft noch alles bringen wird. Aus Sicht der Hochschullehre ist die Sache in jedem Fall ärgerlich. Die BA-Studiengänge sind berufsorientiert, also bleiben nur die Masterstudiengänge als Rückzugsgebiet einer auf die Forschung bezogenen Lehre. Rücken nun auch dort die Erziehungsaufgaben in den Vordergrund, demotiviert das viele Lehrende.

Der Arbeitsmarkt sucht Erwachsene

Reformen im Bildungssystem sollten die Umweltanforderungen nicht aus dem Blick verlieren. In der Wirtschaft, im Journalismus und in der Wissenschaft werden Akademiker dringend gesucht. Aber über 24-jährige Absolventen von aufbauenden Managementstudiengängen, die noch bei den Eltern wohnen, die vielfältige Erfahrungs- und Verhaltensdefizite mitbringen, schütteln die Arbeitgeber zunehmend den Kopf. In allen Branchen sind Absolventen gefragt, die erwachsen und selbständig sind. Um auch im akademischen Sinne erwachsen zu werden, ist neben der nötigen Freiheit immer noch Zeit eine wichtige Voraussetzung. In Bezug auf die eingeschränkten Tätigkeitsspielräume wurden die BA/MA-Reformen schon deutlich korrigiert.

Dass aber auch die Beschleunigung ungute Folgen hat, zeigt sich inzwischen deutlich. Alter, Erfahrung und Reife sind zwar nur lose gekoppelte Phänomene. Vielleicht müssen wir uns dennoch der Idee öffnen, als Eingangsvoraussetzung für die Masterstudiengänge eine gewisse Zeit außerhalb des Bildungssystems zu verlangen. Andernfalls entlassen wir fachlich überqualifizierte, aber vom Reifegrad unterentwickelte Absolventen in eine Arbeitswelt, die sich nicht an Schülern und jugendlichem Verhalten, sondern an Erwachsenen orientiert.

Beitrag von Frank Berzbach.
Bildquellen in Reihenfolge: Farah Eliane (GFDL)

Zur Person

Frank Berzbach war von 2001 bis 2005 Chefredakteur von sciencegarden. Der Artikel erschien am 15. Juni in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

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