Verfassungswidriger Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit
Das Landeshochschulgesetz Baden-Württemberg schreibt in § 30 Abs. 3 die Akkreditierung der im Rahmen der Bologna-Reform neu eingeführten BA- und MA-Studiengänge bei einer „anerkannten Stelle“ vor. Diese Vorschrift ist in mehrfacher Hinsicht verfassungswidrig und damit nichtig. (1) Es handelt sich dabei zum einen um einen nicht gerechtfertigten, unnötigen und unverhältnismäßigen Eingriff in das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit. (2) Es gibt ferner keine „anerkannten Stellen“ im Sinne des Gesetzes, da die Akkreditierungsagenturen sich zwar de facto hoheitliche Gewalt anmaßen, mit der sie aber nicht rechtswirksam beliehen sind. (3) Schließlich ist auch die Überwälzung der Kosten für die Akkreditierung auf die Universitäten verfassungswidrig.
1. Das Grundgesetz garantiert in Artikel 5 Abs. 3 die Freiheit von Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre. Dieses Grundrecht kennt keinen Gesetzesvorbehalt. Es findet seine Schranken also ausschließlich in anderen Grundrechten, die Freiheit der Lehre außerdem in der Treue zur Verfassung. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kommt das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit den habilitierten Hochschullehrern individuell zu und kollektiv den Universitäten und Fakultäten, die der Staat als Institutionen, in denen freie Forschung und Lehre stattfinden soll, eingerichtet hat. Aus dem Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit folgt außerdem die Autonomie der Hochschulen, die durch die Landesverfassung von Baden-Württemberg auch ausdrücklich und eigens garantiert wird. Sie bedeutet, dass die Hochschulen alle Forschung und Lehre betreffenden Fragen eigenverantwortlich und in größtmöglicher Freiheit zu regeln haben. Dazu gehört auch und insbesondere die Einführung und inhaltliche Ausgestaltung neuer Studiengänge. In diese Grundrechte darf nur eingegriffen werden zum Schutz kollidierender Grundrechte oder zur Durchsetzung von Zielen, die ebenfalls Verfassungsrang haben. Der Eingriff darf nur durch ein Gesetz erfolgen, das hinreichend bestimmt sein (Bestimmtheitsgebot), alle grundrechtsrelevanten Fragen selbst regeln (Wesentlichkeitsprinzip) und den Rechtsweg garantieren muss (Rechtswegsgarantie). Ferner darf der Wesensgehalt des Grundrechts durch den Eingriff nicht verletzt werden.
(1) Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass die Vorschrift in § 30 Abs. 3 LHG BW, nach der Studiengänge an staatlichen Hochschulen, die von den fachlich zuständigen Professoren entwickelt und von den Fakultäten und Senaten verabschiedet wurden, zusätzlich noch der Akkreditierung bei einer im Gesetz nicht näher bestimmten „anerkannten Stelle“ unterworfen werden, einen schwerwiegenden Eingriff sowohl in das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit als auch in die Hochschulautonomie darstellt. Als gesetzliche Grundlage für diesen Eingriff reicht § 30 Abs. 3 LHG BW in seiner Unbestimmtheit aber nicht aus. Das Wesentlichkeitsprinzip und das Bestimmtheitsgebot fordern, dass der Gesetzgeber den Akkrediteuren in Form von Kriterien inhaltliche und formale Vorgaben macht. Die Bewertungsgrundlage für die Akkreditierung ist in § 30 Abs. 3 LHG BW aber völlig offen: damit bleiben alle grundrechtsrelevanten Fragen ungeregelt, wie der Wesensgehalt des Grundrechts angesichts der Eingriffe garantiert bleiben soll, ist in keiner Weise ersichtlich, außerdem ist kein Rechtsschutz vorgesehen, so dass der Willkür der Akkrediteure Tor und Tür geöffnet wird. Die Vorgaben der KMK bezüglich der Mindeststandarts für die Akkreditierung sind keine Rechtsquellen und können den Bestimmtheitsmangel des LHG nicht ausgleichen oder heilen. Die Akkreditierungspflicht ist also schon formalrechtlich verfassungswidrig und nichtig, da ihr eine den Anforderungen entsprechende gesetzliche Grundlage fehlt.
(2) In materiellrechtlicher Betrachtung muss ein Eingriff in Grundrechte zur Durchsetzung von Zielen mit Verfassungsrang notwendig sein, außerdem muss er verhältnismäßig bleiben und in der „grundrechtsschonendsten“ Art und Weise erfolgen, die möglich ist. Begründet wird die Akkreditierungspflicht mit der Bologna-Vereinbarung, die der Schaffung eines einheitlichen europäischen Hochschulraums dienen soll. Nun ist die Integration Europas ein Staatsziel mit Verfassungsrang (Art. 23 GG). Es ist aber zu bezweifeln, dass die Bologna-Vereinbarung durch dieses Staatsziel überhaupt legitimiert werden kann. Denn zum einen handelt es sich bei „Bologna“ um keinen Rechtsakt der Europäischen Union, die nach geltender Vertragslage gar keine Kompetenz für den Hochschulbereich besitzt, sondern um eine rechtlich völlig unverbindliche Absichtserklärung der Wissenschaftsminister aus drei Duzend europäischen und außereuropäischen Staaten. Das Staatsziel der Integration Europas deckt aber nicht beliebige internationale Vereinbarungen, sondern nur die Rechtsetzung der EU/EG.
Die Bologna-Vereinbarung ist auch kein völkerrechtlich bindender Vertrag, da sie nicht vom Bundestag ratifiziert wurde. Schließlich und vor allem aber darf bezweifelt werden, dass das Staatsziel der europäischen Integration als Rechtfertigung für die bürokratische Reglementierung und Vereinheitlichung aller möglichen Lebensbereiche herhalten kann, darunter auch solcher, die nach der Aufgabenverteilung des Grundgesetzes wie das Hochschulrecht in die Hoheit der Länder fallen und in denen also Vielfalt und die Pflege nationaler und regionaler Traditionen von Verfassungswegen gewollt sind. Die Schaffung eines einheitlichen europäischen Hochschulraums mag dennoch ein legitimes Ziel sein, dieses Ziel hat aber keinen Verfassungsrang. Der Eingriff in das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit ist somit durch kein Staatsziel mit Verfassungsrang begründet und darum verfassungswidrig.
(3) Die Akkreditierung ist für die betroffenen Fachbereiche und Fakultäten mit einem erheblichen finanziellen und organisatorischen Aufwand verbunden und geht außerdem mit erheblichen Darlegungs- und Offenlegungspflichten der beteiligten Hochschullehrer bezüglich ihrer Lehre und Forschung einher. Dass dabei Grundrechtsträger gezwungen werden sollen, über ihren Grundrechtsgebrauch gegenüber privaten Dritten Rechenschaft abzulegen, ist ein vollkommen präzedenzloser und nicht hinnehmbarer Vorgang. Außerdem soll die Akkreditierung in bestimmten Abständen wiederholt werden. Gleichzeitig übt in Baden-Württemberg der Staat die Rechtsaufsicht über die Studiengänge aber weiterhin selbst aus, da das Ministerium allen neu eingerichteten Studiengängen zunächst eine „Bestätigung“ erteilt und sie nach vollzogener Akkreditierung dann (endgültig?) genehmigt. Für die Sicherstellung der Vergleichbarkeit der Studiengänge und Abschlüsse ist aber die bisher schon und auch weiterhin geübte Aufsicht durch das Ministerium ausreichend. Sie ist gegenüber der erheblich aufwändigeren Akkreditierung eindeutig der mildere und „grundrechtsschonendere“ Eingriff in die Hochschulautonomie und die Wissenschaftsfreiheit. Dagegen werden durch die Akkreditierung bisher staatliche Aufgaben auf Kosten der Universitäten teilprivatisiert und so eine private Parallelverwaltung neben der weiterhin bestehenden staatlichen geschaffen. Die Akkreditierung ist darum als Grundrechtseingriff sowohl unverhältnismäßig als auch unnötig und damit doppelt grundgesetzwidrig.
2. In der Begründung zum LHG BW wird zum § 30 Abs. 3 ausgeführt, dass „anerkannte Stellen“, welche die Akkreditierung vornehmen sollen, vom Akkreditierungsrat nach den Vorgaben der KMK zugelassene (private) Akkreditierungsagenturen seien. Damit wird de facto eine hoheitliche Aufgabe an Private übertragen. Dies kann in einem Rechtsstaat nur durch Gesetz geschehen. Das LHG beleiht jedoch weder in § 30 noch an anderer Stelle nicht-staatliche Stellen mit hoheitlicher Gewalt; weder der Akkreditierungsrat noch eine Agentur werden im Gesetzestext genannt und beliehen. Der Akkreditierungsrat ist nur durch ein NRW-Landesgesetz eingerichtet, das in Baden-Württemberg selbstredend nicht gilt. Damit gibt es keine „anerkannten Stellen“ im Sinne des § 30 Abs. 3 LHG BW, da der Akkreditierungsrat und die von ihm akkreditierten Agenturen durch kein in Baden-Württemberg geltendes Gesetz mit hoheitlicher Gewalt beliehen sind. Der Beschluss der KMK, mit dem die Kultusminister ihre Hoheit zur Genehmigung der Studiengänge dem Akkreditierungsrat übertragen, kann diesen Mangel nicht ausgleichen, da nur der Gesetzgeber nicht-staatliche Stellen mit hoheitlicher Gewalt beleihen kann. KMK-Beschlüsse haben dagegen keine Gesetzeskraft, sondern sind reine Exekutivvereinbarungen (außerdem kann der baden-württembergische Wissenschaftsminister die ihm vom Landesgesetzgeber übertragenen Rechte nicht einfach auf eine nicht-staatliche Einrichtung wie den Akkreditierungsrat übertragen).
3. Schließlich ist auch die Überwälzung der erheblichen finanziellen Kosten für die vom Staat erzwungene Akkreditierung auf die Universitäten verfassungswidrig. Wenn der Staat mit den staatlichen Hochschulen Einrichtungen schafft, an denen freie Forschung und Lehre betrieben werden soll, dann ergibt sich aus Art. 5 Abs. 3 GG in Verbindung mit dem rechtsstaatlichen Konsequenzgebot, dass er diese Einrichtungen finanziell so ausstatten muss, dass an ihnen freie Forschung und Lehre auch möglich sind. Die Universitäten besitzen darum dem Staat gegenüber ein von der Verfassung verbürgtes Recht auf angemessene Finanzierung. Angesichts der notorisch prekären Finanzlage der Universitäten ist eine Überwälzung von Kosten für Aufgaben, die bisher vom Ministerium, also vom Staat selbst wahrgenommen wurden, ohne Ausgleich nicht zulässig. (Dazu kann man auch auf das Konnexitätsprinzip in Art. 71 Landesverfassung Baden-Württemberg verweisen, das sich allerdings speziell auf die Gemeinden bezieht und darum nicht eins zu eins auf die Universitäten übertragbar ist). Das Land müsste also die von ihm vorgeschriebene Akkreditierung in vollem Umfang selbst finanzieren, wenn diese denn rechtmäßig wäre. Dies ist freilich, wie dargelegt, nicht der Fall.
Fazit: Aus allen genannten Gründen ist § 30 Abs. 3 LHG verfassungswidrig und somit nichtig. Fakultäten und Universitäten sind darum schon aus Gründen der Verfassungstreue verpflichtet, die Akkreditierung zu verweigern. Verbeamtete Professoren können mit Hinweis auf ihren Amtseid die Teilnahme an Akkreditierungsverfahren verweigern.
Die vorliegende Stellungnahme habe ich mit fachlicher Beratung durch Frau Prof. Dr. Ute Mager (Öffentliches Recht) ausgearbeitet. Frau Kollegin Mager hat inzwischen ein eigenes Rechtsgutachten über die Verfassungswidrigkeit der Akkreditierung erstellt und in den Verwaltungsblättern für Baden-Württemberg (1, 2009, S. 9 ff) veröffentlicht. Die Juristische Fakultät der Universität Heidelberg hat sich auf einer Dozentenvollversammlung einhellig die Rechtsmeinung von Frau Mager zu eigen gemacht und die Akkreditierung als verfassungswidrig eingestuft.
Memorandum zur Rechtslage in Sachen Akkreditierung (PDF)
von Jens Halfwassen
Zur Person
Jens Halfwassen, geb. 1958, ist Ordinarius für Philosophie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.