Philologisches für Feinschmecker
Für die Literaturbeilage der ZEIT vom März 2011 ist es „jetzt schon ein Standardwerk über unsere Vergangenheit.“ Die Vorschusslorbeeren gelten einem schmalen Bändchen, in dessen Zentrum das Transkript eines Rundfunkgespräch steht. Geführt hat es der ehemalige FAZ-Feuilletonchef, Hitler-Biograph und Essayist Joachim Fest (1926-2006) am 9. November 1964 für den Südwestfunk in Baden-Baden mit der deutsch-jüdischen Philosophin Hannah Arendt. Daneben finden sich 17 erstmals veröffentlichte Briefe, die Fest und Arendt von 1964 bis 1973 gewechselt haben. Sie sind die einzige Neuheit, die das Buch zu bieten hat, und nehmen zusammen mit dem Wiederabdruck des Radiogesprächs, dessen kommentierte Textfassung seit 2007 auf HannahArendt.net online verfügbar ist, nur 70 von insgesamt 208 Seiten ein. Der Rest fällt auf die Einleitung der Herausgeber Ursula Ludz und Thomas Wild, beide versierte Arendt-Experten, sowie den opulenten, mit stupender Akribie zusammengetragenen Anmerkungsapparat, außerdem vier bereits andernorts publizierte und seitdem mehrfach wieder abgedruckte Stellungnahmen zur sogenannten „Arendt-Kontroverse“ um den Gerichtsreport „Eichmann in Jerusalem“.
1964, im Jahr der Begegnung von Arendt und Fest, die Letzterer in seinen „Begegnungen“ selbst eindrücklich geschildert hat, war Arendts umstrittenes Buch über den vom Jerusalemer Bezirksgericht zum Tode verurteilten Organisator des nationalsozialistischen Massenmords an den europäischen Juden („Eichmann in Jerusalem“) in deutscher Übersetzung erschienen. Wie bereits ein Jahr zuvor in Amerika entfesselte das Buch auch im Land der Täter einen regelrechten Debattensturm. Vor allem, weil Arendt sich in ihrer hellsichtigen und provokant formulierten Reportage kritisch mit der Rolle der Judenräte im Dritten Reich auseinandergesetzt hatte und in Eichmann kein sadistisches Monster, sondern lediglich einen hanswurstigen Funktionär sehen wollte, dessen hervorstechendste Merkmale eklatante Urteilsschwäche und schiere Gedankenlosigkeit zu sein schienen.
Der ganze Kladderadatsch ist unterdessen gut dokumentiert, beispielsweise in der – tendenziösen – Sammlung „Die Kontroverse“ (die auch den von Ludz und Wild wieder aufgenommenen Beitrag Golo Manns enthält) oder in einem Suhrkamp-Band von Gary Smith. In ihrer Einleitung arbeiten die Herausgeber kenntnisreich auf, wie sich die Kontroverse entfaltete, wer was wann dazu beitrug und wie es schließlich, vermittelt über Arendts Verleger Klaus Piper, zur Begegnung mit Joachim Fest kam. Sie umreißen ferner, welche Themen zwischen beiden im Laufe ihrer Bekanntschaft verhandelt wurden und gehen dabei auch auf Fests problematische Rolle als „vernehmender Lektor“ des Hitler-Architekten und späteren Rüstungsministers Albert Speer ein. Vergebens sucht man jedoch Hinweise auf jene Stimmen, die Arendts Eichmann-Bild in jüngster Zeit infrage gestellt oder immerhin korrigiert haben: etwa Irmtrud Wojaks Studie „Eichmanns Memoiren“, in der die Autorin dem vermeintlich durch und durch servilen SS-Obersturmbannführer durchaus eigene, ideologisch gefärbte Motive unterstellt, oder Nele Reuleaux’ subtile psychoanalytische Untersuchung von NS-Täterbiographien, von Harald Welzers einschlägigen Arbeiten und der eben erschienenen Monographie Bettina Stangneths („Eichmann vor Jerusalem“) ganz zu schweigen.
Wer Hannah Arendt für aktuell hält und viel Arbeit auf Fußnoten verwendet, sollte darauf zumindest verweisen und Sätze wie „wenn wir uns Eichmann begucken, dann hat er verbrecherische Motive eigentlich überhaupt nicht“ nicht unkommentiert stehen lassen. Und wer in Eichmann mit Arendt einen neuen Tätertyp ausmacht, der zugleich „auch ein Paradigma der Moderne bildet“, hätte auf die Arbeit des Arendt-Forschers Christian Volk verweisen können, die genau diesem Zusammenhang kongenial ausleuchtet.
Erstaunlich auch, wie die Herausgeber in einem Buch, dessen Kern die politische Interpretation der Urteilskraft bildet, sich lange Zeit eines eigenen Urteils enthalten. Ihr Stil bleibt über weite Strecken deskriptiv, garniert mit rhetorischen Fragen, die selbst den beschlagenen Leser ratlos zurücklassen. Wie beispielsweise Joachim Fests monumentale Hitler-Biographie ausgesehen hätte, wenn sie in vertiefter Korrespondenz mit Arendt entstanden wäre, ist reizvolle Spekulation, auf deren Terrain sich Ludz und Wild schließlich aber doch nicht begeben.
Umso unvermittelter wirkt dann ihr Versuch, die zusammengestellten Dokumente in Arendts Gesamtwerk einzuordnen. So bleibt die Behauptung, dass Arendt und Fest im Radiogespräch über die NS-Vergangenheit sprechen wie „an keiner anderen Stelle ihres Werks“, profunde Belege schuldig. Plausibel ist hingegen die These, Arendts Rede vom „reinen Leerlauf“, dem bloßen Funktionieren der nationalsozialistischen Verwaltungsmassenmörder schlage eine Brücke zu ihrer großen Totalitarismus-Studie („Elemente und Ursprünge des Totalitarismus“), wo vom Wesenszug der „reinen Bewegung“ totalitärer Organisationen und Regime die Rede ist. Doch diese und andere Einschätzungen dürften sich wohl nur dem Fachpublikum ganz erschließen.
Was aber erfährt man aus dem Mund der Protagonisten selbst? Dass Eichmann „verbrecherische Motive eigentlich überhaupt nicht“ gehabt und Ideologie „keine sehr große Rolle“ gespielt habe. „Dies scheint mir das Entscheidende“, so Arendt. Für sie ist Eichmann „der typische Funktionär“ und beileibe kein Dämon. Als solchen hätten ihn aber besonders die Deutschen gerne gesehen, die ohnehin einen fatalen Hang zum Diabolischen pflegten: „Das Böse hat ja, vor allen Dingen auch in den Zwanziger- und Dreißigerjahren, die Rolle gespielt, dass nur das das eigentlich Tiefe sei, nicht?“ Außerdem erläutert Arendt, wie ihre umstrittene Formel von der „Banalität des Bösen“ zu verstehen sei und dass die für NS-Täter typische Berufung auf Eid, Gehorsam und Pflicht ihren im Grunde infantilen Wunsch offenbare, bloß „mitmachen“ und dabei keinerlei Verantwortung übernehmen zu wollen. Auch die übrigen Gesprächsgegenstände – die Rückverwandlung des Funktionärs in einen Menschen qua Gerichtsverfahren, die Ohnmacht der Handelnden in totalitären Regimen, die Bedeutung der Bürokratie für die fabrikmäßige Massenvernichtung, der Historiker als Hüter der Tatsachenwahrheit, Ironie als Ausdruck von Souveränität – offenbaren wenig Neues. Man kann sie, ausgefeilter, im Totalitarismus-Buch und im Eichmann-Report nachlesen, oder im ungleich berühmteren, Grimme-preisgekrönten Gaus-Interview nachhören und -sehen. (Das Interview wurde kurz vor dem Baden-Badener Radiogespräch aufgezeichnet.)
Auf das Spätwerk verweisen lediglich Arendts Auslassungen über Sokrates’ Ansicht, es sei besser, mit der ganzen Welt uneins zu sein als mit sich selbst – „der Satz vom Widerspruch im Moralischen“ – und über das Denken als Bremskraft gegen rastloses Funktionieren. Der Briefwechsel besticht vor allem durch die Listen anspruchsvoller Fragen, die in Vorbereitung des Radiogesprächs hin und her geschickt, verworfen und ergänzt werden, sowie die Korrespondenz über Albert Speer.
Ein Standardwerk, wie die ZEIT annonciert, ist das Buch deswegen noch lange nicht, schweben doch sowohl die Briefe als auch das Radiogespräch ohne die Lektüre von „Eichmann in Jerusalem“ in der Luft. Stattdessen haben wir es mit einem herausragenden Stück Sekundärliteratur in Form eines doppelten Kommentars zur Eichmann-Kontroverse zu tun, in dem Arendt sich – von den Editoren erläutert – in eigener Sache zu Wort meldet. Wer darüber hinaus auch Arendts Totalitarismus-Buch und das an die Eichmann-Kontroverse anknüpfende Spätwerk kennt – genannt seien hier vor allem „Das Leben des Geistes“ sowie Arendts Auseinandersetzung mit Kant und die unmittelbar an das Eichmann-Buch anknüpfende New Yorker Moralvorlesung „Über das Böse“ –, wird den Band als Scharniertext schätzen, an dem sich Arendts dialogisches Denken ähnlich wie in ihrem „Denktagebuch“ in actu ablesen lässt und in dem manche Stichwörter aufscheinen, die erst viel später ausgeführt werden.
Das Buch unterstreicht, was bereits frühere Nachlassveröffentlichungen wie die Moralvorlesung offenbarten: Das „Phänomen“ Eichmann ist der Katalysator für Arendts politiktheoretisch-ethisches Spätwerk. Und: Wie kaum eine andere Denkerin von Rang entwickelt Arendt ihr Werk im Dialog mit intellektuellen Sparringspartnern, von Martin Heidegger über Walter Benjamin bis hin zu eben Joachim Fest. Gegenüber diesen nicht mehr ganz frischen Einsichten wirkt das Buch mit seinem zu umfangreich geratenen und bisweilen auch redundanten Anmerkungsapparat ein wenig artifiziell – obwohl man sich an der ein oder anderen Stelle sogar mehr gewünscht hätte, vor allem im Addendum. Dies alles zusammengenommen schmälert aber nicht den Verdienst der Herausgeber für die Arendt-Forschung. Die wird an der philologischen Feinarbeit gewiss ihre Freude haben.
Zur Person
Christian Dries ist Redakteur von sciencegarden .
Literatur
- Hannah Arendt/ Joachim C. Fest (2011): Eichmann war von empörender Dummheit. Gespräche und Briefe. Herausgegeben von Ursula Ludz und Thomas Wild, München, 208 Seiten, 16,95 Euro.
- Joachim C. Fest (2004): Das Mädchen aus der Fremde: Hannah Arendt und das Leben auf lauter Zwischenstationen, in: Ders., Begegnungen. Über nahe und ferne Freunde, 3. Aufl., Reinbek bei Hamburg, S. 176-214. Ein Vorabdruck aus dem SPIEGEL ist als PDF verfügbar.
- Hannah Arendt (1964): Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Aus dem Amerikanischen von Brigitte Granzow, München; seitdem zahlreiche Auflagen. Neuauflage mit einem kritischen Essay von Hans Mommsen 1986.
- Die Kontroverse. Hannah Arendt, Eichmann und die Juden. Redaktion F. A. Krummacher, München 1964
- Gary Smith (Hg.) 2000: Hannah Arendt revisited: ‚Eichmann in Jerusalem'und die Folgen, Frankfurt/M.
- Irmtrud Wojak (2001): Eichmanns Memoiren. Ein kritischer Essay, Frankfurt/M.
- Nele Reuleaux (2006): Nationalsozialistische Täter. Die intergenerative Wirkungsmacht des malignen Narzissmus, Gießen.
- Harald Welzer (1993): Härte und Rollendistanz. Zur Sozialpsychologie des Verwaltungsmassenmordes, in: Leviathan, Jg. 21, Heft 3, S. 358-373.
- Bettina Stangneth (2011): Eichmann vor Jerusalem. Das unbehelligte Leben eines Massenmörders, Zürich. Für Stangneth hat Eichmann in Jerusalem „eine perfide Show abgezogen“, auf die auch Hannah Arendt „hereingefallen“ sei .
- Christian Volk (2005): Urteilen in dunklen Zeiten. Eine neue Lesart von Hannah Arendts ‚Banalität des Bösen', Berlin.
- Joachim C. Fest (1973): Hitler. Eine Biographie, Berlin.
- Hannah Arendt (2005): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 10. Aufl., München (Originalausgabe: The Origins of Totalitarianism, 1951).
- Hannah Arendt (1979): Vom Leben des Geistes. Band I: Das Denken, München (Originalausgabe: The Life of the Mind, Vol. I: Thinking, 1978); Band II: Das Wollen, München (Originalausgabe: The Life of the Mind, Vol. II: Willing, 1978).
- Hannah Arendt (1985): Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie. Herausgegeben und mit einem Essay von Roland Beiner, München (Originalausgabe: Lectures on Kant's Political Philosophy, 1982).
- Hannah Arendt (2006): Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Jerome Kohn. Übersetzt aus dem Englischen von Ursula Ludz. Mit einem Nachwort von Franziska Augstein, München (Original: Some Questions of Moral Philosophy, 1965).
- Hannah Arendt (2002): Denktagebuch 1950 bis 1973. 2 Bände. Herausgegeben von Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann. In Zusammenarbeit mit dem Hannah-Arendt-Institut, Dresden, München.