Krass!

„Steig oder stirb“ „Steig oder stirb“ ist ein Buch, das man entweder euphorisch weiterempfehlen „oder abgrundtief hassen kann“. Für seinen Autor, den Extremkletterer Mark Twight, gilt in Bergsteigerkreisen und weit darüber hinaus dasselbe. Hier eine Empfehlung für alle, die mit den extremsten Regungen der menschlichen Natur umgehen können – und eine Kurzzusammenfassung für den Rest.

Ich war in meiner Stammbuchhandlung und wollte eigentlich nichts kaufen. Doch dieser Titel, „Steig oder stirb“, bettelte förmlich darum, dass ich ihn mitnahm, und die grell-archaische Aufmachung des Covers der Neuausgabe erfuhr ein fesselndes Echo in der Feststellung, man könne den Autor des Buches „nur von Herzen lieben oder abgrundtief hassen“ – im Übrigen eine Selbstcharakterisierung.

Dieser Mensch, Mark Twight, ist nicht nur Extremkletterer, sondern vor allem eine extreme Persönlichkeit. Er hört beim Klettern Punk, liest Nietzsche und schildert mit unterdrücktem Genuss das langsame, zermürbende Scheitern seiner Beziehung. Twight ist folglich keiner, mit dem man sich engeren Kontakt wünscht. Er ist kein Sympathieträger, nicht einmal im Kosmos des eigenen Sports. Trotzdem – oder gerade deshalb – wird er von einschlägigen Magazinen aufgefordert, gegen den Kletterzirkus zu geifern. Vielleicht ist er jedoch ein Mensch, von dem wir gern mehr in uns hätten. Denn seine Schilderungen entfalten eine schwer fassbare Kraft. Es ist die Magie eines Lebensweges, der an den Leichen von Freunden vorbeiführt, die er an die Berge verloren (und über die er in jüngeren Jahren sogar einmal Buch geführt) hat; und die dunkle Energie eines Lebens, das nur dann Bedeutung hat, „wenn ich lernte mit der Nähe des Todes umzugehen“.

„Steig oder stirb“ ist keine leichte Kost, eher Death Metal als Punk. Es handelt sich um eine Sammlung von 24 Magazinbeiträgen, zeitlich zurückgehend bis 1984 und jeweils mit einem Kommentar des Autors aus dem Jahr 2000 versehen. Besonders am Anfang ist das Klettern dabei ein „Spaß ohne Spaß“, wie es Extremsportler paradox zuspitzen: Die Touren sind hart, immer lebensgefährlich und enden fast garantiert mit Verletzungen. Scheitert er oder muss vom Klettern pausieren, plagen den „bergsüchtigen“ Autor Depressionen. Und selbst im Erfolgsfall erwartet ihn „im Tal nichts, weder Zuspruch noch Verständnis noch Freunde“.

Wen sonst beim Lesen das Fernweh packt, kann „Steig oder stirb“ als Rosskur dagegen lesen: In der „Jauchegrube Katmandu“ plagen Twight Ratten und die Amöbenruhr, im Basislager eines Achttausenders muss er sich „auskotzen“, so sehr ekeln ihn die – menschlichen und industriellen – Hinterlassenschaften zu vieler Expeditionen. Nachts liegt er vom Lärm der Stürme wach im Expeditionszelt und riecht den Ammoniak, zu dem sein Körper „um des Überlebens willen Muskelgewebe verbrannte“. Zählt man die geschilderten Unfälle – eigene und fremde – und Kompensationsversuche wie zu schnelles Motorradfahren hinzu, hatten Twights Eltern vermutlich recht, sich wegen der „Drogensucht“ ihres Sohnes Sorgen zu machen.

Doch Twight lernt – schmerzhaft und unmerklich – aus seinen Extremerfahrungen. Wer ihm durch die Ödnis der dem Klettern eigenen, rein technischen Geländebeschreibungen und von Routen- und Ausrüstungsdetails in die Steilwände der Welt gefolgt ist, findet sich am Ende Schulter an Schulter mit einem auf wundersame Weise gereiften Menschen. Wundert man sich am Anfang, dass der Autor sich selbst „Überleben ist das Wichtigste“ einsouffliert, während er sich immer wieder Gefahren aussetzt, weicht die zwischendurch schier unerträgliche Spannung des Buches am Ende einem fast mit den Händen greifbaren inneren Frieden. Denn natürlich war die letzte Tour einmal mehr knallhart. Aber das Risiko, die ganze Aktion war kalkuliert – und hat sich am Ende gelohnt. So, wie sich mancher zivilisationsgeschädigte Stressgeplagte das Ziel seiner Strapazen wünscht: sich sanft im Liegestuhl wiegend, während die Sonne hinter den bewältigten Bergen untergeht.

Mark Twight ist dort gewesen, wo es nur wenige Menschen jemals hin schaffen – geografisch, in Höhenmetern gemessen und vor allem persönlich. Er hat mit Einsamkeit gekämpft, dem Tod ins Auge gesehen und Schmerzen nicht nur ertragen, sondern teilweise bewusst gesucht. Und er besitzt als einer von sehr wenigen dazu die Fähigkeit, seinen Antrieb zu reflektieren, in Worte zu fassen und damit anderen die Schläge auf den Hinterkopf zu verpassen, die nach Redensart das Denkvermögen verbessern. Einer dieser Ratschläge lautet wohl, dass Veränderungen beim Menschen nur mit einem Ruck möglich sind. Oder um es mit Twights appellativem Realismus zu sagen: „Wenn du morgen deinen Kaffe trinkst, trink ihn schwarz und spüre es. Spüre, wie das Koffein dich durchdringt. Betrachte es nicht als selbstverständlich. Nutze es für etwas. Verbrenn die Grisham-Bücher. Verkauf die schlechten CDs. Mariah Carey, Dave Mathews und N Sync gehören dort hin , wo du willst, nicht zum Soundtrack.“ Was ohne Zusammenhang klingt wie Prosa fürs Macchiato-Milieu, ist im Kontext von „Steig oder stirb“ Ausdruck der puren, vereinzelten, ungeschönten Existenz des Menschen. Eine Leseerfahrung fernab aller anbiedernden, relativierenden Mainstream-Ergüsse. Krass eben.

Beitrag von Christiane Zehrer.
Bildquellen in Reihenfolge: Piper Verlag

Zur Person

Christiane Zehrer hat zwar immer noch einen Grisham-Roman im Regal stehen, testet aber beim Sport auch gern ihre Grenzen und liest auch mal „cross“.

Literatur

  • Twight, Mark: Steig oder stirb. Geständnisse eines Bergsüchtigen, 2011.

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