Wozu noch Universitäten?

Reinhard Brandt: „Wozu noch Universitäten?“ Im Reform-Schlamassel von Bologna droht die Frage unterzugehen, was eigentlich die Universitäten waren und vor allem sein sollten. Der Marburger Emeritus Reinhard Brandt meint, sie seien die Voraussetzung der Demokratie überhaupt. Einige grundlegende Gedanken aus seinem neuen Buch.

„Universität“; das lateinisch-deutsche Wort bezeichnet den allgemeinen Begriff eines historischen Phänomens, dessen Wandel sich nachzeichnen läßt, oder aber die Idee, die eine unwandelbare Norm enthält. Karl Jaspers sprach in diesem Sinn von einer Idee der Universität. Die historische Institution, die als Universität bezeichnet wird, hat wechselnde Satzungen und damit Regeln, die wiederum wechselnde Normen formulieren. Man sieht, die genaue Bestimmung dessen, womit wir uns befassen, ist nicht einfach. Wir gehen auf dieses Problem zwischen Sachverhalt und Norm nicht ein, sondern nehmen das Wort oder den Begriff im Sinn der Alltagssprache ohne genaue Fixierung oder Definition. Wir nehmen eine praktikable Identität der Universitäten bei radikalen Änderungen an und können damit leidlich arbeiten. Das übrige leisten die Lexika und Literaturverweise.

Die Universität in ihrer Geschichte

Die ersten Universitäten wurden um 1200 n. Chr. in der Hochscholastik gegründet, aber jede Universitätsgeschichte muß den eigentlichen Beginn ihrer Fundamente paradoxerweise bis in die Vorsokratik zurück- oder vordatieren, denn schon in dieser Phase der Antike gab es den zögerlichen Beginn von Wissenschaften, die von den späteren Universitäten übernommen und fortgesetzt wurden. Die Universitätsgründer und -lehrer kannten ihre antiken Quellen und Vorformen und versuchten, ihnen gerecht zu werden. Besonders die griechische, aber in der Jurisprudenz auch die römische Antike und später arabische Schulen standen in hohem Ansehen und lieferte die Textgrundlage des Unternehmens.

„Septem artes liberales“

Die antike Wissenschaft existierte ohne institutionelle Einheit, ohne gemeinsamen Begriff, daher auch mit fließenden Grenzen der professionellen Forschungen und Unterweisungen in Medizin und Landwirtschaft, Reitkunst und Mathematik, Musiktheorie, Astronomie und Geographie in verschiedenen Epochen und Ländern, in Süditalien die Pythagoreer, der Atomist Demokrit in Abdera, in Athen die Sophistik, Platon und Aristoteles, aber auch Thukydides als Begründer einer wissenschaftlichen Chronologie der Geschichtsschreibung, dann die Bibliothek in Alexandria mit einer großen Palette von Disziplinen: Logik, Grammatik, Philologie, Editionskunde, die Juristenschulen in Rom. Des weiteren diente den Universitäten ein Fundus von Versuchen, die Erkenntnis in einer episteme epistemes zu erkennen und enzyklopädisch inhaltlich zu erfassen. In den Archiven und fortexistierenden Schulen lagerte eine überwältigende Fülle von Materialien der Form und des Inhalts der Erkenntnisse, nur nicht in der Hand einer einheitlichen staatlichen oder kirchlichen Bürokratie. Die Idee, die die meisten dieser Techniken und Erkenntnisse begleitete, ist der Ausweis einer Behauptung durch eine Begründung; zu ihr verpflichtet sich jeder, der an dem Spiel der Erkenntnis teilnimmt. Warum? Der terminus technicus war „logon didonai“. Kein Zufall, daß die Kultur reflektierter Erkenntnis zur selben Zeit in Griechenland einsetzt wie die Demokratie. Weder Moses noch Mohammed noch ein weltlicher Despot konnten sich je für das Erkennen mit der Idee des „logon didonai“ begeistern.

Die Gründung von Universitäten ist ein nicht klar dokumentierter Prozeß, besonders in Paris und Bologna in der Hochscholastik um 1200, mit folgendem Ergebnis. Nach einigem Zögern einigen sich die beteiligten Gruppen von Studenten aus verschiedenen Ländern und den lehrenden Doktoren und Professoren auf eine Vier-Fakultäten-Ordnung. Die drei oberen Fakultäten dienen dem später so genannten Brotstudium, die untere bereitet die Studenten auf das wissenschaftliche Studium in den sieben artes liberales vor. Sie sind der Kern noch der heutigen Disziplinen, in die sich auch die Forschung der oberen Fakultäten integriert hat. Eine Konstante von 1200 bis 2011 sind die ganz unentbehrlichen Titel vom Baccalaureus über den Master/Magister, Doktor und Professor bis zur Spektabilität oder Eminenz des Dekans.

Zwei Typen von Universitäten gab es nach kurzer Zeit: bottom up und top down, in dieser zeitlichen Reihenfolge. Zu den ersten Gründungen führten Probleme der in- und ausländischen Studenten, ihrer Unterbringung und Rechtsvertretung; daher konnten Studenten zu Rektoren gewählt werden. Top down verlief die Gründung, wenn sie von Fürsten durchgeführt (und darum auch nach ihnen benannt) wurden.

Es gab den Zwang einer gewissen Homogenisierung im „europäischen“ Bereich wegen der libertas docendi. Die doctores, professores und magistri (kaum unterschieden) suchen nach wechselnden Orten der akademischen Wirksamkeit, wie kommt man zu einer ungefähr einheitlichen Beurteilung ihrer wissenschaftlichen Qualifikation? Das akademische Studium entsprach einem Bedürfnis der sich kultivierenden Länder, die vor allem qualifizierte Priester, Juristen und Ärzte brauchten. Aber die drei Berufe bilden nicht den Ausgangspunkt der drei oberen Fakultäten. Von großer Wichtigkeit freilich ist, daß die europäische gemeinsame Gelehrtensprache das Lateinische war, dadurch wurde ein müheloser Erkenntnistransfer ermöglicht. Studenten wurden genötigt, auch unter einander Lateinisch zu sprechen. Erst im 18. Jahrhundert erobern die Nationalsprachen die Universitäten.

Die Konstellation 1, 2, 3 / 4 der Vier-Fakultätenordnung teilt die Universität mit vielen anderen Institutionen in Mittelalter und beginnender Neuzeit: Ein Kennzeichen des ordo, zu dem Staat, Kirche und Universitäten insgesamt gehörten und die mit ihrem gleich strukturierten System eine Einheit schufen, in der die Individuen definiert waren, ohne dies selbst leisten zu müssen. Dieser ordo ist bisher nicht sachkundig untersucht, aber der ordo des Mittelalters folgt einer Viererkonstellation; die französischen Demokraten haben den Vierten, den König vergessen.

Nach Zusammenbruch dieser alten Ordnung folgt dann im 19. Jahrhundert die serielle Ordnung und Entlassung der Individuen in eine multizentrische Welt ohne eine einheitliche Definitionsgewalt. Vorher geschlossen, öffnet sich so auch die moderne Universität mit neuen Bündnissen in der Problembewältigung: Heute etwa wird für die Archäologie die Satellitenfotografie wichtig, für den Umgang mit Urkunden die Chemie. Wie der Mediziner muß der Paläontologe sich von anderen Kollegen sagen lassen, was der Fall ist.

Die Zweiteilung der Disziplinen von unten wird in der seriellen Anordnung aufgehoben. Und die Bologna-Reform schafft ein Eingangsstudium in Form von Bachelor und zugleich berufsqualifizierendem Abschluß mit Prüfungen in Permanenz. Sie stellt also das Bologna-Modell von 1200 auf den Kopf. Dort zielt das Philosophiestudium der sieben artes auf das Studium in einer drei oberen Fakultäten, hier beginnt das Studium mit einem berufsqualifizierenden Abschluß, danach soll das freie Studium beginnen. Dieses Konzept ist nach dem allgemeinen on-dit gescheitert, Bologna 1200 ist aktueller als Bologna 1999, gewissermaßen.

Der europäische Hochschulraum ist ein Phantom. Wie kann man auf homogene europäische Prüfungen hoffen, wenn dies schon in einem Land mißlingt? Wie kann man auf Fairniß bauen, wenn es an bestimmten Universitäten verpönt ist, Kandidaten durchfallen zu lassen, weil damit die Zahl der bestandenen Prüfungen sinkt und damit wieder das Geld verschwindet, mit dem der Staat sie honoriert? Der Wert der entsprechenden Dokumente ist in der Regel gleich Null, wenn schon in Deutschland Spitzenleute ihre akademischen Prüfungen offen erschwindeln. Umgekehrt ist der Erkenntnishorizont seit vorsokratischen Zeiten die Welt, nicht Europa. Soll ich bei den heutigen Flugpreisen das Studium in einem europäischen Korruptionsland eher fortsetzen als in Buenos Aires, Kyoto oder Stanford? Studien belegen, dass die Bologna-Reform die studentische Mobilität stark reduziert hat.

Zur Geschichte: Die Gegenstände des Wissens und der Erkenntnis werden aus einem geschlossenen, an festen Größen und auch Autoritäten orientierten System in ein grenzenloses Feld entlassen, mit dem wir heute in allen Bildungsbereichen konfrontiert sind. Dieser Umbau ist eingebettet in eine Umwandlung der Geschichte im Ganzen. Mit der Neuzeit wird allmählich eine Zeitenwende vollzogen, eine Entmachtung der Vergangenheit und Orientierung an der Zukunft: Mit der Neuzeit ändert sich die Ökonomie, die Politik wird rationalisiert und allmählich aus den feudalen Bindungen befreit. Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen – das Individuum erreicht eine souveräne Würde.

Das Studium als Arbeit

Reinhard Brandt
Reinhard Brandt

Das Studium ist bis ins 18. Jhdt. entschieden keine Arbeit. Die Angehörigen des dritten Standes arbeiten, aber nicht der Student und nicht der Professor. Student und Professor sind Bürger der Universität und unterliegen deren Gerichtsbarkeit außer in schweren Verbrechensfällen. Bologna 1999: Das Arbeitsquantum der Lektüre eines Gedichts wird wie die Arbeit am Laufband verrechnet. Das gesamte Arbeitsvolumen des Studiums wird nach Einheiten verrechnet, die Studierenden werden diesem System wie Zwangsbewohner eines sozialistischen Staats unterworfen. Es werden hier die bürgerlichen Freiheiten außer Kraft gesetzt, die noch in der Nachkriegsuniversität erhalten waren.

Ein kurzer Rückblick ins 19. Jahrhundert: Nach Revolution und napoleonischen Kriegen wurde debattiert , ob man die antiquierten Universitäten nicht auch schließen und durch moderne Hochschulen ersetzen sollte, ohne die mittelalterlichen Allüren der Titel und der Strukturen wie der vier Fakultäten. Die europäischen Nationen entschlossen sich ohne Absprache, die alten Universitäten beizubehalten, sie jedoch nach nationalem Vermögen zu modernisieren. Europäisches Militär verfuhr analog: Die modernsten Tötungs- und Schlachtmaschinen wurden dirigiert von Feldherren in mittelalterlicher Montur mit Helmen und Zinken und wehenden Federn, mit genauer Ober- und Untergeneralität und Zeremonie der Begrüßung.

Wissen und Erkennen

Wissen: In der Schule war wichtig das Auswendiglernen, das ein sicheres Fundament für das danach folgende freie Erkenntnisstudium schuf. Sehr pauschal, sehr ungerecht: Aber das Gymnasium vermittelte Wissen, die Universität Erkenntnis. Hier hat es Verschiebungen gegeben, die den Kontrast von gebundener Schule und freiem Studium an verschiedenen Universitäten aufhebt, die Schulen eignen sich plakativ universitäres Niveau in den Leistungskursen an, und die Universitäten werden verschult, die Studierenden häufig pädagogisch infantilisiert, wie man an der Kinderprosa von Studies, Ersties und dergleichen sehen kann.

Erkennen statt Wissen: Erkennen ist eine eigentümliche menschliche Tätigkeit, die anthropologisch vorgegeben ist und als Erfüllung einer Naturanlage Freude erzeugt, so wie die Ausübung des Gesangs, der körperlichen Bewegung, der Mitteilung. Trotzdem bedurfte es komplexer Voraussetzungen, um den Impuls zu einem nicht unmittelbar an bestimmte Zwecke gebundenen Wissen, sondern einem Erkennen zu ermöglichen, das seiner eigenen Logik folgt. Die objektive Funktion des Erkennens, der Sinn des Erkennens, ist politischer Natur, wie wir gleich sehen werden.

Beim Erkennen der heutigen Universität stellen wir die Kritik und damit die Aufklärung an die Spitze. Kritik setzt die Initialzündung des Zweifels voraus, Kritik ist der formulierte Zweifel: Stimmt das? Die Eltern, die Dichter, die Priester, die Fürsten oder anderen Führer, das renitente Alltagswissen sagen es, aber stimmt es? Methodischer Zweifel und Kritik setzen wiederum Mut voraus. Wie viele wurden dafür verjagt und verbrannt.

Bei allen Erkenntnissen kann man davon ausgehen, daß es schon Behauptungen zu dem fraglichen Tatbestand gibt und die Erkenntnis mit einer kritischen Revision beginnt. Das Erkennen als solches folgt seiner eigenen Logik und nicht den Anweisungen externer Autoritäten. Die Geschichte als Wissenschaft bedarf der Freiheit und kann keinen inhaltlichen Vorgaben folgen, die die Ergebnisse der Forschung vorweg bestimmen. Das ist trivial, und setzt doch voraus, daß die Vermittlung in der Lehre zentriert ist auf Kritik und nicht eine maximale Sammlung von ungeprüften Fakten. Es gibt, so Platon und nach ihm Aristoteles, Bereiche der Wirklichkeit, die sich nicht durch Messen, Zählen und Wiegen bestimmen lassen.

Die Fokussierung der Erkenntnis hat eine eingrenzende Funktion im Gegensatz zum grenzenlosen Wissen. Die Erkenntnis kann exemplarisch behandelt werden und das Selbsttun grenzenlos und unvorhersehbar freisetzen. Ein höchst präsentes Beispiel ist der Anspruch der Gehirnforschung, nun endlich den Platz der Wissenschaft in Besitz zu haben und den blumigen Selbstreden der Geisteswissenschaften ein Ende zu bereiten. „Ich bin mein Gehirn“, sagt jemand, ohne die Antwort des Gehirns auf diesen Akt der Kolonisierung abzuwarten. Man verfolge die Darlegungen der Hirn-Partei genau, etwa von Gerhard Roth, wie er unterstellt, er sei durch Hirnforschung just zu dem Ergebnis der Psychologie gekommen, das wir schon seit längerem kannten. Ohne kritischen Mut regredieren wir allesamt zu vorweg bekannten Hirnprotuberanzen, die bei den Hirnforschern bitte nachschlagen, was sie gerade denken.

Freie Auseinandersetzung

Erkenntnis ist in ihrem Kern demokratisch; jede Erkenntnisbehauptung setzt sich der Kritik und Korrektur aus. Auch die Behauptung einer Letztbegründung ist im Prinzip unvermeidlich, aber jeder Versuch einer Formulierung setzt sich sogleich der Möglichkeit eines kritischen Einwandes aus.
Doch welches ist das Motiv dieser Erkenntnis? Oder auch: Welches ist der Sinn? Das Motiv und movens liegt entweder im Objekt oder im Subjekt. Platon stattet die Ideen und mit ihnen die Objekte reiner Theorie mit einem Höchstmaß an Schönheit aus; gelingt es uns nur, sie im Geist zu erblicken, wirkt ihre Attraktionskraft unvermeidlich auf unsere ihnen ähnliche Seele. Diese Erklärung der Erkenntnisfreude war in der Antike den Materialisten wie Demokrit unzugänglich, und in der gesamten Neuzeit wird man schwerlich diese Überzeugung finden, es sei denn, sie lasse sich als Plagiat von Platon herausscannen.

Demokrit sagte, er „wolle lieber eine einzige ursächliche Erklärung finden, als daß ihm das Perserreich zueigen werde.“ Wenn die Universität des Wirtschaftsdenkens sich doch in einem Moment der Trunkenheit dazu durchringen könnte zu verkünden: Das ist unser Mann! Demokrit und kein anderer! Alle Macht dem interesselosen Erkennen und nicht den Finanzmogulen in Persien oder sonstwo!

Das Phänomen dieser Lust wird heute subjektiv erklärt, es hängt ab von der individuellen Natur, der Begabte betätigt sich mit Lust auf dem Gebiet seiner speziellen Neigung. Aber es gibt eine gewissermaßen objektive Lust; sie liegt in der Befreiung von falschen Meinungen und von Unkenntnis. Es macht Spaß, endlich die Wahrheit über etwas zu erfahren, worüber man im Irrtum befangen war und was man einfach nicht wußte. Nicht in aller Beliebigkeit der kriminellen Umwelt, sondern in einem essentiellen Bereich der ganzen Existenz und der Welt, wie beim Physiker Demokrit.

Worauf läuft das Erkennen in seinem Was? hinaus? Wie sich die Kunst am besten durch die Ankäufe der Museen bestimmen läßt, so ein Universitätsfach durch seine spezielle Bibliothek und der Gegenstand der Erkenntnis überhaupt vielleicht durch die Bestände aller wissenschaftlichen Bibliotheken. Und die unterschiedlichen Sachen selbst? Es gibt sicher einmal das faustische Unternehmen zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Das ist die Erkenntnis, die sich auf die Natur im Größten und Kleinsten und auf die Einheit der Natur richtet. Zum andern ist es das kritische Unternehmen der Befreiung von den dauernden Überlagerungen der menschlichen Selbstvergewisserung. Geschichte, Religion. Politik, Kunst - wir brauchen eine permanente Befreiung von einer augenzuklebenden, ohrenverstopfenden Partei der groben Ideologen und feinen Priester.

Es ist verlockend uns in der Mitte der beiden Flügel der Natur- und Kulturwissenschaften den Menschen vorzustellen: In den drei Stufen der physischen Anthropologie inklusive Medizin für die Pathologie, der psychologischen Anthropologie wieder mit einer begleitenden Pathologie, und drittens der geistigen Anthropologie, die über sich selbst und das Erkennen und die Universität nachdenkt und deren Deformation der Tod ist. Diese Positionen interagieren ineinander, aber sie erheben den Anspruch, das Feld möglicher Erkenntnis vollständig abzustecken.

Bei allem brodelnden Wechsel im Inneren der Universitäten suchen wir nach einem Halt und bilden Strukturen wie die eben genannten. Sie lassen sich leicht verteidigen und gehören meines Erachtens zum Begriff der Universität.

Die institutionelle Verwirklichung

Down with Plato?
Down with Plato?

Die Tätigkeit einer auf sich gestellten Erkenntnis ist nicht ausgeträumt, sondern wird an unzähligen Orten in stupender Zuwendung praktiziert. Kraftsprüche wie derjenige Dieter Simons, die Universität sei im Kern korrupt, bilden nur Andockstellen des Ressentiments. Die Universität war auf ihre Weise immer korrupt, man muß nur die richtige Sonde benutzen.

Die Auseinandersetzung um die Universitäten findet zwischen zwei verfälschenden Extremen statt. Hier die Losung: „Not for profit“, also Erkenntnis um ihrer selbst willen, dort „Down with Plato“, also nicht einem Phantom von Platons Ideenschau, sondern dem Nutzprinzip folgen, also doch „for profit“. Keine Institution kann den Gesichtspunkt des direkten oder indirekten Nutzens außer Acht lassen, und keine Universität kann, vielleicht besser: sollte die Verbindung mit der Tradition einer für sich erstrebten Erkenntnis gänzlich kappen. Kein Profit kann die Erkenntnis trüben, schon Heraklit wußte, daß selbst bei Krupp und Siemens die Götter anwalten können. Also: Profit und unverfälschte Erkenntnis. Es ist natürlich beides zusammen möglich, wenn eben dies zum Gegenstand der akademisch öffentlichen Reflexion wird.

Was fehlt? Das öffentliche Bekenntnis der Universitäten zur Erkenntnis als solcher; mit ihr steht und fällt die Universität. Alles andere wird mitgeführt, Kinderkrippen und Bachelor, aber das, was die Universität nach ihrem Selbstverständnis auszeichnet, ist Erkenntnis pur. Die Not-for-Profit-Partei muß notwendig die Entgrenzung des Studiums im Hinblick auf die Zahl der Studierenden als verfehlt ansehen; umgekehrt favorisieren die „Down-with-Plato“-Parteigänger die Maximierung der Studentenzahl pro Jahrgang. Das Ziel ist: Es soll eine möglichst große Zahl von universitär Verzeichneten für den Arbeitsmarkt bereitgestellt werden: Die Konkurrenzfähigkeit des europäischen Marktes gegenüber Asien und Amerika soll gewährleistet sein. Immer früher studieren, immer mehr, so ist es ausgerechnet.

Bei der Erwägung der Alternative ist ein Argument wichtig: Das Studium bestimmter Disziplinen als bloßer Erkenntnis und Wissenschaft besagt nicht, eine wissenschaftliche Laufbahn zum Beruf zu machen. Die Teilnahme an der Erkenntnispraxis für eine bestimmte Zeit hat das Ziel, diesen Denkmodus vorzustellen und ein wenig mit ihm vertraut zu machen. Der Studierende weiß am Ende der zehn bis zwölf Semester, worum es sich bei dieser Erkenntnis handelt, und hiervon profitiert er oder sie im künftigen Beruf, vielleicht auch im Ethos, mit dem Probleme klar benannt und gelöst werden. Es geht also nicht um „Wissenschaft als Beruf“ (Max Weber) sondern Erkennen um seiner selbst willen, als Möglichkeit, als Habitus und Können, mit dem die Studenten eine gewisse Zeit lang befaßt sind, um dann aus der Universität in die Gesellschaft zurückzukehren.

Bevor wir jetzt die Frage, wozu noch Universitäten, beantworten, soll das Problem in einem Intermezzo beleuchtet werden. Wir können mit zwei Alternativen gegenüber der Fortsetzung und Verbesserung der bestehenden Universitäten spielen. Das eine ist die Rückkehr in die Antike, das andere die Vollendung in den heutigen technischen Möglichkeiten: Die Überführung der heutigen Institution in eine Medienuniversität. Beide Varianten sind schon zum Teil realisiert in Privat- und in Fernuniversitäten. Gibt es gute Argumente, die die Alternative ausschließen und für die Beibehaltung der tradierten Universitäten plädieren?

Die Universität als Institution der permanenten Aufklärung

Es gibt eine Gegeninstanz: Die Zivilgesellschaft, die eine Institution benötigt, die der permanent notwendigen Aufklärung und Selbstaufklärung gewidmet ist. „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ So lautet der meistzitierte Satz von Ernst-Wolfgang Böckenförde. Der vor-säkularisierte Staat hatte diese Bindekräfte im kirchlich verfassten Glauben, und seit dem Geständnis des Staats, eben dieser fehle ihm, klafft nach Böckenförde in den Voraussetzungen des Lebens des Staats eine Garantielücke, alles „im eigentlichen Kern“. Der säkularisierte Staat kann seine Bindekräfte nicht mehr vom Glauben ausleihen, sondern soll sie selbst herstellen; die Schulen und die Hochschulen, die Aufklärung in Permanenz, die Freisetzung kultureller Kräfte bis in jeden kargen Winkel der Republik, die öffentliche Reflexion über Staat und Gesellschaft in den Medien, die Funktion der Parteien und die Erhitzung der Gemüter über mangelnde Gerechtigkeit. Unsere These: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst erstellen und – im Rahmen des irdisch Möglichen – garantieren muß.“ Die praktizierte Mündigkeit der Bürger ist wiederum eine Voraussetzung der Demokratie und daher höchstes Staatsziel, auch da, wo der Staat die politische Kultur der Zivilgesellschaft, die ihn ermöglicht, nur stimulieren kann.

Die Zivilgesellschaft, so postulieren wir, hat die Pflicht und ein Recht auf Universitäten, in denen unbeeinflußte Erkenntnis auf allen gängigen Gebieten betrieben wird. Die Professoren müssen für ihre Erkenntnistätigkeit freigestellt werden, integriert in eine Lehre unter zehn Stunden, eine finanzielle Anerkennung, die sie deutlich abhebt von Lehrern der unteren und oberen Schulen und die sie davor bewahrt, Drittmittel einwerben zu müssen und sich auf diesem Weg dem Markt anzudienen. Wissen kann zum Gegenstand der Erkenntnis werden und umgekehrt wird Erkenntnis in bloßes Wissen überführt.
Die Erkenntnis im Gegensatz zur Information ist das Kennzeichen nicht nur von Exzellenzeinrichtungen, sondern jeder Universität. Sie muß permanent ihre eigene Grundlage erhalten und verbessern. Diese Selbstschöpfung der Gesellschaft wird in traditionell antidemokratischen Publikationen nicht gern gesehen, man sucht, wie man der Kirche weiterhin eine tragende Funktion ergrübeln kann.

Die Universitäten können und sollten sich stärker an ihre Funktion als Stätten der Erkenntnis erinnern. Das muß ihre heutige Rolle als höhere Schule der Ausbildung nicht vernichten, aber kann doch das eigentliche Ziel der Existenz der Universitäten stärker markieren: Not for profit, das Ethos, auf das sich die Universität in ihrem Kern und von Anfang an beziehen sollte.

Beitrag von Reinhard Brandt.
Bildquellen in Reihenfolge: Felix-Meiner-Verlag; gemeinfrei (wiki); Reinhard Brandt; gemeinfrei (wiki)

Literatur

  • Reinhard Brandt: Wozu noch Universitäten? Ein Essay. Felix Meiner Verlag, Hamburg 2011, ISBN-10 378732142X, ISBN-13 9783787321421, Broschiert, 250 Seiten, 18,90 EUR

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