Achtung Authentizität!

Peter Sprong Die Sehnsucht nach dem unverstellten Ich-Ausdruck hat ein tückisches Janus-Gesicht. Für Redner, die besonders überzeugend sein wollen, entpuppt sie sich häufig als Stolperfalle. Denn wer mag sich schon genau so, wie er ist? Das Rollen-Verständnis guter Schauspieler kann weiterhelfen.

Helden haben immer Konjunktur! Das gilt für Kinderzimmer, aber auch für dessen virtuelle Erweiterungen: den „Spielplatz Internet“. So gefällt fast 4,7 Millionen Nutzern das youtube-Video: „40 inspirierende Reden in zwei Minuten“. Dort fallen sich von Sylvester Stallone bis Fozzy Bär, von Al Pacino bis Charlie Chaplin die pathetischen Redner-Helden der Leinwand im Sekundentakt ins Wort.

Das ist nicht nur unterhaltsam, es zeigt auch, was fast allen Helden (und Heldinnen) der wirklichen und erdachten Welten gemeinsam ist: Sie können reden! Und flugs wird auch umgekehrt ein Schuh daraus: Wer nur gut und mitreißend redet, der wird ein Held! „Die Macht der Rhetorik“ jedenfalls ist im Buchhandel noch immer das beste Verkaufsargument, oder der potentielle Leser wird gar dazu ermuntert „die Kunst der skrupellosen Manipulation“ zu erlernen.

Gerade die Skrupel aber sind das Problem. Denn Tatsache ist: Die meisten Rednerinnen oder Redner möchten lieber im sprichwörtlichen Boden versinken als die geforderte Rede zu halten – gefordert allerdings nicht so sehr von den jeweiligen Umständen (mal ehrlich, wer muss schon wirklich reden?), sondern vor allem von der eigenen Sehnsucht nach Größe, nach Geltung und Gesehenwerden.

Es ist die Sehnsucht, die die Menschen an die Rednerpulte treibt – ganz gleich, ob die nun auf der politischen, der wissenschaftlichen oder wirtschaftlichen Bühne stehen. Das Dumme aber ist: Das am meisten Ersehnte macht am meisten Angst! Denn wer gesehen wird, der wird auch angesehen, am Ende gar: durchschaut?

Mit anderen Worten: Es ist – neben evolutionär antrainierten Reflexen – vor allem die Scham, die uns vor dem Redeauftritt die Röte ins Gesicht treibt. Um sie zu mildern, wird ein Wochenendseminar kaum ausreichen. Der Weg ist länger und er führt zunächst: zurück. An die Anfänge des schamhaften Miteinanders. Der amerikanische Psychoanalytiker Leon Wurmser schreibt dazu in seinem Standard-Werk „Die Maske der Scham“:

„Die Wechselwirkung zwischen den Augen ist die intimste Beziehung, die zwischen den Menschen möglich ist. ... [Schon das zwei bis drei Monate alte Kind zeigt] eine durchgängige Abwendung des Blicks, wenn die Mutter zu zudringlich oder unberechenbar nahe und dann wieder fern zu sein pflegt ... Liebe wie Ungeliebtheit, Macht wie Ohnmacht – all das wird ganz mächtig in dieser Wechselwirkung zwischen Gesicht und Auge, Musikalität und Wärme der Stimme ... zwischen Mutter und Kind [ausgetragen].“

In diesem Erlebenszusammenhang – nicht in ein paar Verhaltens-Oberflächlichkeiten – wurzelt auch das rednerische Unbehagen. Die fremden und durchdringenden Blicke auf unser Selbst sind es, vor denen uns die Scham schützen will und die doch zugelassen werden müssen, wenn die Rede gut sein soll. Denn: Gute Reden – die eigene Erinnerung bestätigt dies schnell – sind immer persönliche Reden. Und wenn das Thema noch so trocken und sachbezogen ist: Solange nicht deutlich wird, was es dem Redner bedeutet, lässt es die Zuhörer kühl.

Persönlich und frei reden aber kann nur, wer mit sich und seiner Selbst-Darstellung im Reinen und von der Legitimität seines Tuns überzeugt ist: Wer sie nicht mit unerlaubter Manipulation verwechselt, wer sich selbst nicht der Eitelkeit bezichtigt und wer vor allem nicht den Fehler begeht, auf jeden Fall eins sein zu wollen: authentisch!

Denn das ist das vielleicht schwerwiegendste Missverständnis von allen rund um die öffentliche Rede: dass erfolgreiche Redner authentisch seien. Verstanden als Forderung nach persönlicher Authentizität, im Sinne von „sei einfach der, der Du wirklich bist“, geht das Vorhaben zumeist nach hinten los. Denn in dieser Form läuft es auf die unterschwellige Aufforderung hinaus, sich sozusagen „in der Unterhose“, völlig nackt gar, dem Publikum zu zeigen. Wer sich bisher nicht schämte, der tut es – unbewusst – spätestens dann.

Worauf es stattdessen ankommt ist: Rollen-Authentizität. Wie auf dem Theater und im Film geht es darum, eine bestimmte Figur glaubwürdig darzustellen. Das allerdings geht dann nicht ohne Beteiligung des eigenen Ich: „Ich zehre als Schauspieler von meinen Lebenserfahrungen. Ich versuche, einen gemeinsamen emotionalen Nenner zu finden, eine Schnittstelle“, erklärte kürzlich der deutsche Filmschauspieler Moritz Bleibtreu über seine Arbeit – die der Arbeit eines Redners an sich selbst viel ähnlicher ist als viele denken mögen. Denn, auch das betonte Bleibtreu: „Wir spielen doch alle ständig irgendwelche Rollen.“

Die Lieblingsrolle des Helden kann für einen guten Redner dabei zur Rolle des Lebens werden – wenn er sie denn lieben lernt!.

Beitrag von Peter Sprong.
Bildquellen in Reihenfolge: privat

Zur Person

Peter Sprong, geboren 1966 in Leverkusen, lebt und arbeitet als freier Autor, PR-Journalist und Redenschreiber in Köln. Seit über zehn Jahren berät er Top-Führungskräfte der deutschen Wirtschaft rund um das Thema Reden und Präsentieren.

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Themen: Gesellschaft
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