Die zerstörerische Güte der Natur – Katastrophen am Vesuv
Unter dem großen Eindruck, den die Vesuvstädte Herculaneum und Pompeji während seiner Italienreise auf ihn machten, bemerkte Goethe 1787 in seinem Tagebuch: „Es ist viel Unheil in der Welt geschehen, aber wenig, das den Nachkommen so viel Freude gemacht hätte.“ Und tatsächlich führten die zwischen 1711 und 1748 begonnenen systematischen Ausgrabungen der unter der Vulkanasche des Vesuvs verschütteten Städte zu einem wahren Fieber der Antikenbegeisterung. Der in Italien, aber bereits auch in England in Mode gekommene klassizistische Stil (Palladianismus) erfuhr eine erneute gewaltige Anregung, der Handel mit griechischen, römischen, auch ägyptischen Plastiken und ihren Nachahmungen boomte, denn Kunst und Architektur des Alten Roms ließen sich auf einmal in einer für die Jahrhunderte festgehaltenen und begehbaren Momentaufnahme antiken Stadtlebens studieren. Adlige und Gelehrte, Künstler und Architekten aus ganz Europa besuchten in Scharen die Ausgrabungsorte.
An Faszination haben sie bis heute nicht verloren. Und das ungebrochen große Publikumsinteresse hat gewiss seinen Teil dazu beigetragen, dass seit dem 9. Dezember in Halle eine Pompeji-Ausstellung zu sehen ist, die sich mit den jüngst in New York oder Paris eröffneten durchaus messen kann. Ergänzt wird sie ab dem Frühjahr durch eine Korrespondenzausstellung im Gartenreich Wörlitz bei Dessau. Die Ausstellungsorte erscheinen unerwartet, was allerdings ein Vorurteil ist.
Antike im Bildungspark
Denn nicht nur Goethe, auch der Dresdner Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff war ganz in den Bann der durch den Vulkanausbruch des Jahres 79 konservierten Bauten gezogen, „die in ihren mahlerischen Trümmern noch so ungemein interessant und für einen Liebhaber der Baukunst so unterrichtend sind.“ Derart unterrichtet erbaute Erdmannsdorff in den Diensten des Fürsten Franz von Anhalt-Dessau mit dem Schloss in Wörlitz nicht nur den ersten frühklassizistischen Bau in deutschen Landen. Auch ein riesiger Park, im Stile der englischen Gartenlandschaft, wurde unter seiner maßgeblichen Führung angelegt, reich an Verweisen auf die antiken Welten, die Fürst wie Architekt auf ihrer Grand Tour besichtigt hatten. Auf mehr als 140 Quadratkilometer sollte sich dieses Gartenreich bei seiner Vollendung erstrecken.
Doch trotz Superlativen war Wörlitz nie Lustpark aristokratischer Prunksucht, sondern – für die spätfeudale Zeit ganz unerhörterweise - ein für jedermann offen stehender Bildungspark, der „nuetzlich seyn und belehren“ sollte: Kein Zaun und kein Wachsoldat, der dem interessierten Besucher den Weg versperrte. Selbst das Schlafgemach der Fürstin durfte man betreten.
In Wörlitz konnten nicht nur Kopien antiker Statuen oder die klassizistischen Bauten Erdmanndorffs bestaunt werden, sondern auch ganz praktische Errungenschaften. Rund um den Tempel der Flora, der Göttin der Getreideblüte, demonstrierten Mustergüter verbesserte Methoden in der Landwirtschaft. Über den Park verstreute Brücken, wie etwa eine Replik der berühmten Iron Bridge zeigten die neuesten technischen Fortschritte in der Ingenieurskunst. Das Schöne sollte mit dem Nützlichen verbunden werden; Zweckbauten und Pflanzungen, Landstraßen und Siedlungen, Felder und Wiesen wurden verschönert und nach gestalterischen Gesichtspunkten in den Landschaftspark einbezogen.
Ein Monument jedoch sticht nach wie vor ins Auge, fällt heraus aus soviel harmonischer Landschaftsgestaltung, Offenheit und optimistischer Zukunftsgewandtheit: „Aber um so grausender ist der Contrast, wenn man sich umdreht und nun den konisch zugespitzten Feuerschlund hinter sich erblickt,“ fand auch Carl August Boettiger, ein zeitgenössischer Besucher. Auf einer aus Findlingen aufgeschütteten Insel, dem „Stein“, thront bis heute en miniature ein künstlicher Vesuv, an dessen Krater Lampen gehängt werden konnten, „um das Feuer zu beleuchten, was der Berg auswirft, und der flüssigen Lava einen brennenden Glutschein zu geben. Denn um dies fürchterlichste aller Naturschauspiele in seiner größten Vollkommenheit zu geben, kann durch ein Triebwerk unten aus dem See das Wasser bis in den Bauch des Kraters heraufgepumpt werden. Ist nun der Krater mit Pulverrädern und Schwärmern geladen, entzünden sich im schnellen Huy die aufgesteckten Lampenreihn und beginnt die schreckbare Explosion, so rauscht zu gleicher Zeit (…) ein Wasserstrom den obern Krater herab, der, von Lampenschein und Raketenblitz erleuchtet, ganz natürlich wie geschmolzener Feuerstrom aussieht.“
Die Ursprünge der modernen Vulkanologie
Was hat dieser Katastrophenvulkan, der nicht nur Pompeji und Herculaneum unter seiner Asche und Lava begraben, sondern erst im 17. Jahrhundert erneut das Leben kampanischer Ortschaften ausgetilgt hatte, in dem fürstlichen Gartenreich von Wörlitz, diesem Pilgerort der Aufklärung zu suchen? Diente er dem ganz großen Spektakel, um durchlauchtige Gäste wie den König von Preußen oder die Herzöge von Weimar zu belustigen? Sicherlich auch. Es finden sich aber noch andere Hinweise auf die ursprüngliche Bestimmung dieses Kunstvulkans.
Zum einem wäre da seine Nachbarschaft zur Villa Hamilton. Diese Villa verdankt nicht nur ihren Namen dem britischen Diplomaten und notorischen Antikensammler William Hamilton. Ihr Inneres schmücken zahlreiche Antikenstatuen,römisch inspirierte Grotesken, prächtige Landschaftsbilder, Deckengemälde des Vesuvs und aus Lavagestein gefertigtes Mobiliar. Alles Dinge, um deren Wörlitzer Rezeption sich Hamilton durch seine Freundschaft zu Fürst und Architekt verdient gemacht hatte. Pate stand dem überschaubaren Bau von Wörlitz Hamiltons Strandresidenz am Golf von Neapel. Von dort hatte der Diplomat den Vesuv nicht nur beobachtet, sondern ihn auch etliche Male bestiegen. Selbst in wortwörtlich brenzligen Situationen. Geologische Beschaffenheit, vulkanische Flora oder kleinere Ausbrüche des Vulkans, alles wurde von Hamilton minutiös festgehalten. Seine Aufzeichnungen und Sammlungen von vulkanischem Gestein gelten daher als Gründungsdokumente der modernen Vulkanologie überhaupt. Auch daran will die Vesuvminiatur von Wörlitz erinnern. Dem engen Zusammenhang zwischen dem erwachenden naturwissenschaftlichen Interesse an den vulkanischen Phänomenen und den antiken Welten, die diese der Nachwelt bewahrten, hätte kein besseres Denkmal gesetzt werden können.
Keine Katastrophe, sondern ein Segen
An das neue Naturverständnis der Aufklärung erinnert im Wörlitzer Park aber auch noch eine weitere Persönlichkeit. Es ist der vom Fürsten hochverehrte Philosoph Jean-Jaques Rousseau, zu dessen Gedächtnis Franz eine ganze Insel im Park anlegen ließ. Vielleicht wie kein anderer Aufklärer stand Rousseau für ein optimistisches Naturbild, dem es ganz unmöglich war, den Vulkan einseitig als Katastrophenberg zu betrachten. Denn die Natur an sich wurde nicht nur als schön empfunden, wie das Streben nach natürlich verstandenen Formen auch im Wörlitzer Gartenreich allerorten veranschaulicht. In dem Drang, die Gesetzmäßigkeiten der Natur zu begreifen, fand die Aufklärung sie darüber hinaus auch auf das Beste eingerichtet.
1631 war die letzte große Eruption des Vesuvs noch ganz anders gedeutet worden. Als ungeheure Strafe apokalyptischen Ausmaßes für die menschlichen Sünden und Frevel hatte sie ganz Europa sich grausen lassen. Um Gottes Zorn zu beruhigen, geißelten sich nicht nur Neapels Prostituierte, die halbe Stadt warf sich ins Büßergewand. In der Überwindung solchen Aberglaubens deuteten die Aufklärer ein Jahrhundert später die Vulkanausbrüche nun revolutionär anders. Nicht als Strafe, sondern als Segen müsse man sie betrachten. Denn wie jeder andere Vulkan auch, bot der Vesuv dem „Feuer und der Luft freien Austritt“ und verhinderte so, dass diese „zerstörerischen Kräfte außerhalb bestimmter Grenzen (…) das Anlitz unserer Erdballs gänzlich verwüsten könnten,“ wie der französische Naturforscher Charles de Brosses urteilte.
Natürlich ging es den Naturforschern wie de Brosses oder Hamilton auch um Prävention, sozusagen um Katastrophenprophylaxe durch empirische Vulkanbeobachtung. Im wachen Bewußtsein ihrer Todesgefahren bewunderten diese Pioniere jedoch stets die Güte der Natur, mit der es in harmonischem Einklang zu leben galt. Auch hiervon kündet der Vesuv von Wörlitz, an dessem Hain versucht wurde – unter den Klimabedingungen der Mittelelbe – die Vegetation des Golfs von Neapel wiederzugeben, die nirgends üppiger ist „als in der Nähe der Vulkane in dem von Schwefel geschwängerten Boden“ wie auch Boettiger wußte.
Rom zwischen Saale und Elbe
Wahrscheinlich war es dieser fruchtbare Boden, der Menschen schon seit dem Beginn ihrer Geschichte in unmittelbarer Nähe von Vulkanen zu siedeln veranlasste. Die vor wenigen Jahren in Kampanien entdeckten frühmenschlichen Fußspuren in einer über 325.000 Jahre alten vulkanischen Schicht deuten darauf hin. Auch von dieser uralten Geschichte menschlicher Siedlungen in tödlicher Nachbarschaft mit dem Vulkan erzählt die eigentliche Ausstellung „Katastrophen am Vesuv“ , achtzig Kilometer südwestlich von Wörlitz. Die Ausstellung im Landesmuseum von Halle schlägt ohnehin große Bögen; etwa von den bronzezeitlichen Siedlungen am Fuße des Vesuvs zu denen an der Saale, von den römischen Grabbeigaben germanischer Fürsten in der Nähe Halles zu nahezu identischen Objekten aus Pompeji; und natürlich von den Ausgrabungen Pompejis zu der Wörlitzer Antikenrezeption des Fürsten Franz.
Ganz nach dem Motto, dass ein bisschen Rom immer schon zwischen Saale und Elbe beheimatet war, ist es den Halleschen Kuratoren in der Tat gelungen, zahlreiche und seltene Exponate ins Landesmuseum zu bringen. Viele von ihnen sind erstmals nördlich der Alpen zu sehen. Unter ihnen finden sich weltberühmte Stücke, wie zum Beispiel eine der bronzenen Läuferstatuen aus der Villa dei Papiri in Herculaneum. Aber auch zahlreiche Exponate, die erst in der jüngsten Vergangenheit zu Tage kamen, kann man in Halle bestaunen: Zum ersten Mal überhaupt zwei Papyrusrollen aus der Privatbibliothek des Konsul Pisos, Schwiegervater Julius Cäsars. Im Übrigen gibt die Hallenser Ausstellung einen wunderbaren Querschnitt durch die immer noch atemberaubende Momentaufnahme antiken Lebens in Pompeji und Herculaneum in seiner ganzen Breite; von den Gladiatorenhelmen bis zum Arztbesteck.
Die Ausstellung in Halle lohnt an sich einen Besuch, denn wer eine ähnlich beeindruckende Sammlung sehen will, muss ansonsten eine Reise nach Neapel antreten. Ihr roter Faden ist jedoch die wechselhafte Geschichte vom Leben am Fuße des Vesuvs, der die kampanische Landschaft schon lange vor römischer Zeit prägte. So rückt die Ausstellung auch Orte in den Mittelpunkt, die außerhalb der Fachwelt nur wenig bekannt sind: Etwa Nola, eine der bereits genannten bronzezeitlichen Siedlungen. Sie gilt als Pompeji der Bronzezeit, denn die einfachen Hütten und sogar Tierskelette sind durch einen Ausbruch des Vesuvs 1900 v. Chr. genauso gut erhalten worden wie die Bauten der Antike. Allein die Menschen hatten mehr Glück, vielleicht auch mehr Verstand, denn sie scheinen dem Ausbruch entkommen zu sein, ihren Besitz hinter sich zurücklassend, von dem sie sich offenbar leichter trennen konnten als viele der reichen Pompejaner.
Auf diese Weise erzählt die Ausstellung auch vom Leben der Menschen mit und ihrem Sterben durch den Vulkan, von menschlicher Hybris und der Umkehr zur Vernunft; von einer unbestimmten Apokalypsenangst zu rationalen Einsichten in die Natur. Am Ende bleibt das beklemmende Gefühl, dass wir Heutigen uns von diesen Einsichten gefährlich weit entfernt haben. Denn die Natur, die dem aufgeklärten Menschen noch als vollkommen ideal und vernünftig eingerichtet erschien, setzt uns angesichts von Katastrophen wie jüngst in Japan in Angst und Schrecken. Nicht, weil die Natur sich geändert hat, sondern unser Umgang mit ihr. Die Hallenser Pompeji-Ausstellung lädt zum Nachdenken auch darüber ein.
„Pompeji, Nola, Herculaneum: Katastrophen am Vesuv“.
Im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle bis zum 8. Juni 2012. Der Katalog kostet 34,90 €.
„Fremde Welt ganz nah: Pompeji und Herculaneum im Gartenreich Dessau-Wörlitz.“
21. April bis 26. August 2012.
Zur Person
Joachim Jachnow ist Chefredakteur von sciencegarden .