Akademische Fleißarbeit

Arnim Regenbogen: „Chronik der philosophischen Werke“ Arnim Regenbogen hat eine Chronik der philosophischen Werke verfasst, die Einsichten in unbekannte Bezüge verspricht, jedoch vor allem eines belegt: Querverbindungen entstehen im Kopf.

Google, Wikipedia und Co. sind aus der Wissenschaft nicht mehr wegzudenken. Wer erste Orientierung und schnelle Informationen sucht, greift längst nicht mehr zu Handbuch und Lexikon – ein Klick, und der Browser ist parat. Man kann sich darin von Seite zu Seite, von Link zu Link hangeln und kommt dabei oft vom Hundersten ins Tausendste, entdeckt aber auch nicht selten ungeahnte, immer neue Querverbindungen, die kaum ein Druckerzeugnis bieten kann. Auch mit der Aktualität hat das gedruckte Wort bekanntlich seine Schwierigkeiten. Der Siegeszug des Internets ist deshalb schon manchem Buchschwergewicht aus der Abteilung Nachschlagewerke zum Verhängnis geworden, darunter so renommierte Dinosaurier wie der Brockhaus. Doch noch wäre es zu früh, einer ganzen Gattung das Totenglöckchen zu läuten. Nicht allein, weil Lexika und Handbücher an höheren Bildungseinrichtungen noch immer unentbehrlich sind. Offenbar lässt der digitale survival of the fittest genügend Nischen für altehrwürdige Formate ebenso wie innovative Kreationen.

So hat der Hamburger Meiner-Verlag unlängst seine runderneuerte und rundum überzeugende Enzyklopädie Philosophie vorgestellt. Gegen den Zeitgeist ist auch die soeben erschienene Chronik der philosophischen Werke aus demselben Haus gerichtet – und das gleich doppelt. Das umfangreiche Buch, dessen Klappentext genau das verheißt, was man sich beim Surfen im Internet im Idealfall erhofft, nämlich „Entdeckungen, den Aufweis und Nachvollzug neuer, bisher unbeachtet gebliebener Querverbindungen“, hebt mit der Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert an und entfaltet von dort aus bis ins 20. Jahrhundert die Chronologie bedeutender philosophischer Werke und Programmschriften. Auf den ersten Blick ist das ein gleichermaßen bienenfleißiges wie voraussetzungsloses Unternehmen – was sogleich die Frage aufwirft: Zu welchem Nutzen? Spielt das Erscheinungsdatum eines Werkes irgendeine Rolle?

In seiner posthum veröffentlichten Manuskriptsammlung Die Verführbarkeit des Philosophen diskutiert der philosophische Solitär Hans Blumenberg eben diese Frage. Verknüpfe man sie mit der Frage nach der Wirkung, so Blumenberg, laute die Antwort: „ja, aber“. Denn gewiss hängt die Wirkung eines Werkes von Umständen ab, die „vom Datum der Publikation nicht getrennt werden können.“ Doch die Kontingenz der Daten und Fristen habe „mit der ‚Folgerichtigkeit‘ des Zueinander und Nacheinander“ von aufeinander bezogenen Werken und deren Wirkungsgeschichten „wenig zu tun.“ Das gelte selbst, ja exemplarisch, für Kants Kritik der reinen Vernunft, deren Etikettierung als Krone der Aufklärung für Blumenberg keinesfalls mit ihrem Erscheinungsdatum korreliert. Blumenberg interpretiert die Wirkungsgeschichte des Buches als eine Aneinanderreihung von Missverständnissen, die erst 1924 durch einen wegweisenden Aufsatz des Kantforschers Julius Ebbinghaus ( Kantinterpretation und Kantkritik ) unterbrochen worden sei.

Jedenfalls, so Blumenbergs Fazit, ist die Frage, ob und wann ein Werk verstanden werde, „genauso kontingent wie, wann und daß überhaupt es entsteht und erscheint.“ Wozu dann also eine Chronik philosophischer Werke? Welche Beziehungsgeflechte könnte sie angesichts uferloser Kontingenzen und kaum überschaubarer Fernwirkungen zwischen den einzelnen Epochen und Provinzen des Geistes abbilden, welche (ausgetretenen, einschlägigen, unerwarteten?) Querverbindungen aufzeigen – im engen Rahmen kurzgefasster Inhaltsangaben und ohne Hyperlinks? Was, so ließe sich schließlich hinzufügen, ist mit den zahllosen unbekannten Werken aus dem Kontext der zu kanonischen „Klassikern“ promovierten Glanzlichter, den profanen Logikbüchern zum Beispiel, die Hegel neben berühmten Zeitgenossen studierte, bevor er seine Logik schrieb? Oder den historischen Ereignissen, die für die Hauptwerke von erheblichem Gewicht waren – im Falle Hegels etwa die Französische Revolution oder, so legt es Susann Buck-Morss in einem kürzlich auf Deutsch erschienenen, herzerfrischenden Aufsatz ( Hegel und Haiti ) nahe, der karibische Sklavenaufstand von 1791/92?!

Selbst wenn man die Chronik an ihren eigenen Ansprüchen misst, fällt die Antwort bescheiden aus: Zwar werfen die konzisen Überblickskapitel zu jedem Jahrhundert ein erstes erhellendes Licht auf eben jene Zusammenhänge, in deren Geflecht man nach der Lektüre des Klappentextes einzudringen erwartet; die einzelnen Einträge aber bleiben untereinander viel zu oft beziehungslos. So wird man in der Darstellung zur Philosophie des 16. Jahrhunderts etwa darüber informiert, dass der italienische Diplomat und Schriftsteller Giovanni Botero von der Politiktheorie Jean Bodins ( Les six livres de la république , erschienen 1576) beeinflusst ist, findet im Artikel zu Della ragione di stato (1589) jedoch lediglich einen Verweis auf Machiavelli, von dem Botero sich abgrenzte.

Der historische Fortgang der Geistesgeschichte macht das Unterfangen, bestehende und möglicherweise bis dato unbeachtete Bezüge aufzuklären, immer hoffnungsloser. Entdeckungen, der „Aufweis und Nachvollzug neuer, bisher unbeachtet gebliebener Querverbindungen“ werden sich mit diesem Nachschlagewerk, ohne Rückgriff auf die einleitenden Kapitel, daher kaum bewerkstelligen lassen. Zu viele Einflüsse und Bezüge, zu viele Werke bleiben – notgedrungen – ungenannt, zu willkürlich erscheint demgegenüber jede Auswahl. Wer die Chronik – Frucht eines langen Gelehrtenlebens – nutzen und sich darin nicht ebenso verlieren will wie der ziellose Surfer in den mäandernden Weiten des World Wide Web, sollte deshalb erhebliche Vorkenntnisse mitbringen. In diesem Fall jedoch dürften die Querverbindungen, die die Chronik herzustellen verspricht, längst angelegt sein – in den Köpfen ihrer kundigen Leserinnen und Leser.

Beitrag von Christian Dries.
Bildquellen in Reihenfolge: Meiner-Verlag, Hamburg

Zur Person

Christian Dries ist akademischer Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Universität Freiburg und Redakteur von sciencegarden .

Literatur

  • Arnim Regenbogen (2011): Chronik der philosophischen Werke. Von der Erfindung des Buchdrucks bis ins 20. Jahrhundert. Hamburg, 639 S., geb., 68,00 Euro (Paperbackausgabe 48,00 Euro).

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Themen: Medien | Philosophie | Wissensgesellschaft
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