Attraktivität aus evolutionärer Sicht
Obwohl die Faktenlage zur Ähnlichkeit als Partnerwahlkriterium noch recht dürftig ist, gibt es bereits Mutmaßungen über deren evolutionären Sinn…
Welchen Vorteil hat beispielsweise ein Mann davon, wenn er eine Partnerin wählt, die entweder ihm selbst oder seiner Mutter ähnlich sieht? Attraktivitätsforscher argumentieren, ein vergleichbares Äußeres lasse auch auf eine übereinstimmende genetische Ausstattung schließen. Die Nachkommen solcher Menschen hätten dadurch Genkombinationen, die zur Vermeidung von Krankheiten vielversprechend erscheinen, meint die Psychologin Martha McClintock. Etliche Evolutionsbiologen teilen diese Einschätzung: Wer sich mit einem Verwandten paare, bewahre sich dadurch Genkombinationen, die für das Leben in einer bestimmten Umgebung besonders günstig seien.
Was sich zunächst ganz plausibel anhört, sieht bei genauerem Hinsehen nach einem vollen Eigentor der Attraktivitätsforscher aus. Denn konsequent zu Ende gedacht bedeutet dies nichts anderes, als dass Inzucht evolutionär adaptiv sei. Und dem ist natürlich nicht so. Nachkommen von engen Blutsverwandten (zum Beispiel bei ägyptischen Pharaonen, die ihre eigene Schwester zur Frau nahmen) weisen ein drastisch erhöhtes Risiko von Erbkrankheiten und Fehlbildungen auf und selbst bei großen Fortpflanzungsgemeinschaften, bei denen viele Partner untereinander auch nur entfernt verwandt sind, wie beispielsweise beim englischen Adel, lassen sich Häufungen von Gendefekten und Erbkrankheiten nachweisen.
Außerdem widersprechen sich die Forscher selbst, denn zwei bekannte andere Phänomene der Attraktivitätswahrnehmung erklären sie seit langem mit dem Gegenteil: Durchschnitt und Symmetrie gelten als besonders schön. Hier nämlich greifen sie zu folgender Logik: Ein durchschnittliches und symmetrisches Gesicht entsteht besonders bei Mischerbigkeit. So wie man bei einem perfekt gemischten Kartenspiel selten nur eine Farbe auf die Hand bekommen wird, sind bei einem mischerbigen Menschen extreme Merkmale einfach unwahrscheinlicher. Damit einher geht aber auch, dass bestimmte Erbkrankheiten weniger Chancen haben, nämlich solche, die mehrere gleiche Gendefekte benötigen, um aufzutreten. Mischerbigkeit soll also ein Zeichen „guter Gene“ sein und Symmetrie und Durchschnittsgesicht für uns ein Signal für Gesundheit.
Diese windige Argumentationsweise der Evolutionsbiologen zeigt ein grundsätzliches Dilemma evolutionsbiologischer Erklärungen für menschliches Verhalten: Es sind eigentlich keine Erklärungen, sondern lediglich Interpretationen im Nachhinein für bestimmte Phänomene. Ihre größten Vorteile sind, dass sie auf einer umfassenden, fundierten Theorie aufbauen – der Evolutionstheorie – deren grundsätzliche Gültigkeit außer Zweifel steht. Nachteilig ist jedoch, dass sich aus ihr keineswegs so konkrete Vorhersagen ableiten lassen, wie manche ihrer Vertreter es gerne hätten. Und dass sie mal für die eine Argumentation herhalten muss und mal für ihr Gegenteil, liegt nicht zuletzt daran, dass ihre experimentelle Überprüfung am Menschen schwierig ist. Denn im Gegensatz zu Mäusen oder Fruchtfliegen kann man beim Homo sapiens eben nicht so einfach bestimmte Individuen miteinander kreuzen und messen, wie sich dies auf Merkmale der Nachkommen in zehn Generationen auswirkt.