Dezember 2001

Jesus würde vom Kreuz fallen ...

... wenn er uns Weihnachten sehen könnte. Oder? Wir sind in der weihnachtlichen Umlaufbahn und haben Vorfreude und Aggression, Sehnsucht und Hoffnung, Konflikte und Tränen. Ein Einblick in die Weihnachtsforschung und Lesetipps.

Eine totale Gleichgültigkeit gegenüber Weihnachten, diesen Wunsch haben wohl viele strenggläubige Atheisten - und doch wird es wieder nicht gelingen: diese vier Adventssonntage mit dem abschließenden Fest erzeugen viel Freude und viel Hass. Irgendwie ist die Hölle los, aber keinen lässt das kalt. "Weihnachtsfrust - Weihnachtslust" haben die Herausgeber einen Band genannt, in dem Gefühle, Sehnsüchte und Erfahrungen rund um das Weihnachtsfest versammelt sind, einige essayistische Texte, aber auch eine qualitative Studie. Man hat Weihnachtsforschung betrieben, einen Fragebogen entwickelt und ihn 115 Personen vorgelegt, primär jungen Erwachsenen. Nach der Auswertung wurden die Kategorien eingeteilt und auch der Leser dürfte sich in einer beheimatet fühlen: gefragt nach "Weihnachten?" kann man tendenziell mit "Ja, bitte!", "Nein danke!", "Ja, aber" antworten oder zurückfragen: "Ja, aber wie?".

Warum ist Weihnachten auch für viele junge Erwachsene ein Konfliktfeld? Nach Ansicht der Weihnachtsforscher ist es alles andere als nur eine stille Nacht, die Tage sind - psychoanalytisch gesprochen - affektiv hochbesetzt. Gerade junge Erwachsene sind hier innerlich einem Problem ausgesetzt: einerseits wollen sie wieder Kind sein, mit leuchtenden Augen und Kerzenschein. Anderseits fehlt dazu die Souveränität, weil man sich gerade halbwegs erfolgreich von den Eltern emanzipiert hat und daher die noch junge Eigenständigkeit überbetonen muss. Das erzeugt nicht selten Aggressionen, entweder gegen sich selbst, gegen die Eltern oder gegen abstrakte Gegner wie "die Gesellschaft", oft dient auch "die Kirche" als Projektionsfläche. Das christliche Fest ruft - so die Herausgeberin - psychosoziale Entwicklungsaufgaben auf den Plan; man hat da oft kaum Wahlmöglichkeiten. Die Erwartungen sind hoch und nicht selten idealistisch.

Vor noch 100 Jahren war Weihnachten mit vorgeschriebener Dramaturgie einfach da, heute ist auch diese Tradition individualisiert. Jede Lebensform muss sich ihr Fest selbst authentisch, schön, besinnlich erfinden - aber wie soll man das ohne Vorbilder machen? Nach Meinung der Herausgeber, eine Pädagogin und ein Theologe, sind Hass und Flucht da eher als misslungene Lösungen anzusehen. Die totale Ablehnung der Tradition hinterlässt leider nur ein Vakuum, wenn man Unfähig ist, an diese Stelle etwas neues, anderes gleichwertiges zu setzen. Und die gewagten Neuversuche sind fragil, weil die Erwartungen meist die alten bleiben. Man flieht vor dem Weihnachtsbaum, aber in der Disco ist es unatmosphärisch. Man entflieht der Familie, was nicht selten angebracht ist, stößt aber im Freundeskreis auf ein ungelenkes Bemühen, eine alternative Besinnlichkeit an die Stelle der (scheinbar) verlogenen zu setzen.

Aber dennoch ist es der einzige Weg: Wen sein Weihnachten stört, wer alles für verlogen und inszeniert hält, der muss selbst etwas auf die Beine stellen. Der kann Reformen in der eigenen Familie einleiten. Der kann - wenn er sich im endlosen Klagen nicht mehr gefällt - irgend etwas tun. Auch für neue Weihnachtslust finden sich im Buch gelungene Beispiele.

Nun stoßen sich viele an der perversen Materialschlacht zu Weihnachten. Die unterscheidet sich zwar kaum von der ganzjährigen, aber selbst Konsumbegeisterte äußern sich im Dezember franziskanisch-asketisch. Mir scheint das verlogen, aber hier darf man sich scheinbar mit breiter Zustimmung über den Kapitalismus beklagen - ohne sofort als Idealist beschimpft zu werden. Dem Konsum aus dem Weg zu gehen und Besinnlichkeit aufkommen zu lassen, dafür sorgt wie jedes Jahr eine große Zahl an Büchern. Hier kann man lachen, weinen, schmunzeln oder über Gerechtigkeit, Gott, die Welt nachdenken. Man muss für die Lesefreude allerdings kurz teilnehmen am Konsum, folgende Titel sind käuflich in den Buchläden zu erwerben und: es lohnt sich!

Beitrag von Frank Berzbach

Links zum Thema

  • Adventskalender 1
  • Adventskalender 2

Literatur

  • Helmut Tschöpe / Sigrid Tschöpe-Scheffler (Hg.): Weihnachtslust - Weihnachtsfrust. Gefühle, Sehnsüchte und Erfahrungen rund um ein altes Fest. Grünewald Verlag, Mainz: 1997 (Erbauliche Weihnachtsforschung, siehe oben)
  • Hans Ch. Andersen: Weihnachts- und Wintermärchen. Insel, Frankfurt a. Main: 2000 (Richtige, klassische Märchen.)
  • Paul Auster: Auggie Wrens Weihnachtsgeschichte. In: Paul Auster / Wayne Wang: Smoke / Blue in the Face. Zwei Filme. Rowohlt, Hamburg: 1995 (Wunderbare Story, man denkt ständig an Harvey Keithel, Brooklyn, Lou Reed ...)
  • Deutsche Weihnacht. Ein Familienalbum 1900-1945. Hg. von Birgit Jochens. 3. Aufl., Nicolai, Berlin: 2001 (Eine normale Familie hat jedes Jahr Fotos an Weihnachten gemacht und man kann so der Geschichte folgen: Krieg, Frieden ...)
  • Charles Dickens: Alle Weihnachtserzählungen. Aufbau Verlag, Berlin: 1998 (Besser als im Fernsehen!)
  • Volker Kriegel: Olaf, der Elch. Eine Weihnachtsgeschichte. Haffmanns Verlag, Zürich: 1999 (Wunderschönes Bilderbuch, ideales Geschenk für Kinder bis 95)
  • Jens Soentgen: Die Zimtsternstory. Ein Weihnachtsaufsatz. Peter Hammer Verlag, Wuppertal: 2001 (Aufgemacht wie ein Kinderschreibheft, mit Korrekturen ...)
  • Die schönsten Weihnachtsgedichte. Von Luther bis Gernhard. Ausgewählt von Gesine Dammel. Insel, Frankfurt a. Main: 2000. (Lyrik aus 500 Jahren)
  • Weihnachten. Prosa aus der Weltlitertur. Manesse Verlag im dtv, München: 1994 (Besinnliches aus der Bibel, Adalbert Stifter für den konservativen Großonkel, Maxim Gorki für die Alt 68er, Andersen zum Vorlesen für die Kleinen, Schocker von Dostojewski, anzügliches von Maupassant, avantgardistisches von Robert Walser u.a.)
  • Die Bibel. Weihnachten: Lukas 2,1-20 und Matthäus 2, 1-12. Ausgaben: mit/ohne Goldschnitt, mit/ohne Reisverschluss, Leinen, Leder, Hardcover oder Taschenbuch, mit Dürer, Chagall, Dali oder Hundertwasser Illustrationen. Ca. 8 bis 800 DM. Oder: in alten Bibliotheken stöbern. (Weihnachten unplugged)
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