März 2002

Gebildet oder Naturwissenschaftler?

Buchtipp: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen DeutungsmustersIn der konservativen deutschen Bildungstradition wurden die Naturwissenschaften meist ignoriert. Einige Wissenschaftler schreiben dagegen an, für Studierende ist die Lektüre lohnenswert. Neue und alte Bücher zum deutschen Phänomen Bildung ...

Die Zielvorstellungen am Beginn eines Studiums sind meist diffus. Vorhanden ist oft nur ein abstraktes Ziel. In einem sind sich Großeltern, Eltern und Kinder aber einig: Das Studium soll dem Erwerb von Bildung dienen. Keiner möchte, nachdem er Jahre an der Hochschule verbracht hat, ungebildet sein. Und Bildung ist mehr als nur der Erwerb von Wissen, was aber genau? Für bildungsbürgerliche Großeltern ist es die Kenntnis von Latein, Griechisch und schlimmstenfalls sogar Wagner. Für die Eltern schon lieber die Kenntnis von Gesellschafts- und Machtstrukturen, Marx, Engels und Wirtschaftssystemen. Aber die Enkel der deutschen Bildungstradition - was sollen wir als neue Variante erfinden? Latein oder Marx mögen noch Eintrittskarten in gewisse Milieus sein, aber was bieten sie darüber hinaus?

Allen drei Generationen ist auch gemeinsam, dass sie zu Büchern greifen, wenn es um schwierige Fragen geht. Einige ältere und neuere Publikationen widmen sich dem Thema Bildung; nützliche Lektüre für den Bauplan fürs eigene Bildungsprojekt.

Der Klassiker zum Thema Bildung stammt von der Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann. Ihre Arbeit am nationalen Gedächtnis bringt die vielfältigen, aber unzusammenhängenden Ergebnisse der interdisziplinären Bildungsforschung in einen kulturgeschichtlichen Zusammenhang und auf nur 100 Seiten gelingt es der Autorin die Eigentümlichkeiten der deutschen Bildungsidee völlig einleuchtend zu erläutern. Aleida Assmann muss dafür zwar große Zusammenhänge enorm verdichten, was die Lektüre streckenweise zur Arbeit werden lässt, die sich jedoch lohnt. Anschaulich wird die Fusion von griechischen und christlichen Bildungskonzepten in der deutschen Klassik beschrieben und schließlich die fatale Wendung hin zum Nationalismus im 19. Jahrhundert.

Wer durch Assmanns faszinierenden Einblick auf den Geschmack gekommen ist, kann anschließend zu Georg Bollenbecks Bildung und Kultur greifen. Die differenzierte, aber dennoch gut lesbare Studie präsentiert umfassendes Wissen um "Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters" - so der Untertitel des Buches. Bollenbeck benötigt auch 100 Seiten - allerdings nur für die Anmerkungen! Sehr viele kulturgeschichtlichen Fragen sind damit aber auch beantwortet. Zwar enden beide Geschichten der Bildung etwa in den 1950er Jahren, aber die Tradition der deutschen Bildungsidee spielt hinein bis in gegenwärtige Debatten, man denke nur an "Leitkultur" oder Diskussionen um einen Literaturkanon.

Seit Jahren wird von Bildungspolitikern gepredigt, dass Bildung die einzige Rettung in der Unsicherheit der Wissensgesellschaft darstellt - es lasse sich mit dem Thema daher auch Geld verdienen. Dietrich Schwanitz ist mit seinem Bestseller Bildung. Alles, was man wissen muss. reich geworden. Nicht das man das Buch lesen müsste - außer man will den Autor noch reicher machen - aber andere haben sich berufen gefühlt mit sehr guten Büchern zu reagieren. Ernst Peter Fischer zum Beispiel wünscht man für seine gebundene Erwiderung Die andere Bildung alles Geld der Welt. Das auch Dietrich Schwanitz alle Klischees erfüllt, belegt eine amüsante Anekdote aus dem Vorwort. Als Fischer feierlich sein Abiturzeugnis überreicht bekam, nun froh endlich Naturwissenschaften studieren zu können, sagt der Schuldirektor: "... gute Noten in den Naturwissenschaften sind durchaus erfreulich, aber ob jemand reif ist, das erkennt man erst an seiner Deutschnote." Auch bei Schwanitz findet sich noch die Aussage - 40 Jahre später! - dass man über die Naturwissenschaften eigentlich nichts wissen muss, um gebildet zu sein. So verrät sich immerhin ein Trick mancher Autoren: sie halten, was sie selbst wissen, für Bildung und erklären für überflüssig, was ihren Horizont übersteigt.

Buchtipp: Die andere Bildung. Was man von den Naturwissenschaften wisen sollte

Ernst Peter Fischer schreibt nun so spannend über naturwissenschaftliche Errungenschaften, dass die Lektüre selbst hoffnungslos vergeistigte Leser fesseln wird. Das liegt nicht zuletzt auch daran, dass Fischer, der sich über die Arroganz der Geisteswissenschaftler immer geärgert hat, auch ein Buch gegen bornierte Naturwissenschaftler geschrieben hat. Wenn er am Ende dazu auffordert, Naturwissenschaft als Kunst zu denken, so dürfte das all jene schockieren, für die jede Kunstausstellung ein unüberwindliches Hindernis darstellt. Fischer zelebriert auch keine Objektivitätsfantasien, sondern es geht ihm um das Defizit der deutschen Bildungsidee, zu dessen Kanon die Naturwissenschaften nie gehörten.

Er tritt für eine "andere Bildung" ein, die im Grunde die klassische Bildungsidee fortschreibt und modernisiert. Denn auf dem Weg durch die Naturwissenschaftsgeschichte begegnen dem Leser auch Ludwig Wittgenstein oder Hans Blumenberg, Goethe, Alfred Döblin und Wolfgang Koeppen - Fischer ist zweifellos ein umfassend gebildeter Autor. Er quält einen nicht mit zu viel Mathematik, sondern führt vor, dass es bei der "naturwissenschaftlichen Bildung" nicht um die Kenntnis möglichst vieler Naturgesetze geht, sondern darum "zu verstehen, welche Sicht der Natur dabei ins Spiel kommt".

Buchtipp: Naturwissenschaft und Bildung. Der Streit der Zwei Kulturen

Wie es überhaupt dazu kam, dass Natur- und Geisteswissenschaften "zwei Kulturen" bilden, rekonstruiert Werner Kutschmann in seinem Buch Naturwissenschaft und Bildung. Dafür hat der Erziehungswissenschaftler selbst aus naturwissenschaftlichen Kreisen Lob bekommen, was dafür sprechen könnte, das sich der Graben zwischen den Lagern endlich zu schließen beginnt. Er rekonstruiert die Entstehung jener Kluft und errichtet am Ende eine Brücke darüber indem er Ideen für eine "Pädagogik der Naturwissenschaften" entwirft. Er leistet damit direkt einen Beitrag zum Problem der pädagogischen Defizite des naturwissenschaftlichen Unterrichtes, deren Folgen die PISA Studie gezeigt hat. An diesem Defizit haben natürlich auch Naturwissenschaftler einen Anteil. Für diese ist die Natur ein Forschungsobjekt und dieses Objektverhältnis wird nicht selten auch gegenüber den Schülern und Studenten eingenommen. Diese können jedoch nur als Subjekte von Bildung begriffen werden - Wissen ist nicht linear übertragbar, also durch Auswendiglernen und bloß rhetorisches Fragen.

Die absolute Trennung der "zwei Kulturen" wird jedoch langsam unterlaufen. Schon vor den Ergebnissen der PISA Studie etablierten sich neue Koalitionen, die traditionelle Grenzen und Vorurteile einfach ignorierten. Die enge Zusammenarbeit und gegenseitige Hochschätzung von Gehirnforschung und Pädagogik sind dafür ein Beispiel. Hier pflegen die "zwei Kulturen" länger schon einen intensiven Austausch. Mit einer Zunahme naturwissenschaftlicher Kenntnisse und ästhetischer Wahrnehmungsfähigkeit in beiden Lagern, und darum bemüht sich Ernst Peter Fischer, wird auch bald in der Wissenschaft diese Art von "interkulturellem" Denken selbstverständlich sein.

Beitrag von Frank Berzbach

Links zum Thema

  • Forschungs- und Serviceseite
  • Deutsches Institut für Erwachsenenbildung
  • Bundesministerium für Bildung und Forschung
  • Bundeszentrale für politische Bildung
  • Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung
  • Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin
  • Unesco Institut für Pädagogik (Internationale Erwachsenenbildung)
  • Forum Bildung Zahlreiche Materialien

Literatur

Die besprochenen Bücher:

  • Aleida Assmann: Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee. Campus, Frankfurt a. Main/New York: 1993
  • Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Suhrkamp TB, Frankfurt a. Main: 1996
  • Ernst Peter Fischer: Die andere Bildung. Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte. Ullstein, München: 2001
  • Werner Kutschmann: Naturwissenschaft und Bildung. Der Streit der "Zwei Kulturen". Klett- Cotta, Stuttgart: 1999
  • Dietrich Schwanitz: Bildung. Alles, was man wissen muss. Eichborn, Frankfurt a. Main: 1999

Weitere Tipps und Aufsätze:

  • Theodor W. Adorno: Theorie der Halbbildung. Gesammelte Schriften 8, Soziologische Schriften I, S. 93-121. Suhrkamp, Frankfurt/Main: 1997
  • Ernst Peter Fischer / Helmut Bachmaier (Hg.): Glanz und Elend der zwei Kulturen. Konstanz 1991
  • Manfred Fuhrmann: Der europäische Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters. Insel, Frankfurt a. Main: 1999
  • Andreas Gruschka: Bildung - Unvermeidbar und überholt, ohnmächtig und rettend. In: Zeitschrift für Pädagogik 47 (2001), S. 621-639.
  • Hentig, Hartmut von: Bildung. Beltz, Weinheim/Basel: 1999
  • Burkhard K. Müller: Wozu Bildung? Eine Rede für Studienanfänger zur Eröffnung des Studienjahres. In: Neue Sammlung Nr.2 (1998), S. 231-240.
  • Helmut Reinalter (Hg.): Natur- und Geisteswissenschaften - Zwei Kulturen? StudienVerlag, Innsbruck u.a.: 1999 (Mit einem Beitrag von Jürgen Mittelstraß)
  • Spaemann, Robert: Wer ist ein gebildeter Mensch? In: Scheidewege. Jahresschrift für skeptisches Denken. Jg. 24, 1994/95, S. 34-37.
  • Wolf Lepenies: Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft. Hanser, München u.a.: 1985
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