August/September 2003

Die Matrix des Krieges

Buchtipp: Krieg und FriedenÜber das Phänomen Krieg kann man sich anspruchsvoll informieren. Dazu liest man eine neue wissenschaftliche Einführung und einen alten Roman. Oder man geht ins Kino. Eine Doppelrezension.

Science Fiction Filme sind unterhaltend für Techiknarren und oft voller Kampfszenen, und sie sind allesamt Märchen. Auch Leo N. Tolstojs vierbändiger Roman “Krieg und Frieden” von 1869 ist eine bloße Fiktion. Aber wer gerne liest, der kann über Wochen ein Gesellschaftsportrait betrachten und verfolgen, wie durch die Napoleonischen Kriege eine ganze Epoche geprägt wurde. Das Buch enthält alles, was sich Leser historischer Romane wünschen. Die sentimental-schöne Geschichte mehrerer Familien, die Empfänge geben, auf Reisen gehen und an Jagden teilnehmen. Die Protagonisten entwickeln sich und überstehen Duelle, begehen Selbstmord, werden zu Eltern oder Großeltern, verlieben sich, sind untreu und trennen sich. Kinder werden geboren, andere sterben; es gibt wunderbare Landschaftsbeschreibungen und weihnachtliche Schlittenfahrten. Diese Ereignisse könnte so verlaufen, wie das Leben spielt, wären die Männer nicht mit etwas ganz anderem leidenschaftlich beschäftigt: dem Krieg. Alle Männer des Romans freuen sich auf ihn, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen.

Neue Kriege
Begriff für zumeist nicht-staatliche Kriege nach dem Epochenjahr 1989, die gekennzeichnet sind durch “state failure”, dem Zerfall von Staaten hauptsächlich in der Dritten Welt, sowie der Verselbständigung der Gewalt in Gewaltmärkten und Bürgerkriegsökonomien. Ursprünglich wurde dieser Begriff als Verallgemeinerung des Staatszerfalls und des Aufbaus von neuen Nationalstaaten des ehemaligen Jugoslawiens entwickelt.
(Herberg-Rothe 2003, S. 153).

Tolstoj schickt seine männlichen Helden in den Krieg und dort fungieren sie als beteiligte Beobachter, die dem Leser Auskunft geben. Detailliert werden die Schlachten von Schöngraben, Tilsit, Austerlitz und Borodino durchlitten, später der Brand von Moskau und der gerade neu erfundene Partisanenkrieg. Der Roman bietet realistische Schilderungen von Aufmärschen und Paraden, von Lagebesprechungen und Lagerfeuern, Siegesfreude und Lazarettelend. Vor allem aber, und daran lässt der Autor kein Zweifel, wird der männliche Kriegsenthusiasmus förmlich dekonstruiert. Für den Erzähler ist auch schon Mitte des 19. Jahrhunderts Krieg nichts ehrenhaftes oder ein von Feldherrengenies gesteuertes Abenteuer. Krieg ist einfach, was er ist: ein Morden unglaublichen Ausmaßes. In nahezu essayistischen Passagen erläutert Tolstoj auf hohem Niveau, warum dieser Krieg geführt wurde, wie der Zufall die Ereignisse bestimmt und der Mensch nur als kleines Rädchen dem Lauf der Dinge unterworfen ist. Der Roman endet optimistisch, auch wenn nicht alle Figuren, die man als Leser liebgewonnen hat, die vier Bände überleben. Es ist der letzte optimistische Roman von Tolstoj, vielleicht hat er geahnt, was das 20. Jahrhundert an Kriegen bereithält.

Aber seit Tolstoj hat sich vieles verändert. Um Anschluss an die aktuelle “Kriegswissenschaft” zu bekommen, ist ein neuer Band aus der empfehlenswerten Buchreihe “Einführungen” des Frankfurter Campus Verlages zu empfehlen. Andreas Herberg-Rothe bringt in “Der Krieg. Geschichte und Gegenwart” auf nur 150 Seiten Ordnung in das schwierige Thema: Was sind Warlords? Wie unterscheiden sich Krieger, Kämpfer und Söldner?

Revolution in Military Affairs
Entwicklung technologischer Neuerungen, die die Kriegsführung grundlegend verändern. Ihre wesentlichen Kennzeichen sind die nahezu zeitverlustfreie Integration des ganzen Schlachtfeldes zu einem riesigen “Computerspiel” durch Mensch-Maschine-Systeme, die militärische Nutzung des Weltraums, “intelligente” Waffensysteme sowie die Nutzung modernster Informationstechnologien.
(Herberg-Rothe 2003, S. 153).

Der Autor, Privatdozent an der Berliner Humboldt Universität, schildert eine Vielzahl von Kriegsursachen und die Veränderung des Krieges über die Jahrhunderte. Auch Tolstoj findet da seinen Platz, vor allem aber der deutsche Kriegstheoretiker Carl von Clausewitz, dessen Klassiker “Vom Kriege” von 1834 bis heute großen Einfluss hat. Von ihm stammt der berühmte Satz, der Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Auch die Definition von Herberg-Rothe ist an Clausewitz orientiert, Krieg besteht immer aus drei Aspekten: Gewalt, Kampf und die Zugehörigkeit zu einer umfassenden Gemeinschaft.

Welchen Quantensprung die Kriegsentwicklung vollzogen hat, zeigt sich vor allem am Ende des Buches von Herberg-Rothe. Obwohl die “Neuen Kriege” (Infokasten 1) nicht ganz so neu sind, wie vermutet, erinnert der Ausblick auf zukünftige Szenarien an Science Fiction Filme. (Vielleicht sind wir der “Matrix” näher als gedacht.) Die Veränderungen des Krieges werden als “Revolution in Military Affairs” (Infokasten 2) verstanden. Das zunehmend “intelligente Waffen” entwickelt werden, davon hat man gehört. Buchtipp: Der Krieg. Geschichte und GegenwartAber das Kampfroboter, fliegende Kleinstspione und silikonfressende Bakterien, die die Computer des Gegners zerstören schon in der Entwicklung sind, überrascht doch. An den Kinofilm “Matrix” erinnert auch der Hinweis auf zukünftige “virtuelle Schlachtfelder”. Auf diesen werden bewaffnete Mensch-Maschine-Systeme (früher Soldaten genannt) mit Bildschirmen an der Innenseite ihrer Helmvisiere agieren. Es wird auch non-lethal-weapons geben, also Waffen, die einen nicht töten, sondern nur betäuben: Infraschallwaffen, die das Gleichgewichtssystem des Menschen stören, sind in der Entwicklung. Neben alten Romanen lohnen sich also auch Kinobesuche. Ob die Replikanten in Blade Runner, ob Matrix, Minority Report oder Terminator – vielleicht rechnet man diese Filme eines Tages zum “Realismus”.

Beitrag von Frank Berzbach

Links zum Thema

  • Tolstoy Studies Journal

Literatur

  • Herberg-Rothe, Andreas (2003): Der Krieg. Geschichte und Gegenwart. Campus Einführungen. Frankfurt a. Main.
  • Tolstoi, Leo N. (2000): Krieg und Frieden. Artemis & Winkler Verlag, Zürich.
  • Tolstoj, Leo N. (1996): Die Romane. Anna Karenina, Krieg und Frieden, Auferstehung. 7 Bde., Insel Verlag, Frankfurt/Main.
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