Leistung muss sich wieder lohnen!
„Muß man erst alt werden, um etwas zu werden?“ fragt der englische Soziologe Michael Young. Er nimmt das Leistungsprinzip ernst und das bedeutet auch: In unserer Gesellschaft wird das biologische Alter zu unrecht belohnt. Es regiert die Klasse der alten Männer, wir leben in einer „Gerontokratie“. Und dies ist nur ein Beispiel für die Durchlöcherung des Leistungsprinzips.
Wir beschreiben die Gesellschaft oft mit plakativen, vor allem aber wertenden Begriffen wie Spaß- oder Freizeitgesellschaft. Das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Arbeit und Leistung die Werte sind, die zählen. Die Erwerbsarbeit bestimmt bei den meisten Menschen den Tagesablauf. Das Netzwerk der Arbeitskontakte ist größer und oftmals sogar intensiver als die familiären Beziehungen. Vor allem dient die Arbeit der individuellen Selbstdefinition. „Was machst Du?“ oder „Was bist Du?“ werden meist verstanden als Fragen nach Beruf und Ausbildung. Der Wert des Menschen wird im Kontext seiner beruflichen Situation beurteilt, so dass die Begriffe Arbeits- und Leistungsgesellschaft heutigere Verhältnisse zutreffender charakterisieren.
Damit verbunden ist der Irrtum, dass Leistung auch Erfolg und Karriere mit sich bringt. Viele empirische Studien haben nachgewiesen, dass Bildung eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung zur Karriereentwicklung ist. Die soziale Herkunft hat einen wesentlich größeren Einfluss auf die Karrierechancen. Deutschland ist laut PISA-Studie das Land, indem die Herkunft den größten Einfluss hat auf die Chancen der Kinder.
Meritokratie
ist ein von Michael Young erfundener Begriff, der sich aus dem lateinischen Wort Meriten, also Verdienst, ableitet. Er bezeichnet eine Herrschaftsform, in der sich die Führungsschicht aufgrund ihrer intellektuellen Leistungen und Fähigkeiten bildet.
Dennoch wird das Leistungsprinzip ungebrochen vertreten, Politiker aller Parteien berufen sich darauf. Aber was wäre, wenn wirklich nur die Leistung zählt? Der englische Soziologe Michael Young hat schon 1958 diesen Gedanken zu Ende gedacht und die Utopie einer Gesellschaft entworfen, in der Leistung sich lohnt – die Meritokratie. Rückblickend aus dem Jahr 2033 beschreibt er die historische Entwicklung Englands der vergangenen 100 Jahre zu einer Gesellschaft, die die Leistung in den Mittelpunkt stellt. Alle sozialen Ungleichheiten werden abgebaut, die aus der Alters- oder Klassenzugehörigkeit resultieren.
Ein Ausgangspunkt seiner meritokratischen Gesellschaft ist die Feststellung, dass Kinder aus gutem Hause trotz mangelnder Leistungen das gesamte Schul- und Hochschulsystem absolvieren, während höher begabte Kinder schon frühzeitig die Schule verlassen, um Geld zu verdienen.
„Die Folge war, daß so manches Kind, das vielleicht die Befähigung für das Amt eines Staatssekretärs gehabt hätte, gezwungen war mit fünfzehn Jahren von der Schule abzugehen und Briefträger zu werden. „Staatssekretäre“ trugen Briefe aus! – es ist kaum zu glauben. Anderen Kinder, die weniger Verstand, aber mehr Protektion hatten, kamen in Eton und Balliol mit Ach und Krach bis zur Reifeprüfung; nach einigen Jahren brachten sie es dennoch zu hohen Stellungen im auswärtigen Dienst. Welche Tragikkomödie: Briefträgertalente stellen diplomatische Noten zu!“ (S. 23)
Um dieser Ressourcenverschwendung zu begegnen, muss ein objektives Kriterium zur Leistungsbeurteilung gefunden werden. So werden regelmäßige Intelligenztests als Zugangsvoraussetzungen für die Bildungseinrichtungen eingeführt. Die Systematik der Intelligenztests wird so verfeinert, dass der Intelligenzquotient eine zuverlässige Voraussage über die Bildungschance jedes Einzelnen erlaubt. Nur wer einen bestimmten Intelligenzquotient erreicht, wird für das Gymnasium oder die Universität zugelassen. In Hauptschulklassen finden sich dann durchaus feinsinnige, aber dumme Adelskinder wieder.
Um zu verhindern, dass intelligente Kinder aus Arbeiterfamilien, die Schule frühzeitig verlassen, werden neben Erziehungsbeihilfen für die Eltern auch Löhne an Schüler und Studenten gezahlt. Der finanzielle Anreiz setzt schon in der Schule radikal das Leistungsprinzip durch, bessere Noten erhöhen das Einkommen. Auch die mangelhafte Qualität des Bildungssystems und die Qualifikation der Lehrerschaft erweisen sich als verbesserungsfähig. „Waren die Lehrer zweitrangig, musste auch die Führungsschicht, die durch eine solche Schule geht, zweitrangig werden. Die Meritokratie kann nie besser als ihre Lehrer sein“ (S. 81). Die Lösung bestand in der höheren Besoldung von Lehrern. Die Lehrerlaufbahn wird so für die Besten attraktiv, was pädagogische Auswirkungen auf die nächste Generation hat.
Neben der verstärkten Investition in die Qualität der Bildung und das Schulsystem muss der Einfluss der Familie (=Herkunft) geschwächt werden. Durch die Vererbung von Vermögen an die Kinder und Enkel haben diese eine bessere Ausgangsposition oder erben direkt Positionen in Unternehmen, ohne dafür ausreichend qualifiziert zu sein. Konsequenterweise werden so genannte Kapitalabschöpfungssteuern und Kapitalgewinnsteuern eingeführt, um eine Ansammlung von privatem Vermögen zu verhindern.
Ein großes Problem auf dem Weg zur meritokratischen Gesellschaft stellt die Tatsache dar, dass die bisherigen Karrieremodelle einen kontinuierlichen Aufstieg auf der Karriereleiter vorsehen, wobei das Alter eine wesentliche Rolle spielt. „Alter = Erfahrung (…) Dabei stellten sich die Leute vor, Erfahrung sei ausschließlich das Produkt der Jahre. Es schwang etwas Mystisches mit, wenn sie so sagten: ‚Freilich – aber er hat mehr Erfahrung!’ Als ob damit das letzte Wort gesprochen sei!’“ (S. 116)
Gerontokratie
beschreibt eine Herrschaftsform, bei der sich die Führungsschicht überwiegend aus älteren Menschen (= Männern) zusammensetzt. Oft wird damit kritisch auf eine Überalterung der Herrschenden gegenüber dem Bevölkerungsdurchschnitt angespielt.
Beinahe automatisch werden Unternehmensangehörige mit zunehmendem Alter befördert und versperren dabei jüngeren Neueinsteigern die Posten, auch wenn diese besser qualifiziert sind. In der Meritokratie kommen regelmäßige Leistungs- und Tauglichkeitstests zum Einsatz, die das Leistungsprofil für jeden Posten und deren Bewerber abgleicht. Die Abnahme der Leistungsfähigkeit mit zunehmendem Alter hat auch eine Überforderung und steigende Unzufriedenheit der Älteren zur Folge. Eine Herabstufung auf der Hierarchieleiter und die Wahrnehmung einfacherer Aufgaben kommen ihrem Leistungsvermögen entgegen. Entgegen der bisher verfolgten Strategie Ältere in den vorzeitigen Ruhestand zu versetzen, wird ihnen das Gefühl gegeben, dass sie noch gebraucht werden. Sie sind ab 50 hervorragende Hauspostboten oder Pförtner.
Ähnlich wie George Orwells „1984“ und Aldous Huxleys „Schöne Neue Welt“ stellen auch bei Michael Young die sozialen Gruppen ein Problem dar, die durch das Raster der Intelligenztests fallen und nur für einfache Arbeiten einsetzbar sind. Hier ist der Leistungsgedanke kein positiver Wert, so dass die Meritokratie für diese Bevölkerungsgruppen Werte bereitstellt, die außerhalb der Arbeitswelt liegen. Eine Hinwendung zu Werten wie Körperkult und Sport soll Frustrationen mit den Arbeits- und Gesellschaftsverhältnissen kompensieren.
Mit einer gehörigen Portion lakonischer Ironie und trockenem englischen Humor preist Michael Young die beschriebenen und weitere Vorteile auf dem Weg zu einer Leistungsgesellschaft. Dabei entlarvt er die Inkonsequenzen des Leistungsgedankens in unserer Gesellschaft und zeigt dessen Grenzen auf. Für Schnellleser und Manager enthält das Buch eine Zusammenfassung am Ende jedes Kapitels. Die Lektüre des Buches ist besonders empfehlenswert, wenn man wissen will, warum die Meritokratie gescheitert ist – und uns hoffentlich nicht bevorsteht! Denn der im vergangenen Jahr verstorbene Michael Young wollte seine Beschreibung als Warnung und nicht als positive Utopie verstanden wissen. Leider ist das Buch derzeit nicht lieferbar, aber in allen größeren Universitätsbibliotheken sind Exemplare vorhanden. Die anstehenden Sozialreformen, gleich welcher politischen Couleur, könnten es allerdings erneut zum traurigen Bestseller machen.
Zur Person
Holger Spieckermann ist Soziologe und arbeitet an der Fachhochschule Köln. Seine zügellose Leseleidenschaft führt oft zu unerwarteten Entdeckungen.
Kontakt:
Literatur
- Michael Young (1958): The Rise of Meritocracy : 1870-2033. An Essay on Education and Equality. London.
- Michael Young (1961): Es lebe die Ungleichheit. Auf dem Wege zur Meritokratie, Düsseldorf
