Februar 2005

„Fast forward“

„fast forward“In einem Essayband versammelt die edition Körber-Stiftung Beiträge von Studienpreisträgern und etablierten Experten zum Thema Beschleunigung. Eine Rezension.

Tempo! Tempo! Wir alle wissen es schon lange: „Inzwischen ist die Bewegung los, die reine Bewegung“ (Peter Sloterdijk). Gebetsmühlenartig wird die Spätmoderne von ihren Kritikern als ein rastloser, unaufhaltsamer und globaler Beschleunigungsprozess charakterisiert. Beinahe alles werde immer schneller oder gerate immer mehr unter Zeitdruck, so lautet die Diagnose. Fast Food und Schnellimbiss, Last Minute-Reisen, Tempo-Taschentücher, Transrapid und „Turbo-Abi“ – kein Lebensbereich scheint mehr vor dem grassierenden „Tempo-Virus“ (Peter Borscheid) sicher.

Andererseits beschleicht immer mehr Menschen das paradoxe Gefühl, die beschleunigte Gesellschaft implodiere in einem „rasenden Stillstand“ (Paul Virilio). Der Tempo-Rausch, so meinen manche, müsse letztlich unweigerlich unter der Last seiner eigenen Nebenfolgen kollabieren und in eine alles lähmende Bewegungsunfähigkeit umschlagen.

Hartmut RosaAn Gegenwartsdiagnosen, die sich an der Zeit und ihrer objektiven wie subjektiv empfundenen Veränderung festmachen, mangelt es nicht. Doch die Zahl systematischer Arbeiten ist neben einer unüberschaubaren Fülle feuilletonistischer, gelegentlich arg plakativer und holzschnittartiger Äußerungen immer noch sehr gering. Zu den wenigen Autoren, die sich in der jüngsten Zeit auf den Weg zu einer systematischen Theorie der Beschleunigung aus sozialwissenschaftlicher und sozialphilosophischer Sicht gemacht haben, gehört Hartmut Rosa. Die umfangreiche Habilitationsschrift des Jenaer Soziologen („Soziale Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne“) erscheint in diesem Jahr im Suhrkamp-Verlag. Auf über 600 Seiten erfährt man dort, was es mit technischer, sozialer und individueller Beschleunigung und ihren unerwünschten Nebenfolgen auf sich hat. Neben der Arbeit an diesem Meilenstein der Beschleunigungstheorie firmierte Rosa vor zwei Jahren auch als Juror des Deutschen Studienpreises. Der von der Körber-Stiftung in Hamburg inzwischen alljährlich ausgeschriebene Forschungswettbewerb für Studierende lief seinerzeit unter dem Titel: „Tempo! Die beschleunigte Welt.“

Die Körber-Stiftung
in Hamburg des 1992 verstorbenen Industriellen Kurt A. Körber gehört zu den größten deutschen privaten Stiftungen. Sie engagiert sich, teilweise unter Schirmherrschaft namhafter Personen des öffentlichen und politischen Lebens, in Wissenschaft, Kunst und Kultur.
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Im Nachgang zur inzwischen abgeschlossenen Tempo-Ausschreibung hat der hauseigene Verlag nun einige ausgewählte Arbeiten ehemaliger Preisträgerinnen und Preisträger in einem Essayband unter dem Titel „Fast forward“ versammelt. Hartmut Rosa ist, unter Mitarbeit von Julia Clemens und Matthias Mayer, der Herausgeber dieses vorbildlich lektorierten und optisch ansprechenden Paperback der edition Körber-Stiftung. Auf etwa 200 Seiten haben 13 Einzelbeiträge Platz gefunden, die unter die Rubriken „Zeitempfinden“, „Medien“ und „Kunst“ sortiert wurden. Der Anhang umfasst acht Seiten farbige Abbildungen sowie ein Autorenverzeichnis. Neben den Texten der Nachwuchsforscherinnen und -forscher haben Rosa, der bekannte Münchner Zeitforscher Karlheinz A. Geißler sowie die Medienwissenschaftler Kay Kirchmann und Matthias Bickenbach, auch sie ehemalige Juroren des Studienpreises, eigene Arbeiten beigesteuert. Obwohl der Untertitel des Bandes – „Essays zu Zeit und Beschleunigung“ – etwas anderes suggeriert, sind die meisten Beiträge keineswegs bloß essayistisch angelegt. Ohne mit allzu vielen Fußnoten und aufwendigen theoretischen Überbauten beschwert zu sein, bekunden viele Arbeiten hohes wissenschaftliches oder künstlerisches Format. Auch Etablierte und Experten können sich hier die eine oder andere Anregung abholen. Zumindest aber gewinnen Sie einen vielseitigen Einblick in Forschungsarbeiten und Dissertationsprojekte des wissenschaftlichen Nachwuchses. Den Buchpreis von 12 Euro muss man Angesichts dieses überzeugenden Gesamteindrucks als gering bezeichnen.

Nach einem kurzen „Vorspann“, der die einzelnen Beiträge charakterisiert, stellt Herausgeber Rosa fest, dass uns die Zeit wie eine zu kurze Bettdecke vorkomme: Egal an welcher Ecke wir auch zupften, die Decke sei nie lang genug! Andererseits könne es uns oft nicht schnell genug gehen. Niemand wartet schließlich gerne in der Einkaufsschlange, nur um mal wieder Pause zu machen. Nadine Schöneck, derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin an der FernUniversität Hagen, hat sich in ihrer Studienpreisarbeit, einer repräsentativen Befragung zum Zeitempfinden, näher mit diesen und Ähnlichen Beschleunigungsgefühlen und Zeitnöten ihrer Mitmenschen (und Mitstudierenden) auseinandergesetzt. Ihre Ergebnisse belegen: Soziale Beschleunigung bzw. das Gefühl beschleunigt zu leben und zu arbeiten, sind keine Erfindungen aufgeschreckter Intellektueller oder der Medien. Gute 80 Prozent der Befragten fühlen sich unfreiwillig getrieben und gaben an, der 24-Stunden-Tag sei ihnen prinzipiell zu knapp bemessen. Immerhin die Hälfte bejaht die Aussage „Zeit ist Geld“, was Schöneck unter anderem auf die Tendenz einer generellen Ökonomisierung der Gesellschaft zurückführt. Schönecks Fazit: „Der moderne Mensch unseres Kulturkreises fühlt sich tendenziell getrieben, vielfach sogar beschleunigt; dabei beschränkt sich das Gefühl der Getriebenheit nicht auf arbeitsweltliche (bzw. studienbezogene) Zusammenhänge, sondern diese Empfindung reicht bis in die private Lebenswelt hinein.“ (42)

Der Psychologe Wilhelm Hofmann, derzeit Promovend in Trier, zeigt in seinem auch sprachlich äußerst ansprechenden Beitrag, warum das Lebenstempo von Ost- und Westdeutschen vor und nach der Vereinigung unterschiedlich hoch war. Sein Befund lautet: Ostdeutsche Zeitstrukturen sind durch die Wende beschleunigt, das heißt vielmehr „schockhaft dynamisiert“ worden. Das höhere Lebenstempo des marktwirtschaftlich-liberal verfassten Westens habe kurz nach der Vereinigung das prinzipiell langsamere Lebenstempo der ehemaligen DDR-Bürger durcheinander gewirbelt. Zu den entschleunigenden, ja geradezu temporesistenten Faktoren des ostdeutschen Lebenstempos gehörte nach Hofmann vor allem die hohe Strukturiertheit der Zukunft. Die Lebensplanung östlich der Mauer reduzierte sich auf relativ wenige berufliche und biographische Muster, die von der Einheitspartei SED und anderen politischen Organisationen stark vorgezeichnet waren. Dadurch konnten und mussten mögliche Handlungsalternativen, wie beispielsweise in der „Multioptionsgesellschaft“ des Westens, nicht mehr permanent durchgespielt und durchdacht werden, was Ressourcen für das Leben im Hier und Jetzt freisetzte. Die hohe Synchronisation und Regelmäßigkeit von ostdeutschen Lebensläufen, verbunden mit einer ausgeprägten Kultur des Wartens (zum Beispiel auf den ersehnten Trabi), wirkte Hofmann zufolge in hohem Maße stabilisierend und entschleunigend. Die geringen Auswahlmöglichkeiten im Waren- und Dienstleistungsangebot sowie große „soziale Zeitpuffer“ in Form von „prästabilierten“, betrieblich organisierten sozialen Kontakten ließen, so Hofmanns These, das Zeiterleben generell in den Hintergrund treten und wirkten als Schutzfaktor gegen Beschleunigungstendenzen. Man schätzte die „Qualität der Langsamkeit“ und das mit ihr verbundene gemächlichere Tempo und Zeitempfinden trotz gelegentlich lästigem „Leerlauf“. Durch die friedliche Revolution Ende der 80er Jahre kollidierten die verschiedenen Zeitkulturen: Das „linear geschlossene Zeitbewusstsein“ der Ostdeutschen prallte auf das „linear offenere“, stärker auf die Zukunft gerichtete, wettbewerbsorientierte der Westdeutschen. Doch vierzehn Jahre nach der Wende bestehen, so Hofmanns Fazit, keine nennenswerten Differenzen mehr im Zeitempfinden der einst gespaltenen Nation: „[D]ie eher gemächliche Zeitkultur des Ostens hat sich mit dem Wegfall ihrer Grundbedingungen an die westdeutsche, linear offene Zeitkultur assimiliert.“ (70) Diese Feststellung Hofmanns fügt sich nahtlos in die aktuelle soziologische Modernisierungstheorie ein. Dort geht man davon aus, dass so genannte „Nachzügler“ früher oder später den „Vorreitern“, den weiter und erfolgreicher modernisierten Gesellschaften folgen. Der von den „Vorreitern“ ausgehende Sog reißt auch Vertrautes und lieb Gewonnenes mit sich, sofern es sich der Modernisierung widersetzt. Im Fall der Ostdeutschen hieß das nun offensichtlich Abschied nehmen von einer entschleunigten Zeitkultur, die auch ein Schutzraum war. Dies lässt Hofmann in seinem Resümee anklingen, wenn er schreibt, dass es dem Osten nicht gelungen sei, „ein langsameres Lebenstempo zu bewahren.“ (ebd.)

Die Ambivalenzen der Geschwindigkeit verdeutlicht, aus einer ganz anderen Perspektive, auch der Beitrag der Kommunikationsdesignerin Johanna Marxer. Mit künstlerischen Mitteln verarbeitete sie ihre Eindrücke, die sie während ihrer Reisen – zu Fuß, per Schiff, Autostopp, Flugzeug, via Telefon und Internet, vor dem Fernsehschirm und zuletzt in Gedanken – empfand. Die kontinuierlich steigende Geschwindigkeit der Fortbewegung führte Marxer bei diesem kreativen Experiment zu folgendem hinlänglich bekannten Ergebniss: „Je schneller das Verkehrsmittel, desto weniger bewege ich mich körperlich von der Stelle. Der rasende Stillstand.“ (195) Genau umgekehrt verhielt es sich jedoch mit der Intensität der gewonnenen Eindrücke: Diese wurden desto stärker und vielfältiger, je langsamer sich Marxer fortbewegte. Marxers Text und die dazu gehörigen Bilder laden dazu ein, die Freude am gemächlichen Reisen oder am Gedankenspaziergang neu zu entdecken und in der beschleunigten Welt – ganz ohne Entschleunigungssentimentalitäten – auf die Eigenzeiten der Umgebung zu achten. Doch der Beschleunigungseifer, die Ungeduld und der Wettbewerbsdruck brechen allzu schnell wieder in den Alltag ein: „Ich muss wohl noch viel wandern, um diese Dinge loszuwerden!“, seufzt Marxer.

Christiane Zehrer, Studentin der Politik und Betriebswirtschaftslehre, zeigt am Beispiel des Spitzensports, wie facettenreich das Phänomen Beschleunigung ist. Denn auch wenn im Sport meist der oder die Schnellere gewinnt, ist Tempo nicht alles. Die neuesten Rekordmarken sind am Bildschirm nur noch per Zeitlupe – in slow motion – zu vermitteln. Andererseits gieren die Medien nach immer neuen Höchstleistungen, die hohe Einschaltquoten sichern.

Um den Einfluss beschleunigter Produktions- und Lebensverhältnisse auf die zeitgenössische Musik, vor allem die, die wir im Radio täglich hören, geht es im Text von Martin Rohrmeier. Rohrmeier zufolge macht man es sich zu einfach, wenn man behauptet, dass „die Musik“ heutzutage eben immer schneller werde. Stattdessen scheint sich die innermusikalische Zeitorganisation unserer Lieblingssongs vielmehr auf einen „ateleologischen“ Zeitbegriff zu verengen. Im Klartext heißt das: Die musikalische Massenware aus dem Hause Britney Spears und Co. entbehrt einen klar strukturierten musikalischen Aufbau, der sich mit steigender Spannung auf ein Ziel zubewegt, wie etwa bei der Symphonie. Darüber hinaus entsteht der subjektive Eindruck einer Temposteigerung vor allem aufgrund der „Verdichtung des musikalischen Materials“, weniger als Folge realer Beschleunigung. Musik ist in der beschleunigten Gesellschaft Rohrmeier zufolge „allgegenwärtig, (all)verfügbar, erwerblich und durchweg funktionalisiert.“ Oder, etwas salopper formuliert: „Es gibt Musik zum Kochen, Bügeln, Joggen, Entspannen, Tanzen oder als Hintergrundtapete in der Kneipe.“ (169) Die wesentliche Ursache dieser Omnipräsenz der (Hintergrund-)Berieselung sieht Rohrmeier, der seine musikwissenschaftlichen Studien derzeit in Cambridge (England) vertieft, in der technischen Reproduzierbarkeit der Massenware Musik. Der Wandel der Produktionsbedingungen und Verwertungszusammenhänge impliziere auch einen Wandel der Musik selbst. Denn Radio- und Hintergrundmusik ist anderen formalen und funktionalen Anforderungen ausgesetzt als komponierte Kunstmusik. Was die moderne Musik vor allem auszeichne, so Rohrmeier, sei einerseits zwar eine enorme Breite des musikalischen Spektrums, andererseits aber eine drastische Monotonie der Formen. Aus den Lautsprechern und MP3-Playern tönten uns vor allem zyklische oder so genannte „beliebig-lineare“ Formen entgegen, während komplexere Formen weitgehend verschwunden seien. Beiden Formen sei gemein, „dass sie in ihrer Zeitlichkeit nicht abgeschlossen sind. Im Gegensatz zu den zahlreichen Formmodellen, welche die klassische Musik zu bieten hat, bereiten die beiden Formen nicht von Anfang an auf den Schluss vor, auf den sie dann letzten Endes hinauslaufen“ (173). Das Ziel wird durch permanente Spannungssteigerung hinausgeschoben, sofern der Spannungsbogen nicht gleich ganz vermieden wird. Daraus entsteht, so Rohrmeiers Einsicht, eine Eigenschaft, die den beschleunigten Lebensgewohnheiten zugute kommt: Man kann diese Musikstücke nämlich beliebig verlängern oder kürzen. Gerade weil moderne Stücke zur „Verunendlichung“, zur „Ateleologie“ und zur Verdichtung neigen, lassen sie sich beliebig oft – im Radio, in Kaufhäusern oder telefonischen Warteschleifen – abspulen und dabei immer wieder ein-, aus- und überblenden. Diese mit den Mitteln musikwissenschaftlicher Analyse gewonnene Erkenntnis könnte auf den zweiten Blick, wie Hartmut Rosa in seinem „Vorspann“ vermutet, auch einiges über die Beschleunigungsgesellschaft als Ganze aussagen: „Vielleicht, so legt Rohrmeiers Beitrag nahe, ist [...] die Endlosschlaufe eher noch als der Fast forward-Modus das Charakteristikum unserer spätmodernen Gesellschaft.“ (16)

In diesem Fall können wir getrost den Fuß vom Gaspedal nehmen und ein paar Gänge zurückschalten. Wenn wir sowieso immer wieder am gleichen Punkt landen, müssen wir uns gar nicht erst beeilen. Dass es sich – geruhsam im Lehnsessel oder temporeich, wie im Fall eifriger wissenschaftlicher Nachwuchstalente – aber auf jeden Fall lohnt, das Phänomen Beschleunigung im Auge zu behalten und kritisch zu begleiten, macht das vorgestellte Buch auf anregende Weise deutlich.

Beitrag von Christian Dries
Bildquelle: edition Körber-Stiftung

Links zum Thema

  • Homepage des Deutschen Studienpreises
  • Link zur edition Körber-Stiftung

Zur Person

Christian Dries studierte Philosophie, Soziologie, Psychologie und Geschichte in Freiburg und Wien. Derzeit arbeitet er an einem UTB-Lehrbuch zur soziologischen Modernisierungstheorie.

Literatur

  • Peter Borscheid (2004): Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung. Frankfurt/M.
  • Hartmut Rosa (Hrsg.) 2004: fast forward. Essays zu Zeit und Beschleunigung. Hamburg.
  • Peter Sloterdijk (1989): Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik. Frankfurt/M.
  • Paul Virilio (1997): Rasender Stillstand. Essay. Frankfurt/M.
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