Navigation durchs Niemandsland
Nur wenige Themen dürften Akademikerinnen und Akademiker in spe so einvernehmlich interessieren wie der Übergang vom Studium ins Berufsleben, denn dieser Transit ähnelt zuweilen einer Reise durch unwägbares Niemandsland.
Der Abschied vom Studentenleben steht für alle Hörsaalhocker irgendwann einmal an. Selbst jenen, die sich wünschen, der Institution Alma Mater treu zu bleiben, weil sie eine wissenschaftliche Laufbahn anstreben, steht ein Wechsel, beispielsweise vom Studenten zum wissenschaftlichen Mitarbeiter, bevor.
Jutta Allmendinger ist Professorin für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und steht seit 2003 als Direktorin dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg vor. Sie ist Mitglied des Kuratoriums des Deutschen Studienpreises.
Grundsätzlich gilt: Je informierter und je reflektierter – kurz: je besser vorbereitet – die angehenden Absolventen diesen Wechsel angehen, desto tendenziell erfolgreicher läuft er ab. Für das Ziel, dem Studium einen erfüllenden und auch einträglichen Beruf folgen zu lassen, gibt es weder Patentrezepte noch Garantien. Aber es gibt Vorbilder – junge Menschen, die ihren persönlichen Weg zum Ziel gefunden haben.
Der von der Soziologin Jutta Allmendinger in Zusammenarbeit mit Matthias Mayer bei der edition Körber-Stiftung herausgegebene Band „Karriere ohne Vorlage. Junge Akademiker zwischen Hochschule und Beruf.“ stellt eine Reihe individuell vollzogener Transfergeschichten vom Studium in das Berufsleben vor.
Die gut 200 Seiten dicke Navigationshilfe startet mit einem in die Thematik einführenden Editorial von Jutta Allmendinger und Matthias Mayer. Es folgen fünf Themenblöcke, die sich, auf ihren jeweiligen Kern kondensiert, mit folgenden Etiketten versehen lassen: (1) Studium; (2) Abschied vom Studium; (3) Ankunft im Berufsleben I – außerhalb der Alma Mater; (4) Ankunft im Berufsleben II – innerhalb der Alma Mater; (5) Serviceteil.
Ende der 1990er Jahre wurde auf der Ebene europäischer Bildungsministerien die Initiative gestartet, das Hochschulwesen in Europa zu harmonisieren.
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Die insgesamt 19 Beiträge glänzen durch Facettenreichtum. Den Anfang im ersten Themenblock – er ist zugleich der interessanteste, weil kontroverseste – macht Ex-Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin mit kritischen Reflexionen über die wissenschaftspolitischen Hintergründe und Konsequenzen des so genannten Bologna-Prozesses. Auf diese Weise bereitet er das Feld vor, auf dem sich dann alle folgenden Beiträge dieses Themenblocks tummeln.
Die umfassend erläuterten Arbeitsmarktstatistiken im Beitrag von Jutta Allmendinger und Franziska Schreyer machen angehenden Akademikern Mut, denn ihre Quintessenz lautet: Die Arbeitsmarktlage für Hochschulabsolventen wird auch zukünftig und „trotz allem“ gut sein.
Doch auch die Gegenposition meldet sich zu Wort: Christiane Mück und Karen Mühlenbein, beide Preisträgerinnen des Deutschen Studienpreises 2005, berichten von einer angespannten Arbeitsmarktlage für Akademiker und schließen ihren Beitrag mit den ernüchternd klingenden Worten: „Überzeugende Anreize bietet der Arbeitsmarkt für Hochschulabsolventen jedenfalls nicht.“ Ihr einziger Mutmacher ist an eine Bedingung geknüpft: „Vom Studium abhalten lassen sollte sich dennoch kein begabter junger Mensch – Idealismus vorausgesetzt.“
Die Journalistin Alexandra Robbins und die Webdesignerin Abby Wilner prägten mit ihrer zunächst in den USA erschienenen gleichnamigen Buchveröffentlichung im Jahre 2001 den Begriff der Quarterlife Crisis.
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Harro Honolka widmet sich den so genannten Schlüsselqualifikationen, zu denen überfachliche Sozial-, Methoden-, Selbst- und Handlungskompetenzen zählen; diese seien auf dem Arbeitsmarkt „gefragt wie nie“. Der Leser erfährt, welchen Beitrag die Hochschule zur Entwicklung dieser Qualifikationen gegenwärtig leistet – und welchen noch höheren Beitrag sie zukünftig leisten könnte, Umdenken und Reformieren vorausgesetzt.
Ulrike Herrmann rundet den ersten Themenblock mit einer sozialphilosophisch anmutenden Betrachtung des „Mythos Vollbeschäftigung“ ab. Die Kerngedanken dieses exzellenten fünften Beitrags: Arbeit ist als Gerechtigkeitskriterium der modernen Gegenwartsgesellschaft bislang alternativlos. Arbeitslosigkeit ist zwar in erster Linie ein strukturelles Problem – Stichwort: Rationalisierung („immer weniger Menschen können immer mehr Waren herstellen“) –, wird jedoch dem einzelnen Betroffenen als Problem zugeschrieben. Es gilt zudem als „undenkbar, dass Nichtstun honoriert werden soll.“ Das gibt’s allenfalls in der Gauloise-Werbung.
Als Patchwork-Identität – synonym: Flickwerk-Biografie – wird von Soziologen das Gegenteil eines geradlinigen Lebensverlaufs („Normalbiographie“) bezeichnet.
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Im zweiten Themenblock, dem „Abschied vom Studentenleben“, geht es um die konkreten, nicht zuletzt auch mentalen Herausforderungen, denen sich die gegenwärtige Absolventengeneration stellen muss. Bereits einige Stichworte dürften bei den Betroffenen Assoziationen mit der einen oder anderen selbst gemachten Erfahrung hervorrufen: Es geht um Sinnkrisen und Praxisschocks in der Orientierungsphase der Mittzwanziger, die mit „Quarterlife Crisis“ auch einen Namen erhalten hat; um die „Pflicht zur Selbstorganisation“ (Heiner Keupp), die in Form der zunehmend verbreiteten Patchwork-Identität Gestalt angenommen hat; um das Ende so genannter Kaminkarrieren à la Jürgen Schrempp; um die erhöhten Flexibilitäts- und sonstigen Anforderungen berufstätiger Mütter und schließlich um die äußerst frustrierende Lage der „Akademiker im Abseits – jung, diplomiert, zum Schnäppchenpreis“ (Stefanie Schulte und Katja Lachnit). Jeder kennt sie – jene, die ein unbezahltes Praktikum nach dem anderen absolvieren.
Der dritte Themenblock wartet auf mit fünf individuellen und überaus spannenden Schilderungen vom aktiven Berufebasteln. So erzählt etwa Philipp Albers, wie er im Frühjahr 2002, nach Jahren eher planlosen Studierens („wenig darum geschert, was denn nach dem Studium kommen könnte“), mit einem Freund die Gründung der „Zentralen Intelligenz Agentur (ZIA)“ beschlossen hat. Obgleich bis zum Ende des Beitrags die Mission dieser Agentur amorph bleibt: Der Plan der Gründer scheint aufgegangen zu sein, und die ZIA „kommt von Monat zu Monat ihrem erklärten Ziel der Weltherrschaft ein kleines Stückchen näher“. Albers hat – ein schönes Beispiel für die moderne Patchwork-Identität – zwischenzeitlich einen Job gesucht und gefunden, bleibt der ZIA aber immer noch verbunden.
Unter einer Kaminkarriere versteht man den „rasche(n) und gradlinige(n) Aufstieg vom talentierten Nachwuchs zur Führungskraft innerhalb eines Unternehmens“ (Katja Lachnit).
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Es sind gerade diese Geschichten aus dem Leben junger Berufsbastler, die dem Leser deutlich machen, dass zeitweiliges Umherirren im Niemandsland keinen Untergang bedeuten muss: „Krisen sind besonders günstige Zeiten, um etwas Neues auf die Beine zu stellen.“ (Philipp Albers)
Die Behauptung, für jeden Leser finde sich hier eine kopierbare Vorlage, griffe entschieden zu weit, denn es gibt einfach keine Bastelanleitungen. Aber das Spektrum der vorgestellten Berufsfelder ist weit und das meiner Meinung nach Beste an diesem Themenblock: Er ist das große Mutmacher-Modul dieses Bandes!
Für diejenigen Absolventen, die eine akademische Laufbahn anstreben, dürfte der vierte, mit drei Beiträgen etwas kürzer gehaltene Themenblock von großem Interesse sein. Darin berichten Frank Berzbach, Rolf F. Nohr und Julia Fischer von ihren persönlichen Wegen in den akademischen Arbeitsmarkt. Dass dieser Weg – wie auch die zuvor beschriebenen – steinig ist und unterwegs allerhand Hürden zu nehmen sind, wird jenen Lesern bekannt sein, die beispielsweise neben einer halben wissenschaftlichen Mitarbeiterstelle eine ganze Dissertation schreiben wollen und darüber hinaus (unbesoldete) Lehraufträge erfüllen.
Den Abschluss dieses Bandes bildet ein von Nadia Chakroun sorgsam zusammengestellter„Ratgeber für junge Akademiker“. Dieser umfangreiche Serviceteil enthält eine Vorstellung ausgewählter Praxisinitiativen, die sich vorbildlich um den Übergang vom Studium in das Berufsleben kümmern, zahlreiche Links und Adressen zum Berufseinstieg für Hochschulabsolventen sowie kommentierte Literaturempfehlungen.
Die Lektüre dieses multiperspektivischen Titels versetzt den neugierigen Leser in die Lage, von Vorbildern zu lernen. Eine gute Navigationshilfe durchs Niemandsland!
Links zum Thema
- Homepage des in Nürnberg ansässigen Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB); bietet weitaus mehr als die aktuellen Arbeitslosenzahlen.
- Homepage der Hochschulrektorenkonferenz (HRK); bietet eine Fülle von Informationen rund um das Studium und die Schritte „danach“.
- Deutscher Bildungsserver – die vielleicht informativste Linksammlung zu den Themen Bildung und Weiterbildung.
Zur Person
Nadine M. Schöneck schloss im Sommer 2003 ihr sozialwissenschaftliches Studium ab und wechselte danach von der Ruhr-Universität Bochum an die FernUniversität in Hagen, wo sie seither als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig ist und eine zeitsoziologische Doktorarbeit schreibt.
Literatur
- Jutta Allmendinger (Hrsg.) (2005): Karriere ohne Vorlage. Junge Akademiker zwischen Hochschule und Beruf. Hamburg.
- Maja Roedenbeck (2003): Geschichten von der Quarterlife Crisis. Junge Erwachsene zwischen 20 und 30 erzählen über Träume, Lebensentwürfe und Entscheidungen. Berlin.
- Richard Sennett (2000): Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. München.
