Wir werden alle älter – na und?!
Für den im Januar verstorbenen Soziologen ist der kontinuierliche Rückgang der Geburtenzahlen und die vermeintliche Überalterung der Gesellschaft in Deutschland ein Geschenk. Sein neuestes und letztes Buch Weniger sind mehr. Warum der Geburtenrückgang ein Glücksfall für unsere Gesellschaft ist (erschienen im Campus-Verlag, 280 Seiten für 19,90 Euro) wendet sich gegen den Mainstream, in dem sich professionelle Bedenkenträger, alarmistische Fachleute und Politiker tummeln.
Hondrich schreibt – den nahen Tod vor Augen – befreit, pointiert, mit provozierender Geste. Er braucht keine Fußnoten mehr, spart mit Literaturangaben, geizt aber nicht mit anspruchsvoller Terminologie und gelegentlichen Ausflügen in die Wirtschaftstheorie.
„Weniger sind mehr“ von Karl Otto Hondrich räumt mit etablierten Positionen zur ‚Überalterung‘ der Gesellschaft auf – und ist erfrischend zu lesen.
So ist ein gehaltvolles Manifest entstanden und ein herausragendes Beispiel für produktives Querdenken, ähnlich wie zuvor schon sein kluges Bändchen Liebe in Zeiten der Weltgesellschaft, in dem er die süffige Individualisierungstheorie seines Kollegen Ulrich Beck gehörig aufs Korn genommen hat. Denn Hondrich gehörte zu den Soziologen, die die Soziologie gegen den Zeitgeist und damit oft auch gegen sich selbst verteidigt haben. Nüchtern, skeptisch, klar und gerade deswegen originell – so denkt und schreibt Hondrich. Seine Perspektive ist dabei eine konsequent systemtheoretische. Wer hätte gedacht, dass man Luhmann und Co. so anschaulich und so vergnüglich erklären und anwenden kann?
Hondrichs Kernthese: Gesellschaft und Familie sind Funktionssysteme, die sich wie von selbst auch dann noch erhalten und sogar weiter optimieren, wenn ihnen der Nachschub an Individuen ausgeht. Denn unter der Stabilität einer Gesellschaft versteht Hondrich nicht, „dass die gleiche oder wachsende Zahl von Menschen aufgewiesen wird, sondern dass sich immer neu stellende Probleme so gelöst werden, dass die Gesellschaft im Zeitablauf überdauert.“ (S. 19)
So bleibe die Familie als System auch dann bestehen, wenn immer weniger Männer und Frauen heirateten und gemeinsame Kinder in die Welt setzten. Stattdessen erhalte sich das Familiensystem, indem es entfernte Verwandte, enge Freunde, Stiefkinder und Ex-Partner zu einem neuen, erweiterten Familiengebilde zusammenbinde, das bei Krankheit, Not und Alter nicht weniger belastbar sei als die traditionelle Großfamilie – die es in der guten alten Zeit sowieso nie gegeben hat!
Systemtheorie
Die Systemtheorie geht davon aus, dass es in modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften keine Spitze und kein Zentrum mehr gibt. Stattdessen stehen sich diverse Systeme und Subsysteme gegenüber, die sich gegenseitig beeinflussen.
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Von diesen dialektischen Volten und doppelten Enttäuschungen, die in Wirklichkeit im besten Sinn Ent-Täuschungen sind, wimmelt es nur so in Hondrichs akademischem Vermächtnis.
Unter seinem theoretischem Blickwinkel (und nur dort!) sind Kinder nicht nur kein Segen, sondern beinahe ein Fluch für die Moderne. Denn sie kosten Staat und Familie zunächst einmal eine Menge Geld und sie stehen dem Wirtschaftssystem erst sehr spät zur Verfügung, nach langen Jahren der Aufzucht und Ausbildung. Abgesehen davon entziehen sie dem Arbeitsmarkt hoch qualifizierte Frauen, die sich, so stellt Hondrich ironisierend fest, entgegen aller Unkenrufe und politischen Familienschutzprogramme à la von der Leyen (von denen der Autor herzlich wenig hält) erstaunlicherweise immer noch in hoher Zahl für Kinder – plus Karriere – entscheiden.
Der tendenzielle Fall der Geburtenrate – Hondrich erhebt sie in den Rang eines strukturellen Faktors von Modernisierungsprozessen überhaupt – sei letztlich ein Zeichen hoher gesellschaftlicher Freiheit und wirtschaftlicher Produktivität.
Nur wirtschaftlich hoch entwickelte Gesellschaften, die die freie Entfaltung und Selbstverwirklichung jedes Einzelnen befördern, können sich Hondrich zufolge Kinderschwund leisten („Wo die Produktivität ansteigt, sinkt die Fertilität“ heißt es auf S. 262). Umgekehrt reagiere eine gesunde Wirtschaft auf jeden Bevölkerungsschwund mit weiteren Innovationen und Produktivitätsschüben – ein Kreislauf, der mit immer weniger Personal auskomme.
Das gilt nach Hondrich auch für das Problem der Altersversorgung: die neuen Alten würden nicht nur mehr und nicht nur immer gebrechlicher. Sie seien auch immer aktiver. Schon heute seien sie äußerst kreativ, wenn es um die Organisation alternativer Pflegeangebote geht. Ein zentraler Effekt der vermeintlichen Vergreisung ist Hondrich zufolge deshalb das Wachstum des Gesundheitssystems und der mit ihm verbundenen Dienstleistungen. Der Markt reguliere sich auch hier von selbst.
Im Gegensatz dazu haben Länder wie das ob seiner Geburtenrate von 2,1 Kindern pro Frau von den Demografieapokalyptikern gepriesene Frankreich wirtschaftliche und soziale Schwierigkeiten: Es gibt einfach zu viele Kinder und Jugendliche, für die das Wirtschaftssystem keine Jobs mehr generieren kann. Weniger wären in diesem Fall tatsächlich mehr.
Karl Otto Hondrich (1937-2007)
studierte Volkswirtschaftslehre, Politikwissenschaft und Soziologie in Frankfurt/M., Berlin, Paris und Köln.
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Wer den Geburtenrückgang in Deutschland und anderen westlichen Gesellschaften bejammert, gar vom Aussterben der Deutschen faselt, bedient für Hondrich kulturkonservative Ängste, die auf Fehlschlüssen beruhen. Eben dem, dass mehr Desselben immer auch besser sei und dass schrumpfende Bevölkerungen eine Gefahr für den Bestand kultureller Gemeinschaften darstellen. Doch das sei nicht der Fall, im Gegenteil. Wer mehr Zeit für Bildung, Reisen und Ehrenamt zur Verfügung habe, der leiste einen hohen Beitrag zu eben dieser Kultur, so Hondrich. Nebenbei erscheint der Geburtenrückgang auch als systemisch-listige Lösung des Überbevölkerungsproblems. Und wohin demografisches Wettrüsten führen kann, zeigt Hondrich en passant am Beispiel des Ersten Weltkriegs, dem eine aggressive Bevölkerungspolitik dies- und jenseits des Rheins vorausgegangen war.
Doch was ist mit dem Schreckgespenst der muslimischen, chinesischen oder indischen Bevölkerungsriesen? Wird uns die schiere Masse an jungen Menschen aus diesen Ländern nicht doch erdrücken und uns ihren Lebensstil aufzwingen? Auch hier ist Hondrich Antwort à la longue: Nein. Denn auch diese Gesellschaften werden sich, mit Marktwirtschaft und Individualisierung im Rucksack, schließlich auf den westlichen Pfad des Schrumpfens begeben, so seine Prognose. Nur eben etwas langsamer als wir Deutschen, Italiener und Franzosen.
Was also ist wirklich dran an den demografischen Horrorszenarien? Für Hondrich gar nichts. Souverän räumt er mit den gängigen Klischees, Binsen- und Halbwahrheiten auf, die die Debatte vernebeln. Sein Vertrauen gilt nicht den Panikmachern und nicht den politischen Maßnahmen, sondern der Gesellschaft und ihren sozialen Mechanismen, allen voran Differenzierung und Arbeitsteilung.
Auch wenn man diese Perspektive nicht teilt und manches etwas zu hopplahopp verhandelt wird – Karl Otto Hondrich hat ein großes, ein wichtiges Buch geschrieben, mit einem Augenzwinkern. Ein Jammer, dass es sein letztes ist!
Mehr zu lesen wünscht man sich übrigens auch von einem dreiköpfigen Autorenteam aus Saarbrücken. In ihrer Studie Der innovative Ältere (Rainer Hampp-Verlag, 151 Seiten, 22,80 Euro) liefern Hans Günter Grewer, Ingrid Matthäi und Josef Reindl vom Institut für Sozialforschung und Sozialwirtschaft (iso) nicht nur eine ebenfalls wohltuend abgeklärte Diagnose zur Demografiedebatte und zur Rolle älterer Arbeitnehmer (am Beispiel von Entwicklern); sie haben zugleich eine empirisch fundierte und erfrischend pointierte Gesellschaftskritik vorgelegt, die man hinter dem unscheinbaren Taschenbucheinband nicht vermutet.
Ausgangspunkt der im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) durchgeführten Studie war die Frage, wie sich ältere Ingenieure in modernen Innovationsprozessen und mit den neuen digitalen (Informations-)Technologien zurechtfinden. Die Antwort, so die Autoren freimütig, sei schlicht „ernüchternd“ (S. 6f.).
Dass die alten Ingenieure durchaus kein Sand im Unternehmensgetriebe sind und mit ihrem Erfahrungswissen oft sogar die „Flurschäden“ der digitalen Revolution beseitigen, überrascht den Leser kaum. Auch nicht, dass sie durch moderne Arbeitsformen zum Teil brutal ausgegrenzt und stigmatisiert werden. Alarmierend liest sich jedoch, welchen Eindruck die drei Sozialforscher von modernen Arbeitsabläufen überhaupt haben: Die gesamte Unternehmenslandschaft (die Studie wurde in elf Betrieben, darunter große Automobilkonzerne, durchgeführt) gerate unter dem Regime vermeintlich innovativer Management- und Informationstechnologien immer mehr ins Rutschen – zulasten der Alten wie der Jungen.
Management und Informationstechnologien peitschten die Beschäftigten von einem Projekt zum anderen, vom Outsourcing zum Insourcing und weiter zur nächsten Reorganisation, oft ohne erkennbares Ziel. Die innovativen, erfahrungsreichen Älteren könnten diese unheilvolle Bewegungsmanie, die immer häufiger auf die Gesellschaft insgesamt auszugreifen droht, durchaus Gewinn bringend entschleunigen, so die Autoren – wenn man sie nur ließe!
Die beiden Bücher – Hondrichs systemtheoretische Vogelperspektive und die Saarbrücker Feldstudie – sind jedenfalls sehr zu empfehlen, wenn man sich einen sicheren Stand in der unübersichtlichen Demografiedebatte verschaffen will.
Links zum Thema
- Zum Saarbrücker iso-Institut.
- Link zur Saarbrücker Studie (mit Search Inside!™-Funktion)
Zur Person
Christian Dries hat in Freiburg und Wien unter anderem Soziologie studiert und ist Chefredakteur dieses Magazins.
Literatur
- Karl Otto Hondrich (2007): Weniger sind mehr. Warum der Geburtenrückgang ein Glücksfall für unsere Gesellschaft ist. Frankfurt/M., 280 S., 19,90 Euro.
- Hans Günther Grewer/Ingrid Matthäi/Josef Reindl (2007): Der innovative Ältere. Warum die Entwickleruhr länger als sieben Jahre tickt. München, 151 S., 22,80 Euro.
