Du, Sie & Es
I. Vorstellungsgespräch
Nervös klopfe ich an die Tür des stellvertretenden Direktors einer renommierten Privatakademie, ich habe einen Termin für ein Einstellungsgespräch. Es geht um eine Dozentenstelle. Der Mann schaut mich verständnislos an: „Keine Termine für Studenten heute – du hast dich wohl im Tag geirrt.“ Ich druckse herum, versuche zu erläutern, dass ich mich nicht als Student, sonder als Dozent bewerbe. Das ist ihm sichtlich peinlich, ich solle im Foyer noch etwas warten. In der Akademie lungern Studenten herum, die mir an einer Theke einen Kaffee verkaufen und mich selbstverständlich duzen. Mein Anzug und das weiße Hemd halten sie davon nicht ab, da kann ja jeder kommen. Ich fühle mich aufgenommen und ausgeschlossen zugleich: Ich bin vielleicht fünf Jahre älter als die oberen Semester (und manchmal bin ich auch jünger). Aber als Dozent möchte ich dennoch wahrgenommen werden, sonst wählt man mich nachher noch in die Fachschaft. Als ich zwei Wochen später die freundlichen Studenten im Seminar treffe, laufen die rot an und sprechen gar nicht mehr. Dass sie mich aus dem Ärmel heraus geduzt haben, ist ihnen peinlich. Jetzt aufs Sie umsteigen auch. Eine junge Dame löst das Problem nach dem Seminar mit ostdeutschem Selbstbewusstsein: „Sollen wir uns nicht duzen?“ Ich lache und nehme an – die beste Lösung! Hauptsache, nicht alle Studenten verfallen auf diese Idee, irgendwie muss ich mir Autorität erkämpfen als Neuling.
II. Hochdeutscher Professor
Seit vielen Jahren unterrichte ich auch an einer Hochschule. Pförtner und der Hausmeister duzen mich ab und zu – daran liest man ab, dass man gemocht wird. (Und erst dann sind fünf immer gerade.) Die Kölner Kulturregel des Du gilt alters-, titel- und einkommensunabhängig. Ganz anders im Norden Deutschlands. „Mein“ Professor unterrichtet Sozialmanagement und ist (für sein Fach) erstaunlich gut gekleidet. Er stammt aus Hannover und spricht hochdeutsches Hochdeutsch. Der Mittfünfziger trägt Tweedanzüge, moderne Hemden und gute Schuhe. Alle seine Mitarbeiter, von denen einige jünger sind als ich, duzen ihn. Sie tragen niemals Anzüge, sondern sehen aus wie Soziologen. Alter und Kleidung markieren den Unterschied, damit wird das „Sie“ überflüssig. Dann der große Moment, der Professor steht vor mir und sagt: „Wir kennen uns schon einen längeren Zeitabschnitt, sollten wir nicht zu einem etwas informelleren Kommunikationsstil überwechseln?“. Ich überlege kurz und übersetze es mir: Er bietet mir das Du an. Auf den langen Satz fällt mir als Antwort nur ein Wort ein: „Gerne!“.
III. Kollegen, HiWis, Portugal und Portwein
In den Seminaren, egal ob Privatakademie oder Hochschule, sieze ich alle Studierenden. (Die, die mir das Du angeboten haben, ausgenommen.) Die Dozenten des Mittelbaus siezen sich die ersten Minuten, dann umgehen sie die Anrede, schließlich duzen sie sich. Alle Professoren die mich nicht kennen, siezen mich. Professorinnen bieten mir schneller das Du an als Professoren. An der Privatakademie darf ich mir eine wissenschaftliche Hilfskraft auswählen. Laut Notenliste kommt eine Portugiesin in Frage, sie ist sympathisch und für eine Studentin erschreckend zuverlässig und sogar pünktlich. Sie willigt ein und ich habe eine Assistentin. Diana siezt mich und ich sieze sie. Einige Studenten, mit denen ich einen Filmclub an der Akademie gegründet habe, duze ich inzwischen. Nach einigen Treffen mit der Assistentin biete ich ihr das Du an, kein Problem. In Ihren Mails aber bleibt sie beim „Sie“, was mich verwirrt. Soll ich jetzt etwa duzen? Natürlich nicht. Ihre Antwort kommt schon nach wenigen Minuten: sie fände es besser, wenn ich sie duzen, sie mich aber siezen würde. Sie hätte Respekt vor meinem Wissen und dem Titel. Ich maile ihr: das ginge nicht, weil auch ich Respekt vor guten Studierenden habe – also entweder Du oder Sie, aber bitte keine asymmetrische Anrede. Auf die Antwort muss ich einige Zeit warten, sie will aber lieber siezen. Ihr gelingt also das Unmögliche: Sie macht ein Du rückgängig, ohne soziale Katastrophe. Beim nächsten Treffen mit mehreren Studierenden in einer kleinen Arbeitsgruppe duze ich die Anwesenden, und die mich, meine eigene Assistentin aber sieze ich (und sie mich). Die anderen Studierenden schauen mich etwas verwirrt an. Haben die Streit? Gegenüber meiner Assistentin, die mich siezt, verfalle ich ins Du, sobald ich konzentriert über anderes nachdenke. Später per Mail werde ich mich dafür entschuldigen. Aber sie nimmt mir mein sporadisches Duzen nicht krumm, ich müsse mich gar nicht entschuldigen. Sie fände es ja besser, wenn ich zu ihr Du sage. Und das es überhaupt so kompliziert sei, läge an ihrer Erziehung. Ihre Großeltern würden sich siezen, so sei es in Portugal. Und eine Freundin von ihr würde sogar ihre eigenen Eltern siezen, das fände sie aber übertrieben. Nun ja, aber ich sei ja weder Portugiese noch die Generation ihrer Großeltern. Meine Erziehung vermittelte nur: Man darf sich das Du anbieten. Unser Disput über die Anredekultur scheint also endlos. Und leider ist es kein konsensorientierter Diskurs. Sobald ich aber meine eigene Assistentin sehe, verliere ich die Sprache. Zeitweise überlagere ich ihn mit Smalltalk über Portwein. Das führt zwar nicht zu Missverständnissen, aber zum typischen Streit zwischen Männern und Frauen: Sie findet weißen Portwein besser, ich natürlich roten. (Hat sie Recht, nur weil sie Portugiesin ist?) Die Situation bleibt unbefriedigend, ich will nicht endlos darüber nachdenken müssen, wie ich die eigene Assistentin anrede. Nie wieder werde ich überhaupt einem Menschen das Du anbieten. (Die Muschelschubser in Hamburg machen das schließlich auch nicht, eine Du-Form scheint dort nicht existent.) Zeitweise träume ich davon Amerikaner zu sein, da gibt es kein „Sie“. Oder ich wäre gern Portugiese, auf Portugiesisch ist es vielleicht einfacher. Psychologisch geschult verfalle ich auf eine Ersatzhandlung: Ich sende nur noch „Ich-Botschaften“. Ich sage: „Kopien und Präsentation brauche ich nächsten Mittwoch, ginge das?“ Sie sagt: „Klar, kein Problem.“. Ein wunderbar unkomplizierter Dialog!
IV. Norddeutsche Problemlösung
An meinem norddeutschen Soziologieprofessor fällt mir auf, dass er Studenten mit Vornamen anspricht, aber dann siezt. Auch die Studierenden tun das. Mir geht ein Licht auf: Er nutzt die Ambivalenz der Zeichen! Mit dem Vornamen erzeugt er eine persönlichere Atmosphäre. Das folgende Sie sichert den Respekt, wahrt die Form. Die Nachnamen einer ganzen Seminargruppe kann sich kein Mensch merken. Verschärfend tritt hinzu: Portugiesen tragen oft zwei Nachnamen (und zwei Vornamen!). Sie übernehmen die Nachnamen beider Großeltern: Diana Mendes Fernandes oder Joana Andreia Ferreira Gomes oder Maria de Lurdes Ferreira Rocha. Diese Namen sind schön, aber welcher Dozent könnte sie sich merken?
Aber Vorname + Sie, das ist die Lösung! Das kann nicht einmal meine Assistentin verunsichern. Sofort schreibe ich eine Mail, zum Glück laufe ich meiner Assistentin nicht über den Weg. Schreiben ist einfacher und distanzierter. Nach fünf Minuten hat sie noch immer nicht geantwortet. Aber nach einer Stunde schreibt sie: ja, diese Lösung fände sie angemessen. Ich solle sie sowieso lieber beim Vornamen nennen (aber auch sie ringt sich dazu durch, die Symmetrie einzuhalten). Eigentlich weicht sie aber aus, sie schreibt einfach „Gute morgen!“ oder „Hallo“. Ich ignoriere das stillschweigend. Aber auch sie scheint erleichtert und berichtet, dass sie es besser als die „urkölsche“ Lösung fände. In ihrem Nebenjob, sie arbeitet in einem großen Einrichtungshaus, sei das nämlich noch anders. Ich bekomme schon Angst, dass sie mir eine noch verwegenere Variante vorschlagen will. Ihr Chef würde sie nämlich immer duzen und konsequent mit Nachnamen ansprechen. Ihre Beschwerden würden nicht helfen. Er rufe einfach „Frau Mendes Fernandes, tust du mir ma bitte dat Fax da schicken?“.
Zur Person
Dr. Frank Berzbach, geb. 1971, legt keinen Wert darauf, mit Titel angesprochen zu werden. Er hat auch Respekt vor Menschen, mit denen er per Du ist. Er unterrichtet Philosophie und Psychologie an der ecosign / Akademie für Gestaltung (www.ecosign.net).
