April 2001

Immer schlimmer! Immer öfter! Immer mehr!

Am Bahnsteig prügelnde Jugendliche. Auf dem Gang Okkultisten ins Gespräch vertieft, in meinem Abteil zwei rauchende Kinder - natürlich Analphabeten. Ich bin Pädagoge. Lektüretipps für eine Bahnfahrt.

Wer oft Bahn fährt wird belesen, allein aus Gründen der Langeweile. Ich fahre von Bonn nach Frankfurt zur Uni, dort habe ich Erziehungswissenschaften studiert. Genügend Lesezeit mit Blick über das Rheintal, in meiner Tasche also einige Zeitungsartikel zu pädagogischen Themen und ein Roman. Die überregionalen Blätter geben mir Auskunft: Jugendliche beginnen immer früher mit dem Rauchen. Sie werden auch immer gewalttätiger, Alkohol trinken sie mehr als früher. 85% aller Lehrer sind besorgt wegen sich ausbreitendem Okkultismus. 25% aller Kinder haben behandlungsbedürftige Sprachentwicklungsstörungen. Alle diese Zeitungsbeiträge berufen sich auf wissenschaftliche Studien. Als Pädagoge könnte mich das nun beunruhigen, weil die Kultur verfällt, oder aber eigennützig freuen: ein expandierender Arbeitsmarkt. Ein zweischneidiges Schwert.

Die drei Jugendlichen in meinem Abteil lesen still Harry Potter (Bd. 4), rauchen nicht und schlagen mich auch nicht. Sogar die in Koblenz einsteigenden Wehrdienstleistenden verhalten sich zivilisiert. Ich lege die Artikel etwas unzufrieden beiseite und greife zum Roman, Musils Mann ohne Eigenschaften: "Die Wahrscheinlichkeit, etwas Ungewöhnliches durch die Zeitung zu erfahren, ist weit größer als die, es zu erleben; mit anderen Worten, im Abstrakten ereignet sich heute das Wesentlichere, und das Belanglosere im Wirklichen." Das macht mich nachdenklich, weil mir die vorangegangene Lektüre nicht nur als typische Skandalverliebtheit der Medien erscheint, sondern die Zahlen und pointierten Zitate der pädagogischen Forschung entspringen.

Es gibt Zufälle im Leben. Nach einem Tag in Frankfurt sitze ich wieder im Zug nach Bonn und ein Freund hat mir den neusten Band der Frankfurter Beiträge zur Erziehungswissenschaft in die Hand gedrückt, für die Rückfahrt. "Pädagogische Dramatisierungsgewinne" steht auf dem Titel. Die Anthologie bietet so spannende Antworten auf meine morgendlichen Fragen, daß ich in Bonn fast vergesse auszusteigen. Worum geht es?

Pädagogen betreiben Forschung und konstruieren so soziale Probleme. Sie benutzen dabei komplexe empirische Forschungsdesigns, die für in Statistik ungeschulte Laien nicht nachprüfbar sind und in den Medien nur ausschnitthaft dargestellt werden. Dieser Vorgang ist normal, Medien müssen vereinfachen. Die Beiträge des Buches aber präsentieren kritische Beobachtungen der eigenen Disziplin, die manchem Wissenschaftler unangenehm aufstoßen werden. Die AutorInnen zeichnen die wissenschaftliche Fabrikation dramatischer Ergebnisse nach. Exemplarisch und differenzierend werden die Bereiche Jugendgewalt, Analphabetismus und Sektengefahr auf Skandalisierung hin abgeklopft.

Dies geht weit über die Kritik empirischer Methoden hinaus, denn nicht primär der Entdeckungs-, sondern der Verwertungszusammenhang der Forschungsresultate spielt hier eine Rolle. Die von Forschern produzierten Mythen sind für die Pädagogik selbst höchst lukrativ, weil den Nutzen nicht nur die Medien haben: den kalkulierten Aufmerksamkeitsgewinn verbuchen die Wissenschaftler für sich. Auch die pädagogische Forschung kennt absichtsvolle Halbwahrheiten, rein methodische Artefakte und das willkürliche Hochrechnen von "Dunkelziffern". Wer zum Beispiel die pädagogische Debatte um Strassenkinder in Deutschland verfolgt, wird Angaben von "maximal 5000" bis "mindestens 80.000" finden. Für die Medienöffentlichkeit dürfte nur letzere Zahl spannend sein.

Man kann diesen Typus von Studien relativ leicht überführen. Der Herausgeber Heiner Barz empfiehlt generelles Mißtrauen gegenüber Forschungsbefunden, die den kulturellen Verfall prognostizieren. Dies betrifft allerdings nicht nur die Pädagogik. Verschlimmerungsszenarien und Greuelmärchen finden sich wöchentlich in den Wissenschaftsteilen der Zeitungen, mit dem Verweis auf Studien. Manche Forschung mit dem Resultat "immer mehr - immer öfter - immer schlimmer" scheint im Sinne Robert Musils eine pädagogische Parallelaktion zu sein zur Aufmerksamkeitssucht der Massenmedien.

Womit wir wieder bei meinem Roman angelangt wären und mein Zug in den Bonner Bahnhof einfährt. Robert Musils Roman kann man wirklich empfehlen, der Autor differenziert mit hintergründiger Ironie mehr als manche absichtsvoll dramatisierende Studie. Zumindest dem Risiko des funktionalen Analphabetismus wirkt man damit entgegen. Der Roman ist auch gegen Jugendgewalt nützlich: mit 1700 Seiten wiegt das Buch fast zwei Kilo, keine zu unterschätzende Waffe. Und: Musil war Ingenieur - was will man mehr?

Beitrag von Frank Berzbach

Literatur

  • Heiner Barz (Hg.): Pädagogische Dramatisierungsgewinne. Jugendgewalt. Analphabetismus. Sektengefahr. Frankfurter Beiträge zur Erziehungswissenschaft. Kolloquien 3. J.W. Goethe Universität, Frankfurt am Main: 2000
  • Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Rowohlt, Gebunden, Dünndruck, Hamburg: 1952 (ca. 2 Kg)
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