Oktober 2001

Die Festung Berlin

Am 11. September 2001 in Berlin. Persönliche Eindrücke aus der deutschen Hauptstadt am Tag der "Angriffe auf die westliche Zivilisation".

Unzählige Male bin ich die letzten Monate im ICE nach Berlin gefahren. Habe mich darüber amüsiert, dass der Speisewagen früh morgens zum e-Business Branchentreff mutiert. Heute ist alles ganz anders. Es ist der Tag, an dem es morgens am Bahnhofkiosk keine Tageszeitungen mehr zu kaufen gibt. Keine lokalen, keine überregionalen, keine BILD, noch nicht einmal mehr ausländische Tageszeitungen.

Es ist der Morgen nach den Terrorangriffen auf New York und Washington.

Im Zug gibt es nur dieses Thema. Mir gegenüber sitzen Engländer. Sie wirken etwas desorientiert. Nachdem ich Ihnen erklärt habe, wie Sie in Hannover vom Hauptbahnhof zum Messegelände kommen, wollen auch Sie nur noch wissen, ob es irgendwelche Neuigkeiten gibt.

Ich steige aus in einer Festung Berlin. Polizei über Polizei. Während des Golfkrieges habe ich so etwas schon einmal auf dem Frankfurter Flughafen gesehen: Deutsche Polizei mit Maschinenpistolen in kugelsicheren Westen. Berlin ist voll davon. Neben dem Bahnhof Zoo das Amerika Haus. Die Absperrgitter kontrastieren mit ersten Kondolenzblumen.

Als mir ein sehr guter Freund erzählt, dass arabische Taxifahrer am Flughafen Tempelhof vor Freude getanzt haben, kann ich es kaum glauben. Doch, doch, es stimmt, versichert er mir, es wäre beinahe zu einer Schlägerei gekommen, als Leute eingreifen wollten.

Ich bin auf dem Weg zu einer e-Government Veranstaltung im Haus der deutschen Wirtschaft, an der unsere Firma teilnimmt. Die große vierspurige Straße davor ist abgesperrt. Man muss seinen Personalausweis abgeben, um überhaupt hinein zu kommen. Der nächste Tag, die Veranstaltung: Bombendrohung mit Evakuierung in den kalten Septemberregen frei Haus. Humor der sich mit meinen mental models nicht erklären lässt.

Am Abend, halb zwölf: Vor der US-Botschaft wartet eine nicht endende Schlange auf die Möglichkeit zur Eintragung in eines der sechs Kondolenzbücher. Oder besser, an den Absperrungen Unter den Linden. Die Botschaft liegt zwei Blocks weiter entfernt. Schwere Polizei-LKWs und Räumpanzer stehen quer vor dem Gebäude. Was für Gedanken wohl den Sicherheitskräfte durch den Kopf gegangen sein mögen, als Sie ihr Konzept überdachten?

Das Wetter ist mies, doch die Menschen warten geduldig - umgeben von einem Meer aus Blumen, dazwischen rote Kerzen, wie man sie von Friedhöfen kennt.

Ich komme gerade vom ZDF, 200 Meter entfernt. Habe dort als Zuschauer bei Illners Sendung "Berlin Mitte" Schily eine Stunde aus nächster Nähe in die Augen geschaut. Er wirkt hochkonzentriert, entschlossen, und ernst; vor allem aber sehr souverän. Was mag in diesem Mann vorgehen? Ich kenne ihn aus Fernsehreportagen als jungen, engagierten RAF-Verteidiger in Stammheim. Heute, mit 69 Jahren, hat ihn das Thema Terrorismus wieder eingeholt. Als Bundesinnenminister verantwortlich für die Sicherheit. Dieser Lebensweg!

Am Freitag Abend rund um das Brandenburger Tor. Trotz des Entsetzens über das Geschehene und der bedrückten Stimmung, liegt so etwas wie ein leichtes Aufatmen über die große Anteilnahme in der Luft. One man, one voice. Es sind unzählige Stimmen, die sich an diesem Tag gegen den Terror mit den Opfern solidarisieren.

Auf der Rückfahrt lese ich von einem Psychologen, dass das bloße Erleben der Geschehnisse live am Bildschirm ähnliche Reaktionen bei Zuschauern hervorrufen kann, wie bei Opfern, die dem Terror knapp entkamen. In diesem Sinne haben sich heute 200.000 Menschen gegenseitig Mut gemacht.

Beitrag von Utz Helmuth

Zur Person

Utz Helmuth, 24, war 1998/99 Preisträger des Deutschen Studienpreises. Nach einem abgebrochenen Studium der Betriebs- und Volkswirtschaftslehre an der Universität Witten/Herdecke wurde er Gründungs- und schließlich geschäftsführendes Mitglied der Firma Cosinex (community services industry exchange, http://www.cosinex.com), einer aus einem universitären Forschungsprojekt entstandenen Ausschreibungsplattform für öffentliche Institutionen und Unternehmen (Stichwort: Electronic Government).

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