Wider den Wohlstandswahn
Die terroristischen Anschläge auf wichtige Machtzentren der USA haben die Welt erschüttert. In vielen Ländern der Welt herrscht seitdem Furcht vor ähnlichen Attentaten - doch Gegenmaßnahmen scheinen sich bisher im wesentlichen auf Osama Bin Laden und seine terroristische Organisation Al Qaida zu beschränken.
Dieser Schritt ist verständlich und naheliegend - doch es wäre naiv zu glauben, dass auf diese Weise den anti-westlich ausgerichteten Formen des Terrorismus der Nährboden entzogen werden könnte.
Wenn von über 50 verschiedenen Ländern die Rede ist, in denen sich bereits terroristische Zellen mit radikal anti-westlicher Ausrichtung gebildet haben, dann ist es an der Zeit, ernsthaft über die Ursachen dieser neuen Form des Terrorismus nachzudenken. Denn die Gefahr ist groß, dass zunehmend mehr Sympathisanten auf die einfach gestrickten Argumentationsmuster religiöser Fanatiker hereinfallen.
Osama Bin Laden selbst hat die Amerikaner in einer Erklärung vom 24.September als "Kreuzfahrer" bezeichnet. Ein geschickter Schachzug. Denn nicht nur die Vereinigten Staaten von Amerika, sondern eine Vielzahl jener Nationen, die sich heute ihrer "westlichen Werte" rühmen, haben über Jahrhunderte hinweg versucht, andere Staaten zu kolonisieren, sie ihrer Ressourcen zu berauben oder ihnen den christlichen Glauben aufzuzwingen.
Materialismus, Imperialismus, Kapitalismus und Profitdenken sind nur einige Schlagworte, welche für zahlreiche Staaten der so genannten "Ersten Welt" über lange Zeit hinweg der Schlüssel zum Wohlstand waren. Dies ist leider eine nicht zu leugnende Tatsache - und Bin Laden weiß dies geschickt für seine Zwecke auszunutzen.
Doch auf längere Zeit gesehen wird es keine Rolle spielen, ob der Anführer einer terroristischen Vereinigung Bin Laden heißt, und es wird auch egal sein, aus welcher Region der Erde er stammt. Die sogenannten westlichen Industrienationen werden sich darauf einstellen müssen, dass zunehmend mehr Menschen auf dieser Welt aus den verschiedensten Gründen Wohlstand und Freiheit notfalls mit Gewaltanwendung einklagen werden - manchmal ungefragt und ohne lang zu bitten. Und spätestens dann müssen wir uns warm anziehen - für schnell wirksame Gegenmittel ist es dann zu spät.
Es wäre daher ein Zeichen von Voraussicht, wenn sich die Bekämpfung des internationalen Terrorismus nicht nur auf militärische Maßnahmen beschränken, sondern in ein breit angelegtes Konzept globaler Umverteilung von Ressourcen und interkultureller Versöhnung münden würde.
Wir dürfen uns nicht zu jener verführerischen Antithetik von einem Kampf "gut gegen böse", "Morgenland gegen Abendland", "Islam gegen jüdisch-christliche Welt" hinreißen lassen. Denn terroristische Gruppen wie Bin Ladens Al Qaida arbeiten auch gegen Verwestlichungstendenzen innerhalb des eigenen islamischen Kulturkreises.
Den Terrorismus an seinen Wurzeln packen heißt: Das globale Ungleichgewicht zwischen arm und reich vermindern, interkulturelle Dialoge fördern, Militärdiktaturen die Finanzbasis entziehen, Rüstungsexporte an Länder unterbinden, falls diese nachweislich terroristische Gruppierungen unterstützen - selbst wenn dadurch Arbeitsplätze in der Rüstungsindustrie verloren gehen könnten.
Den Terrorismus an seinen Wurzeln packen erfordert, dass wir uns endlich den drängenden Problemen der Gegenwart stellen müssen: Überbevölkerung, wirtschaftliche, soziale und geographische Disparitäten, politische Instabilität, Ressourcenknappheit. Wir sollten lieber freiwillig unseren Lebensstandard zugunsten bedürftiger Länder senken, bevor Terroristen uns dazu zwingen. Es wäre nicht das erste Mal, dass eine Hochkultur an ihrer eigenen Überheblichkeit zugrunde geht.
