April 2002

Täter können es sich leisten zu vergessen

Plakat der Holocaustausstellung - Zur Vergrößerung bitte anklickenDie Geschichte des Holocaust verändert sich, wenn sie zur Familiengeschichte wird. Wie geht man damit um, wenn der Großvater ein Mörder war - und die Eltern schweigen?

Ich trage seinen Namen. Und ich trage ihn bewusst. Vielleicht habe ich noch viel mehr von ihm - seine Augenfarbe vielleicht. Ich weiß es nicht, denn die Bilder, die ich von ihm kenne sind alle schwarz-weiß. Vergilbtes grau. Schemenhaft skizzierten meine Verwandten meinen Großvater, der "im Krieg geblieben war." Ich kann mich nicht daran erinnern, wie und wann ich die wenigen Informationen über ihn erhielt. Nazi war er gewesen, dass wusste ich schon lange und tot war er. Von den Briten hingerichtet. Als meine Großmutter, seine Frau, starb, war ich zehn. Zu jung, um die Fragen zu stellen, die nun mein Leben lang offen bleiben werden.

In der Oberstufe begegnete ich ihm zum ersten Mal. Die Lehrerin meines Geschichtsleistungskurses empfahl uns die Lektüre einer Autobiographie. Ein Häftling aus Auschwitz hatte sie geschrieben. Zum ersten Mal las ich über ihn. Eine kurze Episode nur; am Rande erwähnt: mein Großvater. Ich schrieb dem Verlag einen Brief mit der Bitte um Weiterleitung an die Autorin. Der Verleger antwortete mir persönlich und teilte mir mit, dass sie vor zwei Monaten verstorben war.

Buchtipp: Dimensionen des VölkermordesZwei Jahre später sitze ich in Israel Überlebenden der Shoa gegenüber. Zusammen mit drei Freunden sammele ich Zeitzeugenberichte von Juden unserer Heimatstadt, die ausgewandert sind. Ich sitze den Menschen gegenüber, die mein Großvater ermorden wollte. Eine KZ-Überlebende bricht den Kontakt zu mir ab, als sie erfährt, dass mein Großvater Mitglied der SS war. Sie lässt mir ausrichten, dass sie mich nicht mehr sehen möchte. Ich solle es bitte nicht persönlich nehmen, aber seit der Begegnung mit mir habe sie schreckliche Alpträume. Mein Leben ist möglich, weil andere starben, denke ich immer wieder. Weitere vier Jahre später erfahre ich, dass meine Großeltern vor ihrer Hochzeit genauestens darauf hin untersucht worden waren, ob sie im völkischen Sinne fortpflanzungswürdig sind. Sie waren es. Meine Tante und mein Vater wurden geboren. Kurz nach dem fünften Geburtstag meines Vaters wird sein Vater hingerichtet. Ab dem Tag wird geschwiegen. Bis heute. Die Nachkommen der Täter können es sich leisten zu vergessen.

60 Jahre später stehe ich vor vergilbtem Papier, das seinen Unterschrift trägt. Hinter Glas in einem grauen Rahmen hängt es in der Ausstellung "Holocaust - Der nationalsozialistische Völkermord und die Motive seiner Erinnerung" im Deutschen Historischen Museum in Berlin. Es ist die Sterbeurkunde eines Häftlings aus Auschwitz und mein Großvater hat sie unterzeichnet. Ich folge den Schwingungen jedes Buchstabens. Stelle mir vor, wie er die Feder hält. Ich stelle ihn mir vor. Die einzelnen Mosaiksteinchen seines Lebens, die ich aus

seinen Akten kenne, seine "arischen" Vorfahren, die auch die meinen sind, der Aufstieg in der Partei, der Prozess, seine Verteidigung und das Urteil. Es ist ganz allein meiner Vorstellung überlassen, welches Bild ich mir von ihm mache. Ich wollte recherchieren, ich wollte seine Akten sehen. Ich wollte wissen, wie er war. Ich schreibe in der Vergangenheit, weil ich jetzt, nachdem ich im Januar 2002 Einsicht in die Akten nehmen konnte, erkennen muss, dass auch sie mir meine dringlichsten Fragen nicht beantworten können. Wie er war, werde ich nie erfahren.

Er ist weiterhin ein Unbekannter für mich, so wie Millionen andere. Und dennoch ist aus dem Unbekannten einer geworden, der er vorher nicht für mich war: ein Verwandter, mein Großvater. Ich weiß, dass das Böse nicht vererbbar ist. Ich weiß, dass jeder Mensch zu Bösem fähig ist. Diese Schattenseite ist Teil unseres Mensch-Seins, aber nicht der einzige. Denn jeder Mensch hat einen freien Willen. Er ist es, der mich vor dem düsteren Grauen, auf dessen Seite meine Großvater stand, bewahrt. Er hätte sich anderes entscheiden können und hat es nicht getan. Er war ein Mörder. Ein Massenmörder.

Buchtipp: Enzyklopedie des NationalsozialismusAuf einer Internetseite einer rechtsextremen Gruppierung finde ich seinen Namen. Sie zählen diejenigen auf, "deren einzige Schuld es war, Befehlen gehorcht und in schwerer Zeit ihre Pflicht erfüllt zu haben." Ich bin sprachlos über diese Instrumentalisierung. Aber was, wenn er noch lebte und was, wenn er dann heute noch so argumentierte? In welchem Geist wäre ich dann wohl erzogen worden? Und dennoch, wie gerne würde ich mit ihm sprechen.

Mein Fall ist einer von vielen. Von zu vielen. Ich möchte, dass jeder auf sich, auf seine Familie schaut, damit die Vergangenheit endlich dort bearbeitet wird, wo sie uns am tiefsten berührt.

Links zum Thema

  • Stiftung Topographie des Terrors
  • Deutsches Historisches Museum
  • Haus der Wannseekonferenz
  • Deutsch-Russisches Museum Berlin-Karlshorst

Zur Person

Die Autorin, geb. 1977, studiert Geschichte und Theologie in Berlin. Sie arbeitet im Deutschen Historischen Museum und möchte ungenannt bleiben.

Literatur

  • Benz, Wolfgang (Hrsg.), Die Juden in Deutschland 1933-1945. Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft, München 1996.
  • Burleigh, Michael, Die Zeit des Nationalsozialismus. Eine Gesamtdarstellung, Frankfurt/Main 2000.
  • Jäckel, Eberhard u.a. (Hrsg.), Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, 3 Bde., Berlin 1933.
  • Kogon, Eugen, Der SS-Staat. Das System der Konzentrationslager, München 2000.
  • Orth, Karin, Die Konzentrationslager-SS. Sozialstrukturelle Analysen und biographische Studien, Göttingen 2000.
Anzeigen
Anzeige
dle.icio.usMrWongbackprinttop

Suche

Online-Recherche

Suchmaschinen, Infos, Datenbanken » mehr

Wettbewerbe

Wettbewerbsdatenbank für junge Forscher » mehr

Rezensionen

Buchrezensionen der sg-Redaktion » mehr

Podcasts

Übersicht wissenschaftlicher Podcast-Angebote » mehr

sg-Newsletter


anmelden
abmelden
?

sg-News-Feed

Abonnieren Sie unseren News-Feed:

News-Feed
Add to Netvibes
Add to Pageflakes
Add to Google

Space-News

Aktuelle News bei Raumfahrer.net:
» 13. Dezember 2007
GRAIL - Neue Mission im Discovery-Programm der NASA
» 13. Dezember 2007
Saturn - Neue Erkenntnisse über seine Rotation
» 12. Dezember 2007
Atlantis: Fehlersuche beginnt
» 06. Dezember 2007
Atlantis: Kein Start mehr 2007!
» 06. Dezember 2007
Atlantis: Startverschiebung bestätigt

sg intern

Anzeigen

BCG
Infos | Events | Kontakt


Deutscher Studienpreis