Ruhe bitte!
Wissenschaftler, nicht nur in den Sozial- und Geisteswissenschaften, eignen sich ihr Wissen über das Lesen von Texten an. Ein enormes Lesepensum ist oft die Grundlage für viele andere Tätigkeiten, für die Lehre und auch die Darstellung der eigenen Forschungsergebnisse - ohne Lektüre, welcher Art auch immer, geht nichts. Und die Verbreitung der Erkenntnisse geschieht wieder über Texte, die andere wiederum lesen müssen. Lesen erfordert Fleiß, Disziplin, Interesse und stößt daher nicht selten auf Ablehnung und die resultiert auch aus den schlechten Rahmenbedingungen die man dafür vorfindet.
Wer auf effektives Viellesen angewiesen ist, für den verwandelt sich die Umgebung all zu oft in eine Ansammlung von Störfaktoren. Im Privaten halten einen Verpflichtungen zur Geselligkeit, eigene Haustiere, innere Unruhe, Kinder, Eltern, laute Nachbarn oder penetrante Anrufer vom Lesen ab. Damit muss man leben, im beruflichen Feld aber wird die Sache schwieriger. Die Flut an eMails und Post, das klingelnde Telefon, der Büronachbar, das ganze Alltagsgeschäft mit unzähligen kleinen, plötzlich auftretenden Problemen verhindert das Lesen scheinbar systematisch. Dabei gibt nicht viele Bedingungen für intensives Lesen, aber die sind völlig unzeitgemäß: man benötigt einsame Ruhe über eine längere Zeit. Selbst Profis halten es für ausgeschlossen, sich an Störungen zu gewöhnen - wer ständig gestört wird, macht Fehler. Aber dennoch hört das Lesen nicht auf, es muss einen Umgang damit geben.
Methodisches Lesen ![]() |
Ich wende mich an einen Profi und halte ihn per Telefon vom Lesen ab: “Die meisten belletristischen Verlage sehen für die Lektoren wöchentlich einen Lesetag vor. Ein Tag pro Woche arbeiten sie zu Hause, um Ruhe zu haben.” Uwe Britten, der mir das am Telefon sagt, ist Lektor des Psychiatrie Verlages in Bonn – also ein Berufsleser. Er arbeitet eine Woche im Verlag in Bonn und eine Woche in seinem Büro in Bamberg. Der Verlag hat durchaus etwas von der Abwesenheit: die reine, konzentrierte Textarbeit gelingt viel besser, also schneller und weniger fehleranfällig, in der privaten Ruhe. So viel liberale Klugheit kann man kaum von jedem Unternehmen verlangen: “Verlage handhaben das unterschiedlich. Viele Fachverlage bearbeiten die Texte kaum noch, die ehemaligen Lektoren sind Produktmanager geworden – ohne Lesetag.” Die Ökonomisierung erzwingt diese Entwicklung, für die Leser bedeuten unlektorierte Bücher allerdings einen rapiden Qualitätsverfall.
Doch nicht nur Lektoren müssen Lesen. Für die anderen bleiben Ersatzstrategien: schlimmstenfalls liest man nach der Arbeit, wenn der Arbeitgeber der Selbstorganisation misstraut. Eine zweite Strategie ermöglicht die Entwicklung hin zur Mobilität. Berufspendler, die die Bahn benutzen, haben effektive Lesezeit, solange keine Schulklasse in den Wagon steigt. Man muss sich deutsche ICE-Fernverbindungen als Akademikertreff vorstellen: in den Ruhezonen haben gestresste Wissensarbeiter endlich Zeit für stundenlange Lektüre. Gerade die Vertretungsprofessoren mit Zeitstellen pendeln oft durch die ganze Republik, und das fördert ihre Belesenheit. Wahrscheinlich entstehen viele wissenschaftliche Innovationen auf der Schiene, dem BaFöG sollte man eine BahnCard gleich beilegen.
Eine beliebte, aber relativ unwirtliche Möglichkeit bietet der depressiv stimmende Aufenthalt in universitären Lesesälen. Man hat nichts zu trinken, sieht jeden Tag die gleichen, von Prüfungsangst entstellten Gesichter und ist von langen Fingernägeln genervt, die eine Laptoptastatur malträtieren. Wenn diese Säle auch ein Lernort sind, ein guter Leseort sind sie nur für Anfänger. (Und natürlich spielt das Ambiente eine große Rolle und die Art der Lektüre - sehr alte Texte lassen sich dort gut lesen.)
Lesen hat also durchaus ein subversives Element, es lässt sich kaum durch eine schlichte architektonische Lösung ökonomisieren. In diesem Sinne bleibt die uralte Kulturtechnik ein Bollwerk gegen die Schrecken der Modernisierung, die uns zwar von der Schreibmaschine und der Sehnenscheidentzündung befreit hat, aber auch alle Ruhe und Zeit zur Lektüre nimmt. Vielleicht ist die Botschaft für unsere psychische Befindlichkeit gar nicht schlecht: für die Wissensproduktion ist Lesezeit nötig - und die setzt das effektivste überhaupt voraus: Muße!
Literatur
- Brigitte Chevalier: Effektiv lesen. Lesekapazität und Textverständnis erhöhen. Eichborn, Frankfurt/Main: 2002
- Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. UTB, Stuttgart: 1994 (Klassiker!)
- Janosch: Wie der Tiger lesen lernt. Niedernhausen: 2002
- Alberto Manguel: Eine Geschichte des Lesens. Berlin: 1998 (Klassiker!)
