Januar 2004

Doppelt konzentriertes Tomatenmark

*Leerbücher und Lehrbücher I: Wer Literaturwissenschaft studiert, muss sein Handwerk lernen. Nur wie? Am Anfang stehen oft Lehrbücher, die einem das Studium schmackhaft machen wollen, und dabei selbst eher ungenießbar sind...

Vermutlich illustrieren Bücher mit Titeln wie „Einführung in das Studium von X“ am ehesten den Grad der Verzweiflung, der kurz nach Beginn des Studiums erreicht ist, wenn sich allgemeine Orientierungslosigkeit mit der Einsicht in die Begrenztheit des eigenen Wissens vereint. Dann jedenfalls ist der richtige Zeitpunkt, um Lehrbücher zu kaufen, broschiert und trotzdem teuer, und meistens merkwürdig hässlich, wie Arzneimittelverpackungen, die den Eindruck von Nützlichkeit erwecken, weil die Pappschachteln so aussehen, als hätten sie Pharmazeuten entworfen, und nicht Grafiker.

Naives Lesen
ist ungefähr so, als ginge man in einen Horrorfilm, in dessen Anfangsequenz sich Büroangestellte arglos zurufen „Ist das ein Wetter!“ während sie in strömendem Regen zu ihren Autos hasten – und naiv wäre es für den Kinobesucher, sich diese Szene anzusehen, ohne zu ahnen, dass hier Unheil naht. So naiv ist natürlich aber kein Mensch, weil jeder, der je einen Hollywoodfilm gesehen hat, weiß, wie es funktioniert. Auch Literatur hat solche internen Regeln, die man erkennen kann, allerdings sind sie häufig etwas komplizierter.

Einführungen in die Anglistik oder Literaturwissenschaft, mit Kapiteln über „Fachdidaktik“ oder „Erzählperspektive“ oder „Romantypologie“, wirken im Verhältnis zu dem, was sie zum Gegenstand haben, nämlich Literatur, zwangsläufig fade. Etwa so wie doppelt konzentriertes Tomatenmark in der Küche: Mit einem reellen Haltbarkeitsdatum versehen, aber ohne weitere Zutaten lässt sich daraus keine vernünftige Mahlzeit bereiten – keine richtige Soße für die Spaghetti und auch kein gutes Referat, man bekommt es kaum runter.

Erst später konnte ich ermessen, dass einige Einführungen in die Anglistik gar nicht schlecht waren, aber da brauchte ich sie schon nicht mehr. Vermutlich hat meine Aversion gegen Lehrbücher etwas mit den Ansprüchen in den Fächern zu tun, die ich studiert habe, denn die Literaturwissenschaft hat es nicht gerade leicht, was Einführungen angeht. Man muss gewissermaßen die erste Lektion schon kennen, bevor man mit ihr beginnen kann: Man muss in der Lage sein, nicht mehr ‚naiv’ zu lesen, man muss sehen können, dass literarische Texte selbstreferentielle Konstrukte sind und lernen zu verstehen, was das heißt.

Aus oder mit Lehrbüchern (im Sinne einer systematischen Einführung in ein Fach) habe ich kaum gelernt. Was ich allerdings immer benutzt habe, sind Fachlexika und Handbücher. Dass dies so ist, zeigt vermutlich, dass die Art und Weise, mit der ich an Wissen gelange, im wesentlichen chaotisch ist – und unabschließbar. Lexika und Handbücher stehen immer an meinem Arbeitsplatz, eine halbe Drehung des Körpers entfernt – eine Armeslänge, welche die Kluft der Wissenslücken symbolisch überbrückt.

GLUWelche Titel fallen mir ein? „The Oxford Companion to English Literature“ natürlich, eine ehrwürdige Institution der an Institutionen nicht gerade armen englischen Alltagskultur, das Nachschlagewerk für Tausende von englischen Schülerinnen, Studenten, Lehrerinnen, Laien, etc. Die erste Ausgabe erschien bereits 1932, sie wurde 1985 von der englischen Schriftstellerin Margaret Drabble gefaceliftet. Drabbles „Companion“ gibt Anglistinnen auf nahezu jede Frage eine Antwort – sofern die Wissbegierde eine bestimmte Komplexität nicht überschreitet: Was passiert eigentlich in „The Mill on The Floss“ von George Eliot, wer ist „Mr. Micawber“, wer sind die Metaphysical Poets, was ist eine „broadside“, was bedeutet „Trivium“ und was „marxist literary Criticism“? Unprätentiös, klar und zuverlässig geleiten die etwas mehr als 1000 Seiten durch die englische Literatur und etwas darüber hinaus. Das Literaturlexikon ist ein Paradebeispiel für englischen Pragmatismus – ein deutschsprachiges Äquivalent, das Inhaltsangaben, Biografien, Einträge für fiktive Figuren, literaturtheoretische Termini, Theorieansätze u.a., in einem einzigen Band zusammenträgt, gibt es in dieser Form nicht.

Am anderen Ende der Skala, sozusagen für fortgeschrittenes Nachschlagen, fällt mir etwas ganz anderes ein: 250 Seiten im legendären Einband der Wissenschaftstaschenbücher von Suhrkampverlag – auf dem dunkelblauen Untergrund in karmesinroter Schrift der rätselhafte Titel GLU. „Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme“ soll das heißen und ist, wie ich finde, einer der elegantesten, nützlichsten und gelungensten Zugangswege zu der schwierigen Theorie des Soziologen Niklas Luhmann. GLU erklärt Begriffe wie z. B. „Code“, „Geld“, „Information“, „Kommunikation“, „Liebe“, „Zeit“, eigentlich Begriffe, die jedem geläufig sind. Ohne diese Begriffe versteht man auch in der Systemtheorie nicht viel, aber sie erhalten dort derartige Komplexität, dass sie erklärungsbedürftig werden. GLU erschien 1997, da studierte ich schon nicht mehr, aber ich hätte es gern früher zur Verfügung gehabt, denn der intellektuelle Kick des Buches besteht darin, dass es die Systemtheorie Luhmanns mit ihren eigenen Mittel erklärt, – und dass diese basale Selbstbezüglichkeit erneut auf einen der Grundgedanken in der Systemtheorie verweist. Der hilfreiche Geniestreich stammt übrigens von drei Soziologen aus Italien.

Selbstreferentiell
heißt, dass etwas auf sich selbst bezug nimmt: Wenn ein Romananfang zum Beispiel damit beginnt, dass jemand am Morgen aus der Haustüre tritt, so wie die Heldin des Romans in Virginia Woolfs „Mrs. Dalloway“, dann nimmt das Geschehen des Romans (Tag beginnt, Tür geht auf) darauf bezug, dass hier ein Text seinen Anfang hat. Oder wenn eine Lebensgeschichte als längere Reise erzählt wird, wenn jemand im Text ständig liest, wenn ein Verführer an die Stelle des Erzählers tritt, usw.. Literarische Texte stecken voll dieser mehr oder weniger indirekten Verweise auf sich selbst. Das weist sie als gemachte, ästhetische Produkte aus. Daher lassen sich literarische Texte unabhängig von der unsäglichen (aber immer wieder gestellten) Frage untersuchen, „was der Autor sich denn dabei wohl gedacht hat“.

Beitrag von Christiane Zschirnt

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zur Person

Christiane Zschirnt, Jahrgang 1965, lebt als Autorin in Hamburg. Von sciencegarden hat sie den „Stein der Weisen“ für Ihr Buch „Bücher. Alles, was man lesen muss“ verliehen bekommen. Ihr Buch ist eine pragmatische und neugierig machende Einführung in weltliterarisch bedeutende Werke.

Literatur

  • The Oxford Companion to English Literature (1998), hg. Margaret Drabble, Oxford, New York.
  • Claudio Baraldi, Giancarlo Corsi, Elena Esposito (1997): GLU, Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, Frankfurt/Main
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