November 2004

Jenseits der Evaluation

Jaques DerridaVielleicht ist mit Jacques Derrida einer der letzten großen Philosophen gestorben. Er suchte keine Wahrheiten, sondern zerlegt sie. Derrida praktizierte das endlose Fragen, ein Denken jenseits evaluierbarer Größen...

Die akademische Philosophie ist ein ausdifferenziertes Fach. Die Professoren (meist Männer) beschäftigen sich mit Erkenntnistheorie oder Ästhetik, Philosophiegeschichte oder Ethik. Sie ordnen sich Schulen zu, betreiben zum Beispiel Sprachphilosophie oder kritische Theorie, neigen zur Mathematik oder Theologie. Andere hängen sich an finanzkräftige Themen wie Bio- oder Unternehmensethik. Der im Oktober gestorbene französische Philosoph Jacques Derrida könnte sich heute auf keine ausgeschriebene Professur bewerben. Zu unpassend ist sein Denken, zu unnütz seine Themen, zu undurchsichtig – unverträglich sein Anliegen.

Jacques Derrida
Französischer Philosoph, geboren 1930 in Algerien, gestorben im Oktober 2004 in Paris. Ab 1965 Professor für Philosophie.
» ganzer Text

Weltbekannt geworden ist Derrida mit Büchern, die Ende der 1960er Jahre erschienen. Dicke Wälzer wie „Die Schrift und die Differenz“ oder die „Grammatologie“ stehen in vielen Bücherregalen, wahrscheinlich meist ungelesen. Noch heute kann man damit ein Uniseminar von 90 Prozent der Teilnehmer befreien. Nicht nur die Schwierigkeit dieser Texte schreckt ab, sondern auch, dass sich das philosophische Fragen heute in vorgezeichneten Bahnen bewegt. Oft wird da weiter gemacht, wo die Vorgänger aufgehört haben. Zudem ist es ein berechtigtes Anliegen von Studierenden, überschaubare Themen zu wählen, mit denen ein schnelles Durchkommen möglich ist. Und darum geht es ja im zukünftigen Studium: Schnell fertig werden und viele Kontakte knüpfen. In der Philosophie ist daher unkreatives Widerkäuen der Klassiker immer einfacher, als die Beschäftigung mit der Gegenwart. Um sich mit Derrida auseinander zusetzten sind ganz unzeitgemäße Tugenden nötig: Man braucht Zeit, Lesefleiß und muss auf die Sehnsucht nach geschlossenen Denksystemen verzichten. Man muss damit leben können, vieles erst einmal nicht zu verstehen, stößt noch immer auf Abwehr bei vielen Professoren und benötigt dennoch die Kenntnis der Klassiker, um Derridas ungewöhnlichen Umgang damit zu verstehen. Wer will mit so einem Denker in eine Prüfung gehen?

Dekonstruktion
„(…) Der Begriff entzieht sich einer eindeutigen Bestimmung, da er selbst gerade die Unmöglichkeit jeder eindeutigen Bestimmbarkeit und semantischen Begrenzbarkeit sprachlicher Zeichen beinhaltet.
» ganzer Text

Derrida hat sich für die Universitätsphilosophie nie interessiert. Er ist mit 12 der Schule verwiesen worden, weil er algerischer Jude war. Er hat erst promoviert als er schon weltbekannt war und 50 Jahre alt. Diese Distanz zum Gängigen erzeugt ein nonkonformes, also ziemlich interessantes Denken. Frankreich hat viele wilde, unsystematische Denker an den Universitäten beschäftigt. Roland Barthes, Michel Foucault, Jacques Lacan oder eben Jacques Derrida hätten keine Evaluation überstanden, in der schnelle Publikationen vorgezeigt werden sollen und ein nützliches, wirtschaftlich relevantes Produkt. Dennoch ist es klug solche Denker zu Professoren zu machen: Ihre Schriften werden in der ganzen Welt gelesen und prägen das wissenschaftliche Fragen. Der „Dekonstruktivismus“, womit das Denken Derridas oft bezeichnet wird, gehört heute zum gängigen Repertoire von Kultur-, Kunst- und Literaturwissenschaftlern, von Linguisten, Philosophen und auch Theologen. Zeitweise trat die Denkrichtung sogar als intellektuelle Mode auf.

Différance/Différence
„(…) eines der wichtigsten (Para-)Konzepte der Theorie der Dekonstruktion von J. Derrida, das an F. de Saussures Betonung der Differentialität der sprachlichen Zeichen anknüpft und diese radikalisiert.
» ganzer Text

Aber was ist mit Dekonstruktion gemeint? Der Begriff ist zusammengesetzt aus „Destruktion“, ein Terminus von Martin Heidegger und dem der „Konstruktion“. Vereinfacht könnte man sagen, dass es Derrida um ein schöpferisches Zerlegen von Textelementen, Zeichen und Sinnzusammenhängen geht. Ein Auseinanderbauen einer mechanischen Uhr und ein verändertes, spielerisches Zusammensetzen zerstört vielleicht einerseits die Funktion. Sie erzeugt aber zugleich Wissen über die Bauart und ist, neu zusammengesetzt vielleicht eine kleine Skulptur, ein Kunstwerk. Nun wird man mit dem Zerlegen einer Uhr an ein Ende kommen, nimmt man aber komplizierte Themen zur Hand, wird diese Bewegung der Dekonstruktion endlos. Für sie steht auch keine Systematik bereit, sie bleibt abhängig von der Person und ist nicht generalisierbar. Man kann diese „Technik“, das Wort ist etwas fehl am Platz, als eine bestimmte Art der Lesbarkeit der Welt verstehen. Eine unsichere, offene, spielerische Lesart, für die alles ein Text ist. (Spätestens jetzt würden die Evaluatoren wohl den Raum verlassen.)

Aus der Trauerrede auf Emmanuel Lévinas
„An wen wendet man sich in einem solchen Augenblick? Und in welchem Namen masst man sich das Recht an, es zu tun?
» ganzer Text

In allen Büchern praktiziert Derrida dieses Programm der Dekonstruktion. Die Wahl der Themen und der Umgang damit sind eigenwillig. In „Die Schrift und die Differenz“ geht es (auch) um das Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Am Kunstwort „Différance“ verdeutlicht er, dass die Schrift mit ihren Möglichkeiten der Sprache überlegen ist. Derrida hat geschrieben über die Bedeutung von Archiven, nachgedacht über Hände, über die Universität und Europa, über die menschliche Stimme, Freundschaft, Demokratie und Schurken. Seine Studien zu Marx, Hegel, Husserl, Heidegger und anderen Klassikern sind ein provozierender Akt des gegen den Strich Lesens. Faszinierend sind seine Trauerreden auf Freunde und Kollegen wie Emmanuel Lévinas, Hans-Georg Gadamer, Paul de Man und Maurice Blanchot. Keine Nachrufe oder Würdigungen im klassischen Sinne, sondern suchende philosophische Gedanken im Angesicht des Verstorbenen. Allesamt unzeitgemäß, aber bereichernd, unsystematisch, unnütz und beeindruckend – aber vielleicht erst deshalb wirklich philosophisch. Es ist zu hoffen, dass nach dem Umbau der Universitäten in berufsvorbereitende Fachschulen und dem Abbau der Geisteswissenschaften noch Nischen bleiben, in denen eine Beschäftigung mit so fragilen Denkstilen möglich ist.

Beitrag von Frank Berzbach

Links zum Thema

  • Kurzbiographie J. Derrida
  • Bücher von J. Derrida
  • Dokumentarfilm über Derrida

Zur Person

Frank Berzbach ist Chefredakteur dieses Magazins und Projektmitarbeiter an der Universität Tübingen.

Literaturliste

Als Einstieg ist geeignet:

  • Kimmerle, Heinz (2004): Derrida zur Einführung. Junius, Hamburg.

Kürzere Texte des Philosophen:

  • Derrida, Jacques (2004): Die Differenz. Ausgewählte Texte. Reclam, Stuttgart.
  • Derrida, Jacques (2003): Eine gewisse Unmöglichkeit, vom Ereignis zu sprechen. Merve, Berlin.
  • Derrida, Jacques (1999): Adieu. Nachruf auf Emmanuel Lévinas. Hanser, München.

Derrida im Zusammenhang seiner „Denkschule“:

  • Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Reclam, Stuttgart.
  • Dosse, Francois (1999): Geschichte des Strukturalismus.
    Band 1: Das Feld und das Zeichen, 1945-1966. Fischer, Frankfurt/Main.
    Band 2: Die Zeichen der Zeit. 1967-1991. Fischer, Frankfurt/Main
Anzeigen
Anzeige
dle.icio.usMrWongbackprinttop

Suche

Online-Recherche

Suchmaschinen, Infos, Datenbanken » mehr

Wettbewerbe

Wettbewerbsdatenbank für junge Forscher » mehr

Rezensionen

Buchrezensionen der sg-Redaktion » mehr

Podcasts

Übersicht wissenschaftlicher Podcast-Angebote » mehr

sg-Newsletter


anmelden
abmelden
?

sg-News-Feed

Abonnieren Sie unseren News-Feed:

News-Feed
Add to Netvibes
Add to Pageflakes
Add to Google

Space-News

Aktuelle News bei Raumfahrer.net:
» 13. Dezember 2007
GRAIL - Neue Mission im Discovery-Programm der NASA
» 13. Dezember 2007
Saturn - Neue Erkenntnisse über seine Rotation
» 12. Dezember 2007
Atlantis: Fehlersuche beginnt
» 06. Dezember 2007
Atlantis: Kein Start mehr 2007!
» 06. Dezember 2007
Atlantis: Startverschiebung bestätigt

sg intern

Anzeigen

BCG
Infos | Events | Kontakt


Deutscher Studienpreis