„Jeans und Skaterpulli – aber mit Krawatte”
Hallo ihr alle!
Tja, langsam wird es Zeit, dass ich mich mal melde, nachdem ich hier einen Monat auf der Insel bin. Im Moment geht es zeitlich kaum anders und außerdem fragt ihr mich ja alle das gleiche...
Kurzgesagt: Mir geht es sehr gut und obwohl die Uni Arbeit ist – viel Arbeit –, habe ich beste Laune, denn ich habe noch nie einen so anregenden Ort, so spannende Menschen und so interessante Kurse und Veranstaltungen genossen!
Flotte Beats
Wie sich hohes Lebenstempo in der Musik niederschlägt
Auf Musik trifft man allerorten: im Kaufhaus, im Supermarkt, in Bahnhöfen, im Flugzeug, in der Telefonschleife. Wenn Musik so präsent ist, muss sich die Beschleunigung des Lebenstempos auch in ihr niederschlagen. Dieser Ansicht ist Martin Rohrmeier. Um seine These zu prüfen, untersucht der 23-Jährige die neuen Produktionsmöglichkeiten vorwiegend von Popmusik.
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Zu erzählen gibt es natürlich viel. Man begegnet Schaffnern, die ihren Kunden Kartentricks und Patiencen zeigen, Leuten aus Italien, mit denen man gemeinsame Freunde in Deutschland teilt, man partizipiert an den berühmten Warteschlangen, begegnet Leuten, die schon einmal für McKinsey die Bonner Telekom auseinander genommen haben, Leuten, die Kofi Annan kennen – und vielen Leuten, die für das Rudern werben ... by the way: Vielleicht komme ich in das Schachteam gegen Oxford! – Wenn schon nicht rudernd.
Also man lernt – oder besser: muss lernen, wie man ein dreihundert-Seiten-Buch in drei Stunden exzerpiert, wie man in einem Nachmittag ein Konzert aufführungsreif macht und wie man mit professionell aussehenden Folien einen vorbereiteten Vortrag vortäuscht. Man wird Tag und Nacht beschäftigt, und wenn man nicht arbeitet, dann macht man eines der Angebote mit – aber aus irgendeinem Grund ist all das überhaupt nicht anstrengend. Und die Angebote sind echt fantastisch: Vorträge von Leuten, die man sonst nur aus dem Fernsehen kennt; Konzerte, gegen die die Berliner oder Kölner Philharmonie ein Witz sind – bloß die Tangoszene und das Tai Chi Niveau sind ein Witz gegen Berlin und Bonn.
Natürlich hat Darwin eine Bar – und natürlich hat diese Bar ein altes, abgewracktes Westernklavier und natürlich, was denkt ihr wohl, bin ich inzwischen international anerkannter Barpianist (hoffentlich bald mit Sängerin!).
Mittlerweile habe ich mich an den Linksverkehr gewöhnt: Ich kann inzwischen Straßen überqueren, ohne von beiden Seiten angehupt zu werden, die getrennten Wasserhähne mit siedend heißem und eiskaltem Wasser stören mich auch nicht mehr, die verkehrte Drehrichtung bei allen Sorten von Schlössern und Schaltern (und auch Warteschlangen) habe ich raus und kann mittlerweile einigermaßen den richten Hebel ansetzen, wenn man von irgendeiner Instanz oder schlimmer: Von einer Sekretärin ein Antragsformular braucht; ich kann einschätzen welche Sorte gekochtes Gemüse genießbar ist und welche nicht (ein grausamer Lernprozess) – aber abgesehen von gekochtem Gemüse, und davon, dass man nicht anfangen darf, sich was zu denken, wenn es so oft britisches Rindfleisch gibt, ist das Essen im College recht gut – im Vergleich zur Bonner Mensa ein reines Restaurant.
» Website der MuWi-Truppe von Martin in Cambridge
Auch das Wetter ist bisher erstaunlich viel besser als sein Ruf. Es regnet weder Katzen noch Hunde (obgleich Regen in den merkwürdigsten Stärken und Temperaturen vorkommt), dafür gibt es ein wenig Kriminebel und viel schöne Herbstsonne. Es tut gut, Englisch zu hören, dass nicht vor „nice” und „lovely” überquillt – bis man merkt, dass diese Ausdrücke mehr oder weniger harmonisch durch „how interesting” ersetzt sind. Und langsam aber sicher verwandelt sich mein marodes Schulenglisch in echtes Englisch, ich lerne, was „Blumenkohl” und was „Abflussrohr” heißt, wie man ordentlich – aber gehoben – flucht und wie man englische Witze verstehen muss.
Es ist beeindruckend, durch die alten, geschichtsstrotzenden Gemäuer zu flanieren (wobei Touristen vom Wächter sorgfältig ferngehalten werden), noch beeindruckender sind die gepflegten alten Gärten (auch unser Haus liegt am Garten mit Fluss, Brücke, Punting-Booten und Wiese) – und die King's Chapel ist eine Wucht.
„Interesting” sind auch die traditionellen „formal dinner”: Pflicht sind Krawatte oder Gown. Beim informalen College jedoch heißt das: Wenn sonst nichts dabeisteht, kommt man in Jeans und Skaterpullover – aber mit Krawatte – oder schmeißt den Gown (den berühmten schwarzen „Umhang”) über alles drüber, so lange nur die Turnschuhe unsichtbar bleiben. Und so ähnlich läuft das hier auch mit den Regeln anderer Sorte – und Regeln gibt es wirklich für alles: Beispielsweise sollte, das heißt muss man sich in einem echten „formal Dinner” abwechselnd 4 Minuten mit dem linken, 7 Minuten mit dem rechten Nachbarn unterhalten, darf jedoch nicht mit dem Gegenüber sprechen.
Und so dauert es mit allen Regeln eine ganze Weile, bis man es schafft, die Prozedur in der richtigen Reihenfolge auszuführen, um etwa seine Bibliothekskarte schließlich zu aktivieren, einen Proberaum zu buchen oder sich für irgendwas anzumelden (und man muss sich auch für nahezu alles anmelden). Und es dauert eine weitere Weile bis man begreift, dass jeder alles tut, sofern es nur gegen die formalen Regeln nicht verstößt. Das nächste Mal also Kapuzenpullover und Krawatte!
And now for something completely different: Bibliotheken – die es hier, natürlich, zur Genüge gibt. Und natürlich bekommen wir mehrfach gesagt, dass diese hier eine der, wenn nicht die größte Bib der Welt sein soll (insbesondere größer als Oxford's – wie man uns ebenso mehrfach sagt). Entsprechend gibt es auch mehr als einen Katalog: Ein Computersystem, mehrere Zettelkästen und einen handgeschriebenen alphabetischen Katalog, der in Form dicker brauner Wälzer ein ganzes Zimmer füllt. Sucht man ein bestimmtes Buch unter den sieben bis zehn (?!) Millionen Titeln – keiner der Kataloge weiß so richtig genau, wie viele Bücher nun in jeden Gemäuern schlummern – konsultiert man am besten alle Kataloge; und bekommt schließlich drei verschiedene Ergebnisse nach ein und der selben Computeranfrage, verschiedene Signaturen im Zettelkasten und wieder andere im „Sam-San”-Band, sofern dessen Seiten nicht zerbröselt sind.
Besagte Dimensionen bringen es mit sich, dass Platz gespart werden muss, um die Bücher in die sechs Etagen mit jeweils acht Flügeln zu verstauen. Folglich sortiert man Bücher nicht nach Themen oder Erscheinungszeitraum, sondern nach Größe. Wer also keine Vorstellung hat, wie groß ungefähr das Buch ist, das er sucht, sucht ein wenig länger.
Ich erinnere mich, in Boston Häuser gesehen zu haben, auf denen ein Schild prunkt, dass sie 1932 oder 1965 erbaut wurden. Tja, wie alt mag nun der Stuhl sein, auf dem ich im King's Tee getrunken habe? Und nicht zu vergessen: die Tapete! Der Parlour Room, wo man nach dem Essen den Tee zu sich zu nehmen pflegt, hat eine denkmalgeschützte Tapete (mit grünen und brauen Blumen drauf), die – wie uns mehrfach vom Dean betont wurde – mehr wert ist, als das vom College neu angebaute Wohnheim (Mit einem Futzel von der Ecke könnte ich also ganz bequem meine Studiengebühren bezahlen). Wie sollte es anders sein – natürlich gibt es für solche Tapeten einen spezialisierten Rescue-Service, der im Falle, dass jemand seinen Tee versehentlich an die Wand spritzt oder seinen Rucksack zu nahe an die Wand lehnt, zu dritt anrückt und das gute Stück für einen geringen vierstelligen Pfundbetrag in sorgfältiger Handarbeit Millimeter für Millimeter trockenlegt. Ich würde mich nicht wundern, wenn es auch einen Not-Gärtner für den King's Rasen gibt.
Genug der Plauderei nun,
Gruß aus Cambridge!
Links zum Thema
- Martins (nicht ganz aktuelle) Homepage
- Darwin College in Cambridge/England
Zur Person
Martin Rohrmeier studiert derzeit am Darwin College in England Musik. Er hat mit einer Studie zur Beschleunigung in der Musik den Deutschen Studienpreis gewonnen.
Kontakt:
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