Eine gute Gelegenheit
Weihnachten gilt bekanntermaßen als Fest der Liebe und der Geschenke, deren Beschaffung allerdings meist mit erhöhter Pulsfrequenz in verstopften Kaufhallen verbunden ist. Davon abgesehen ist Weihnachten aber auch eine gute Gelegenheit, um in der warmen Stube wohlwollend auf die hinter einem liegenden elf Monate zu blicken. Man kann allmählich wieder neue (alte) Vorsätze schmieden oder über die veränderte Weltlage im Allgemeinen und den Skiurlaub im Besonderen sinnieren.
Die besinnlichen Weihnachtstage bieten auch die Chance, sich von allem Profanen abzuwenden und – neben religiösen Themen – endlich wieder den Grundsatzfragen nachzuspüren, für die uns der Alltag wenig Zeit lässt. So könnte man sich beispielsweise fragen, warum sich Menschen überhaupt etwas schenken sollten oder wie viel Geschenk es denn nun sein darf. Um hierauf einigermaßen verbindliche Antworten zu finden, muss man sich auf der Grundsatzebene noch eine Etage tiefer begeben, zu den ewig aktuellen, „letzten“ Fragen der Philosophie. In diesem Fall zur Frage nach dem guten und schlechten Handeln.
Die Nikomachische Ethik
ist neben der Eudemischen Ethik und den Magna Moralia die am meisten zitierte ethische Schrift des Aristoteles. Vermutlich wurde sie nach Aristoteles’ Sohn Nikomachos benannt.
» ganzer Text
Generationen von Philosophierenden haben sich an dieser Frage abgearbeitet. Einer der ersten, auf dessen Grundlegung heute noch zurückgegriffen wird, war der Grieche Aristoteles (384-322 v. Chr.). In seiner berühmten Nikomachischen Ethik (in zahlreichen, auch preiswerten Ausgaben im Handel erhältlich) versteht er in Bezug auf den Menschen unter dem Guten, das die Frage nach dem „guten“ Handeln einschließt, eine spezifische Lebensform – und keine abstrakte Idee, wie sein Lehrer Platon (427-348/47 v. Chr.).
Das Gute, so Aristoteles, sei das, wonach alles strebe. Als Ziel dieses Strebens gelte im Falle des Menschen die „Glückseligkeit“ (griechisch: eudaimonia). Sie ist Aristoteles zufolge ein Seelenzustand, der nicht von Dauer sein muss. Er bedarf zu seiner Festigung regelmäßiger tugendhafter Handlungspraxis. Nur durch permanente Wiederholung und Verbesserung (neudeutsch: Training), durch viele „gute“ Taten also, könne dieser erstrebenswerte höchste Zustand erreicht und vertieft werden. Ganz grob vereinfacht heißt das: Wer immer wieder gut handelt, fühlt sich am Ende dauerhaft besser! (Was allerdings leider nicht ausschließt, dass man sich auch gut fühlt, wenn man schlecht gehandelt hat...)
Warum das Gute aber ausgerechnet in einer bestimmten Lebensform begründet sein soll und kein abstraktes Prinzip oder Gesetz ist, nach dem sich alle Menschen in jeder Handlungssituation gleichermaßen zu richten hätten, wird erst vor dem Hintergrund des Aristotelischen Menschenbildes voll verständlich: Aristoteles zufolge ist der Mensch ein „zoon politikon“, ein politisches, manche übersetzen auch: ein soziales Tier. Und weil dieses Tier stets in Rudeln auftritt und sich über sein Handeln öffentlich Gedanken macht, bildet es im Laufe der Zeit einen reichhaltigen Bestand an gemeinsamen Handlungserfahrungen, Regeln, Tabus, ethisch-moralischen Grundsätzen und Gesetzen aus. Der Ethiker, so fordert Aristoteles, müsse sich bei seiner Frage nach dem Guten von diesen historisch gewachsenen, spezifischen moralischen Äußerungen der Menschen leiten lassen. Auch wenn er sie zu hinterfragen habe, dürfe er sie nicht grundsätzlich ignorieren. Schließlich regelten sie das Zusammenleben in ethischer, moralischer Hinsicht in den meisten Fällen ganz passabel. Sie können also, meint Aristoteles, nicht völlig verkehrt sein. Sie bilden eben eine Lebensform, einen mehr oder weniger beweglichen Rahmen, innerhalb dessen sowohl gut als auch schlecht gehandelt werden kann. (Wobei gut nicht automatisch heißt, so zu handeln wie die anderen schon immer gehandelt haben.)
Worin aber besteht nun die Aristotelische „Glückseligkeit“ und vor allem: Wie handelt man gut? Die Antwort auf die erste Frage lautet schlicht und verblüffend: Indem man ohne Hintergedanken, also völlig zweckfrei, „reine Wissenschaft“ betreibt – und sonst nichts! Nummer zwei lässt sich so beantworten: Gut handelt, wer sich an die rechte Mitte zwischen zwei bekannten Extremen hält. Beides ist erklärungsbedürftig.
Nach Aristoteles besteht das Gute in der tätigen Entfaltung wesensmäßiger Eigenschaften und Fähigkeiten. Im Falle des Menschen: in der Betätigung seiner Vernunft, denn diese unterscheide ihn wesentlich vom Tier. Die höchste Form menschlicher Vernunft – und damit die höchstmögliche Stufe irdischer Glückseligkeit – ist Aristoteles zufolge aber die kontemplative, geistige Schau der letzten Gründe und Prinzipien des Seins. Diese benötigt weder bestimmte Werkzeuge (wie etwa Laborgeräte), noch ist sie im engeren Sinne eine Tätigkeit. Der antike „Wissenschaftler“ (wie bei allem, was in der Antike gesellschaftlich relevant war: ausschließlich ein Mann) bewegt im Akt des Schauens nicht einmal mehr seine Gedanken. Er ruht, der Welt abgewandt, ganz in sich und ist abgeschottet von allen möglichen Sinneseindrücken und Empfindungen. Seine dem Göttlichen nahe stehende Lebensform, der „bios theoretikos“, später auch als „vita contemplativa“ bezeichnet, ist mit unserer heutigen Form von Wissenschaft ganz offensichtlich überhaupt nicht mehr vergleichbar. Für den Aristotelischen Weisen wären unsere rührigen akademischen Drittmitteleinwerber, Verwaltungsjongleure und Institutsvorstände allenfalls gute „Techniker“ gewesen. Ihre Glückseligkeit steht deshalb zwar nicht unbedingt auf dem Spiel (sie liegt in der Ausübung anderer Tätigkeiten). Mit der Erkenntnis des Guten, Schönen und Wahren haben sie aber – in Aristoteles’ Augen – nur noch sehr wenig zu tun.

Was das alltägliche (gute und schlechte) Handeln betrifft, ist das kontemplative, betrachtende Vernunftvermögen weniger gefragt. Nötig ist hier vor allem Klugheit (griechisch: phronesis). Sie regelt in Abhängigkeit von den jeweiligen situativen Rahmenbedingungen, was konkret zu tun ist. Das ist oft keine leichte Aufgabe. Schließlich ist jede Handlungssituation voller Fallstricke. Richtig, das heißt „gut“ zu handeln, heißt zugleich: 1.) zur rechten Zeit, 2.) am rechten Ort, 3.) den richtigen Menschen gegenüber, 4.) aus dem richtigen Beweggrund heraus, 5.) in der richtigen Art und Weise sowie 6.) im richtigen Maß. Das richtige Maß trifft man nach Aristoteles am besten, in dem man dasjenige von zwei Extremen vermeidet, das zur – relativen – Mitte im größeren Gegensatz steht. Konkret bedeutet das: Wer vor der Wahl steht, ein Kleinkind im Eisweiher ertrinken zu lassen oder unter Einsatz des eigenen Lebens, zumindest aber mit dem Risiko einer saftigen Lungenentzündung, zu retten, sollte seine Handlungsenergie eher in Feigheitsvermeidung als in Tollkühnheitsvermeidung investieren. Ebenso sollte Prasserei eher vermieden werden als Sparsamkeit. Allerdings geziemt sich Sparsamkeit für den weniger Betuchten mehr als für den Reichen. Knausert dieser, so gilt er zu Recht als engherzig. Unrecht tut er aber auch, wenn er zu viel austeilt. Im IV. Buch der Nikomachischen Ethik schreibt Aristoteles: „Man schätzt die Freigebigkeit nach dem Vermögen. Denn sie beruht nicht auf der Größe der Gabe, sondern auf der Gesinnung des Gebers, und mit der steht es bei dem Freigebigen so, dass er nach dem Maße seines Vermögens gibt.“ Nicht mehr und nicht weniger.
Wie aber trifft man in allen seinen Handlungen, die ja in recht unterschiedlichen Kontexten stattfinden und unterschiedliche Anforderungen an den Handelnden stellen können, das „richtige“ Maß, die „richtige“ Mitte? Aristoteles empfiehlt, man ahnt es schon: üben, üben, üben! Am besten, indem man sich besonders „gute“, gesellschaftlich geachtete Menschen zum Vorbild nimmt; indem man sich sowohl in Übereinstimmung mit den guten Sitten der Gemeinschaft (der gesellschaftlichen Lebensform) als auch seiner eigenen Handlungserfahrungen sowie seiner Klugheit bedient. Hat sich aufgrund dessen erst einmal ein Habitus, eine Gewohnheit ausgebildet, fällt es uns Aristoteles zufolge leichter, in einer vergleichbaren Situation die „richtige“ Mitte zu treffen, das heißt konstant „gut“ zu handeln. Daher definiert Aristoteles auch die Tugend und das tugendhafte, gute Handeln als einen Habitus, der auf die Mitte zielt. Allerdings die Mitte „für uns“. Dieser Zusatz betont, dass es keine verbindlichen Verhaltensregeln geben kann, die in jeder Handlungssituation unverrückbar gelten. Die Mitte ist nicht nur der Sache nach (wie im oben genannten Beispiel) ein relativer Begriff – sie ist nicht arithmetisch zu verstehen –, sondern auch hinsichtlich unserer Natur. Denn als sinnliche, lustfreundliche Wesen sind wir Aristoteles zufolge grundsätzlich weiter entfernt von angemessener Wohlanständigkeit als von unmäßiger Zuchtlosigkeit. Deshalb falle es uns auch schwerer, die Lüste zu bezähmen als ihnen in Verbindung mit möglicherweise ethisch verwerflichen Taten nachzugeben. Auf Weihnachten bezogen ist hier natürlich sofort an übermäßigen Schokoladen- und Gebäckkonsum zu denken...
Kurzum, die Botschaft der Nikomachischen Ethik ist trotz allem eine frohe: Denn gutes Handeln ist machbar! Man kann es Aristoteles zufolge regelrecht lernen – und sich so auf den Weg zur Glückseligkeit begeben. Die schlechte Nachricht: Man muss ein Leben lang am Ball bleiben. (Wer sich dabei übrigens an das heutzutage so vehement geforderte „lebenslange Lernen“ erinnert fühlt, liegt gar nicht so falsch. Man könnte dieses pädagogische und gesellschaftspolitische Konzept durchaus als säkularisierte, stark verkürzte Variante der Aristotelischen Glückseligkeitslehre begreifen: Gut wird es nur denen gehen, so lauten Verheißung und Drohung gleichermaßen, die sich permanent weiterbilden...)
Was aber heißt das alles nun in Bezug auf Weihnachten? In erster Linie kann Entwarnung gegeben werden: Die Aristoteliker unter den Schenkenden dürfen getrost mit offenem Geldbeutel in den Weihnachtsbummel starten. Sie sollten aber das rechte Maß dabei nicht aus den Augen verlieren! Der oder die Beschenkte sollte sich weder von der Wucht der Präsente erschlagen, noch ob ihres übertriebenen Understatements beleidigt fühlen. Das heißt: Je mehr einem das zu beschenkende Gegenüber potenziell auf den Gabentisch legen könnte, desto tiefer darf man selbst für es in die Weihnachtskasse greifen. Im Idealfall sonnen sich dann am Heiligen Abend gleich zwei Glückselige – im Kerzenschein des Tannebaums und in der eigenen Güte. Im Soziologendeutsch ein klarer Fall von gelungener „Reziprozität“.
Die Grande Dame der angloamerikanischen Moralphilosophie, Filippa Foot, stellt in ihrem vergnüglichen Büchlein Die Natur des Guten die knifflige, aber weihnachtlich hochrelevante Frage, was es mit einer Handlung auf sich hat, „die zwar einem guten Zweck dient, diesen aber mit unmoralischen oder törichten Mitteln realisiert – oder mit einer Handlung, die zwar an sich getan werden sollte, die der Handelnde aber für töricht oder »falsch« hält?“ Nach Thomas von Aquin (um 1225-74), den Foot zitiert, genügt bereits ein einziger „Defekt“ in der Handlungskette, um die ganze Handlung in Frage zu stellen, das heißt „schlecht“ zu machen. Auf Weihnachten gemünzt bedeutet das: Finger weg von Unsinnspräsenten aller Art! Lieber ein romantisches Essen zu zweit statt dem fünften, überflüssigen Kaffeeservice, besser ein Gutschein fürs Thermalbad als die x-te Krawattennadel. Denn Absicht, Kantisch gesprochen: guter Wille, Geschenk und Beschenkter sollten ethisch einwandfrei zusammenpassen. Wer hinsichtlich der eigenen Weihnachtseinkäufe an dieser Einheit Zweifel hegt, sollte das Schenken vielleicht lieber ganz sein lassen. Obwohl: da wäre ja auch noch das Schenkritual, das befriedigt werden will und seine Missachtung mit sozialem Ausschluss bestraft. Wer niemandem nichts schenkt, wird schnell zum Außenseiter. Also doch lieber Unsinn verschenken? Am besten ist, der jeweilige Geschenkmodus wird im Voraus kommunikativ ausgehandelt, um böse Überraschungen am Stichtag zu vermeiden. Wer aber seit Jahren stets mit derselben Unlust denselben Unsinn verschenkt, gefährdet mit Sicherheit seine Glückseligkeit. Ein derart schlechtes Geschenkverhalten könnte sogar über den Tod hinaus unglücklich machen. Aristoteles bezog diese Überlegung (im I. Buch der Nikomachischen Ethik) zwar eher auf die Auswirkungen verwerflicher Handlungen von missratenen Nachkommen auf die Glückseligkeit der verstorbenen Seele als auf das ihm noch unbekannte Weihnachtsfest. Man sollte aber vorsichtshalber lieber nichts anbrennen lassen. Foot betont im Übrigen, dass man „die Bereitschaft sich selbst Gutes zu gönnen, als eine Tugend des Willens“ anzuerkennen habe. Daraus folgt, dass man sich an Weihnachten ruhig auch einmal selbst etwas schenken darf.
Für diesen Fall zu guter Letzt noch ein paar Tipps aus der Abteilung Bücher – die einzigen Geschenke, von denen Menschen (Achtung: Ethik!) nicht nur aus Sicht von Aristoteles niemals genug bekommen können sollten! Grundsätzliches für den Ohrensessel bietet das bei Suhrkamp erschienene „Glossar der Gegenwart“. In gehobenem, subversivem Ton versammelt der Band 43 Kampf- und Ordnungsbegriffe unserer Zeit („Evaluation“, „Gen“, „Kundenorientierung“, „Wellness“ etc.), um sie genüsslich zu sezieren und die in ihnen konservierte Ideologie zu entlarven. Ein Lesevergnügen, das jede mentale Feiertagsmüdigkeit aufs Angenehmste vertreibt! Wer mehr zum Thema „Gut“ und anderen philosophischen Grundbegriffen wie „Wahrheit“, „Sein“, „Freiheit“ oder „Tod“ erfahren will, dem seien Rafael Färbers Philosophische Grundbegriffe ans Herz gelegt, die es als zweibändige Taschenbücher bei Beck gibt. Robert Spaemann umreißt ethische Vokabeln in seinem ebendort in siebter Auflage erschienenen dünnen Bändchen Moralische Grundbegriffe, das man auch in einem Rutsch an einem verschneiten Nachmittag mit Gewinn lesen kann. Für Anspruchsvollere empfiehlt sich der Kauf von Tugendhats Vorlesungen über Ethik, bei Suhrkamp als stw-Jubiläumsband sogar in gebundener Form für einen echten Spottpreis erhältlich. Besonders weihnachts- und geschenktauglich ist Wilhelm Schmids Einführung in die Lebenskunst aus demselben Verlagshaus, die unter anderem auch auf den Aristotelische Glücksbegriff Bezug nimmt.
Alle Bücher genügen im Übrigen höchsten ethische Kriterien: Sie sehen gut aus, sind keineswegs unerschwinglich und können unter Umständen sogar glückselig machen.
Fröhliche Weihnachten!
Zur Person
Christian Dries ist Redakteur dieses Magazins. Er studierte Philosophie, Soziologie und Geschichte in Freiburg und Wien. Zurzeit arbeitet er an einem Lehrbuch zur soziologischen Modernisierungstheorie und seiner Promotion.
Literaturliste
- Aristoteles: Nikomachische Ethik (div. Ausgaben, u.a. bei Reclam, dtv oder Meiner)
- Philippa Foot (2004): Die Natur des Guten. Frankfurt/M.
- Rafael Färber (1994 und 2003): Philosophische Grundbegriffe (2 Bde.). München
- Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (2004): Glossar der Gegenwart. Frankfurt/M.
- Wilhelm Schmid (2000): Schönes Leben? Einführung in die Lebenskunst. Frankfurt/M.
- Robert Spaemann (2004): Moralische Grundbegriffe, 7. Aufl. München
- Ernst Tugendhat (2003): Vorlesungen über Ethik. Frankfurt/M.
