Gemeinschaft als Geschenk
Eine feine Seele bedrückt es, sich Jemanden zum Dank verpflichtet zu wissen;
eine grobe, sich Jemandem.
(Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches; 330)
Der englische Begriff für Gemeinschaft, „Community“, stammt aus dem Lateinischen: communis – gemeinsam. Das Wort setzt sich zusammen aus cum – „zusammen mit“ und munus – „das Geschenk“. Communities charakterisieren sich also dadurch, dass sie sich untereinander beschenken. In westlichen Gesellschaften hat sich die Ansicht verfestigt, dass man für eine Leistung eine Gegenleistung erhalten muss. Wer sich mit der doppelten Buchführung auskennt, wird wissen, dass jede Ausgabe auf dem Gegenkonto als Einnahme gebucht wird, damit das Konto ausgeglichen ist. Um das Nehmen und Geben zu vereinfachen, wurde in den meistverbreiteten Kulturen Geld als Mittler für den Austausch von Waren und Leistungen eingeführt. Wie sinnvoll diese Erfindung ist, wird jedem klar, wenn er sich vorstellt, was geschähe, wenn es sie mit einem Mal nicht mehr gäbe. Überlegen Sie sich, wogegen Sie ihr nächstes Abendessen eintauschten, wenn Sie kein Geld mehr hätten. Der unschlagbare Vorteil der Geldwirtschaft liegt darin begründet, dass Geld universell einsetzbar ist. Der Geldverkehr entspricht einer Art Algebra (Lehre zwischen der Beziehung von Grössen). Es verwundert wenig, dass gerade in Arabien das moderne Geld erfunden wurde – wie übrigens auch die Algebra selbst und grosse Teile der Chemie, die sich mit Beziehungen zwischen Elementen befasst.
Das japanische Wort für schenken „Butsu Butsu Kokan“ bedeutet wörtlich Objekt-Objekt-Tausch. Im Buddhismus ist es üblich, dass sich nicht der Beschenkte bedankt, sondern der Schenkende dafür, dass er den anderen beschenken durfte. Der Wert des Geschenkes ist nachrangig. Mit Annahme des Geschenkes gibt der Beschenkte zu verstehen, dass er einer Gemeinschaft mit dem Schenkenden offen gegenüber steht.
Geld stellt ein Versprechen dar. Eine Übereinkunft, die alle Mitglieder einer Volkswirtschaft akzeptieren. Ich kann sicher sein, dass ich mit dem Lohn, den ich heute auf die Hand bekomme, morgen mein Brot und meinen Käse kaufen kann.
Eine berechtigte Frage ist natürlich, ob man für einen Austausch gegen ein Versprechen – denn nichts anderes stellt Handel dar – unbedingt Geld benötigt. Gestern habe ich im Supermarkt eingekauft mit meiner EC-Karte – nicht mit Geld. Am Rosenmontag kann ich in Köln Küsse kaufen und muss mit Rosen bezahlen – nicht mit Geld.
Auf der Karolinen-Insel Yap, in der Bismarck-See vor Papua-Neuguinea, zahlt man mit Steinen, die bis zu 4 Meter hoch sind. Geld, das man nicht gerade als handlich bezeichnen kann. Dort ist es üblich, beim Handeln einander Zusagen über das Eigentum von Steinen zu machen. Meistens ist nicht genau klar, wem welcher Stein gehört. Für den Handel spielt es auch keine Rolle. Was für meinen Handel zählt, ist neben der Güte des Geschäfts die Tatsache, dass ich den versprochenen Stein weiterversprechen kann – nichts sonst. So verhält es sich im Grunde mit unserem Geldsystem. Der gravierende Unterschied ist allerdings, dass wir in keiner Weise tätig werden, wenn wir die „Steine“ nicht tatsächlich in der Tasche haben. Dadurch entsteht auch die Situation, dass die Binnennachfrage ebenso stetig steigt wie die Anzahl der Arbeitslosen. Nur so kann man erklären, dass wir auf der einen Seite Engpässe beispielsweise im Pflegebereich haben, dass die Jugend sich ernsthaft Gedanken machen muss, wie es um sie im Alter bestellt sein wird, und wir auf der anderen Seite eine stetig wachsende Zahl von Menschen haben, deren Einsatz und Arbeitskraft nicht mehr gefragt ist. Ein Paradox, dass wir unseren Kindern kaum begreiflich machen können, ohne uns zu schämen oder mindestens ratlos zu sein.
In Japan gibt es neben den Bestrebungen, alte Menschen in die Dritte Welt zu exportieren, um die Pflege der Senioren bezahlbar zu machen, auch ein anderes System. Ein Freiwilliger leistet einen Dienst an einem Bedürftigen: Ein Student kocht einem alten Mann das Essen, eine Nachbarin hilft einer Behinderten beim Ankleiden und Waschen und Ähnliches. Die hierfür benötigte Zeit wird auf einem Zeitkonto gutgeschrieben. Die Zeit kann der Freiwillige nun ansparen und damit seine Pflege im Alter bezahlen. Unter Umständen hat der Student vielleicht auch keine Möglichkeit den kranken Vater, der zum Pflegefall geworden ist, zu pflegen. Nun kann er sein Zeitguthaben an den Vater überweisen, der damit einen Arbeitslosen in der Heimatstadt bezahlen kann. Das System basiert auf Leistung und Gegenleistung. Man könnte auch sagen, es basiert auf Geschenken und Gegengeschenken.
Neben den traditionellen Gesellschaften belegen auch klösterliche Gemeinschaften oder, in der modernen Gesellschaft, die Gemeinschaft der Wissenschaftler, die ihr Wissen kostenlos untereinander austauschen, dass Gemeinschaft durch den Gabentausch entsteht. Die aktuellen Fälle, bei denen Wissenschaftler durch die Finanzierung der Industrie darauf angewiesen sind, Erkenntnisse für sich zu behalten, um einen ökonomischen Vorsprung zu sichern, sind eher Anzeichen dafür, dass sich die wissenschaftliche Gemeinde auflöst – zumindest teilweise.
Will man eine Gemeinschaft zersetzen, betreibt man das Gegenteil von dem, was zu ihrer Entstehung nötig war. Sprich: Man ersetzt das Schenken durch Transaktionen mit Geld. „In der Vergangenheit war der freie Austausch von Materialien, Organismen und Informationen eine der Stärken der amerikanischen Genforschung … Heute jedoch wollen die Universitäten das kommerzielle Potential der Gentechnik nutzen, daher fördert und institutionalisiert man den privaten Profit und die Patentierung von Mikroorganismen. Kulturen werden nicht mehr verschickt, weil man sie nur für die eigenen Zwecke will. Das geschieht bereits. Bakterienstämme und Forschungsergebnisse werden nicht mehr wie früher untereinander ausgetauscht“ sagt Jonathan Kind, Professor für Genetik am MIT. Was diese Entwicklung für die Gemeinschaft der Wissenschaft und vor allem auch für die menschliche Gemeinschaft bedeutet, wird rasch klar. Zum Beispiel, wenn eine Erfindung oder ein Medikament nur deshalb nicht entwickelt wird, weil einige Wissenschaftler sich nichts mehr schenken – und das im wahren Wortsinn.
Natürlich ist Gemeinschaft nicht einfach gegeben, sondern ein dynamischer Prozess. Wenn Gemeinschaft nicht gepflegt wird, zerfällt sie nach und nach. Der Verlust des Gemeinschaftsgefühls wird weithin beklagt. Der Volksmund bemerkt: Geschenke erhalten die Freundschaft. Ich möchte noch einen Schritt weiter gehen: Geschenke erhalten die Gesellschaft. Oder, wie Alan A. Milne bemerkte: „Die Kunst des Schenkens liegt darin, einem Menschen etwas zu geben, was er sich nicht kaufen kann.“
Links zum Thema
- Geld regiert die Welt, oder?
- Komplementärwährungen
- Der Dritte Weg – Was ist Kommunitarismus?
- Eine Robinsonade
Zur Person
Manuel Müller studierte in Freiburg Sinologie, Volkswirtschaft und Ethnologie. Er beschäftigt sich vorwiegend mit Geldtheorie und Finanzpolitik.
Literatur
- Bernard A. Lietaer: Das Geld der Zukunft. New York 1999
- Bernd Senf: Die blinden Flecken der Ökonomie. München 2001
- Helmut Creutz: Das Geldsyndrom. Berlin 1997
