Mehr Hochschulpolitik wagen!
Die vorgezogene Bundestagswahl vom 18. September hat alle überrascht: die Meinungsforscher und den Medienbetrieb, die politische Führungsriege ebenso wie das Wahlvolk selbst. Die Stimmung in den Parteien schwankte zunächst zwischen Enttäuschung und Unmut einerseits, geradezu bizarrer Euphorie und kühnen Planspielen andererseits. Der Comeback-Kanzler hat das letzte, für alle offensichtlich gezinkte, Ass gezogen, und die Republik hält den Atem an: darf der das? Vom Rambo-Regierungschef war die Rede, Rüpeleien und Schuldzuweisungen bestimmten die politische Auseinandersetzung kurz nach der Wahl, nach der nichts mehr so zu sein scheint wie bisher.
Fest steht lediglich: Rot-grün ist abgewählt und Schwarz-gelb ist von der angepeilten Mehrheit so weit entfernt wie die SPD dereinst in den offenbar unbrauchbaren Sonntagsfragen von einer damals noch siegesgewissen Union. Fest steht auch: die Deutschen haben mehrheitlich „links“ gewählt, sofern man den rot-rot-grünen Farbenbogen überhaupt noch mit diesem verbindenden, inzwischen beinahe schon antiquierten Etikett versehen kann. Die „Mehrheit links von der Mitte“ (Willy Brandt) bleibt – Ironie der Geschichte? – ungenutzt, zumindest dieses Mal.
Ausnahmslos alle Parteien haben die Hürden für ein Zusammengehen jenseits der bereits im Wahlkampf deutlich zementierten politischen Lagergrenzen ungewohnt hoch gelegt. Das bedeutet keineswegs, dass man nicht doch zu einer – möglicherweise sogar raschen – Einigung kommt, die derzeit wohl geradewegs auf eine große Koalition hinausläuft.
Ganz gleich aber welche Parteien uns mit welchem Personal voraussichtlich ab Oktober tatsächlich regieren, sie stehen vor immensen Aufgaben. Das gilt, trotz Exzellenz-Initiative, auch für die Hochschulpolitik, die im vergangenen Wahlkampf keine nennenswerte Rolle gespielt hat. Dabei ist das Thema (Hochschul-)Bildung ein regelrechter Kristallisationspunkt der gegenwärtigen deutschen Misere – und zugleich ein möglicher Ausweg.
Denn gut gemachte Hochschulpolitik kann ein Synonym für lohnende Investitionen in die Zukunft sein, nicht nur in ökonomischer Hinsicht. Gut gemachte Hochschulpolitik kann Hoffnung machen, für junge Menschen, die trotz einer vom Pathetischen zum Skurrilen und zurück changierenden Flut besorgter Ruck-Reden und Sonntagsansprachen nicht an die Stornierung ihrer Lebenschancen unter Berufung auf den demographischen und diverse wirtschaftliche Faktoren glauben wollen. Die mehr erwarten als Blut, Schweiß und Tränen. Und die mehr geben wollen, mehr leisten können, als man ihnen – der Generation „null bock“ – lange Zeit unterstellte. Bildung kann hier ein Schlüssel sein, in mehrfacher Hinsicht, ökonomisch wie psychologisch.
Für Gerhard Schröder, der ohne seinen zweiten Bildungsweg nie Kanzler geworden wäre, war Bildungspolitik ein Thema hart an der „Gedöns“-Grenze. Zwar wuchs der Etat des zuständigen Bundesministeriums, und das Eliteprogramm für Deutschlands international größtenteils abgeschlagene Universitäten stotterte zum absehbaren Ende der Kanzlerschaft des Hannoveraners noch gerade so durch den Bundesrat. Nennenswerte Zuwächse, echte Durchbrüche in der Hochschulfinanzierung wie auf Seiten struktureller Reformen sind dennoch nicht zu verbuchen.
Vom Standpunkt der Wissenschaft aus betrachtet, hat die künftige Regierung daher zunächst zweierlei zu tun: Erstens muss sie die Ausgaben für die Hochschulfinanzierung – spürbar – anheben, selbst wenn diese Forderung zunächst nur über neue Kredite realisiert werden kann oder durch Einsparungen an anderer Stelle. Denn auch wenn die nächsten beiden oder gar drei Bundeshaushalte davon noch wenig spüren werden, wird die Rendite dieser strategischen Investition mittelfristig nicht auf sich warten lassen. Nur hier, nicht bei der Finanzierung von Arbeitslosigkeit nach dem immer offensichtlicher wirkungslosen Prinzip „fördern und fordern“ (wo keine Arbeitsplätze sind oder entstehen, kann auch nicht gefordert werden...), liegen die Wachstumspotenziale der Zukunft. Für die Wissenschaft, für die junge Generation und – damit verbunden – auch die Volkswirtschaft.
Deshalb muss eine künftige Regierung zweitens auch die Fachhochschulen stärken und ausbauen, viel massiver als bisher. Denn dort wird schneller, anwendungsbezogener und stärker auf privatwirtschaftliche Bedürfnisse ausgerichtet studiert als an Universitäten, in international geschätzter Qualität und Güte. Fachhochschulen bieten auch denjenigen eine – international kompatible – Ausbildung, die es nicht an die Alma Mater zieht oder die dort besser auch nicht einziehen sollten.
Denn die Universität muss erhalten bleiben als Ort der Spitzenforschung und als Entwicklungsraum und Katalysator für die hellsten Köpfe von morgen – auch für diejenigen, die sich in Zukunft Gedanken darüber machen, wie es weitergehen soll, jenseits von Wachstumsprognosen, Heuschreckenphantasien und alten Rezepten („Vollbeschäftigung ist möglich“...), die Geisteswissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler also.
Gerade ein Land wie Deutschland, das vor immensen Reformaufgaben steht, braucht nichts weniger als Politiker, die diejenigen zum Arzt oder in die Arbeitslosigkeit schicken wollen, deren Beruf und Berufung es ist, in nutzfreien Räumen Visionen, Alternativen, neue Lösungsansätze zu entwickeln.
Während die Naturwissenschaften traditionell krisensicherer finanziert werden und weitaus bessere Möglichkeiten haben, erkleckliche Summen an Drittmitteln einzuwerben, hapert es bei den geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern oft an der nötigsten Ausstattung, vom Personal ganz zu schweigen. Letzteres verursacht dort die meisten Kosten. Es lohnt sich aber keineswegs, hier allzu großzügig mit dem Rotstift zu hantieren. Im Gegenteil.
Zu so vielfältigen Themen wie Umbau der Arbeitsgesellschaft, neue Arbeitsformen, soziale Gerechtigkeit, Globalisierung, Biotechnologie, Gehirnforschung und neue Volkskrankheiten (Rückenschmerzen, Depressionen) brauchen wir Denkanstöße, alternative Denkmodelle, geistige Werkzeuge, die nicht aus betriebswirtschaftlichen Instituten oder naturwissenschaftlichen Labors kommen, ja gar nicht kommen können!
Die Berliner Republik der Schröders und Fischers hat seit dem 18. September noch weniger mit der alten BRD gemeinsam als zuvor. Trotzdem lohnt sich ein kurzer Blick zurück: Unter der Kanzlerschaft Willy Brandts (1969-74) umfasste die so genannte „Schreibstube“ im Bundeskanzleramt, eine illustre Versammlung hochkarätiger Denker, Redenschreiber und Berater, gut zwei Dutzend Personen. Unter Gerhard Schröder stehen gerade einmal zwei Vordenker von nicht gerade überwältigender Brillanz auf verlorenem Posten. Als Schröders bester Redenschreiber, Reinhard Hesse, vor einem Jahr überraschend verstarb, herrschte in der Berliner Regierungszentrale höchste Aufregung.
Verwunderlich ist das nicht. Keine Regierung, keine Partei, kein Unternehmen und erst recht kein Land kann erfolgreich arbeiten und gedeihen, wenn es sich systematisch unter Hinweis auf vermeintliche Sparzwänge – wohlgemerkt, es handelt sich zumeist, wenn nicht immer, um selbst definierte Sparzwänge! – oder sogar schlichte, dumme Ignoranz seiner Freidenker entledigt, seine vor betriebswirtschaftlichen Imperativen abgeschirmten geistigen Reservate rodet.
So wenig wie in Berlin die neue Linkspartei eine in die Zukunft gerichtete Alternative aufzeigt, so wenig führen sozialdemokratischer Technokratismus und schwarz-gelber Neoliberalismus ans Ziel. Das gute Abschneiden der Linkspartei, die sich als einzig wahre Alternative zur großen „Hartz—IV-Koalition“ stilisiert, weist darauf hin, dass wir wieder mehr, kreativer denken müssen. Mit Bachelor und Master, mit Evaluationsschlachten und Etatkürzungen in den Geisteswissenschaften können wir das nicht (mehr) leisten.
Wir haben aber keine andere Wahl. Anders als Gerhard Schröders tägliches Hartz-Mantra („Es gibt keine Alternative zu meinem Reformkurs“) uns weismachen wollte und will, brauchen wir nichts so zwingend wie Alternativen und, ja, auch Visionen. Sie gedeihen, anders als in Amerika, wo tausende von „think tanks“ Ideen wie am Fließband produzieren, in den geistes- und sozialwissenschaftlichen Gedankenbiotopen unserer Universitäten. Und sie könnten Mut machen, Hoffnung wecken, ansteckend wirken, letztlich sogar die Wirtschaft beflügeln – nur umsonst sind sie nicht zu haben. Wer eine starke Wirtschaftskraft und blühende geistige Landschaften in Deutschland will, muss endlich wieder mehr Hochschulpolitik wagen!
Zur Person
Christian Dries ist Chefredakteur dieses Magazins.
