Die Abschaffung der Stille
Schreibwerkzeuge, sagt Nietzsche, arbeiten an unseren Gedanken mit. Nehmen wir einmal an, dass davon nur ein Hauch wahr ist: dann möchte ich gerne Stift und Papier zurück. Wohin man auch schaut und hört in den Bibliotheken allüberall – es klappern die Tastaturen, es schlagen die Finger auf einzelne Buchstaben, es werden die Rechenknechte gequält. Leute, die nie ihre ersten Schritte auf einer echten Schreibmaschine gemacht haben, traktieren die QWERTYs der Laptop-Welt. Vorbei die Zeiten, in denen Bibliotheken ein Ort der kontemplativen Ruhe waren. Warum nicht einfach mal an jeden Tisch eine Remington stellen? Vielleicht bemerken dann die notorischen Tippsen ja den Lärm, den sie verbreiten? Im Zweifelsfall ergänze man die gute alte Schreibmaschine um einen Fön, damit auch die großen Pfeiffen unter den Notebooks anständig simuliert werden. Das geräuschverpegelte Ende der Bibliothek aus dem Geiste des Rechenzentrums, es naht.
Wehe, man untersteht sich, um etwas leiseres Tippen zu bitten! Auch die Gutwilligen haben nach 10 Minuten ihre alte Lautstärke erreicht. Voraussehende haben selbstverständlich ihre Ohropax dabei, neuerdings leisten auch iPods gute Hipster-Dienste. Damit kann man vielleicht die Hintergrundgeräusche etwas mindern, aber mittlerweile braucht es noch eine Augenbinde dazu. Denn die dilettantische Informatisierung der WissenstempelnutzerInnen geht weiter: Mittels Digitalkamera werden ganze Werke abfotografiert. Bisheriger Höhepunkt, so gesehen und erlitten in der Berliner Staatsbibliothek Unter den Linden: ein mitgebrachter Textscanner, der laut dröhnend seinen Dienst versieht. Klar, die Reproduktionskosten sind oft unverschämt. Aber müssen es deshalb aus der Hand geschossene Aufnahmen bei schlechtem Licht sein? So werden die fotografischen Standards der analogen Welt mit digitaler Schlamperei locker unterboten.
Überhaupt: Würden all die Wissensarbeiter doch wenigstens die Möglichkeiten ihres Arbeitsgerätes nutzen! Literaturdatenbanken? Fehlanzeige, stattdessen wird munter ins Word-Format exzerpiert. Zehn-Finger-Schreiben? Wie gern würden wir darüber den Mantel des Schweigens hüllen. Präsentationen? Sind kein Allheilmittel: Komplexe Sachverhalte lassen sich nicht in drei Spiegelstrichen ausdrücken.
Im Laptop-Fieber wird der souveräne Wechsel der Schreibgeräte verlernt. Und damit auch – Nietzsche lässt grüßen – eine Vielfalt der Denkformen. Kants (auf Papier entstandene!) Kritik der Urteilskraft lässt sich nun mal nicht im Tippverfahren auf ihre argumentativen Höhepunkte reduzieren. Da lobe ich mir die Juristinnen und Wirtschaftswissenschaftler, die zum leisen Lernen in die Bibliothek kommen. Mit Karteikarten.
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Zur Person
Sebastian Gießmann ist Studienpreisträger 2003 und schreibt derzeit an seiner Dissertation zur Kulturgeschichte der Netzwerke. Er bemüht sich, leise zu tippen.
