Mai 2006

Wie viel Soziologie kann und will sich die Gesellschaft leisten?

*Wenn es um die Frage „Staat versus Markt“ geht, streiten sich bekanntlich die Geister.
Ein Dialogversuch von Nadine Schöneck.

Meine akademische Lieblingsdisziplin, die Soziologie, gilt vielen Zeitgenossen als vergleichsweise wenig marktkompatible Wissenschaft mit allenfalls mittelbarem Potential für Ökonomie und Fortschritt. Vor diesem Hintergrund hat sie einen schweren Stand in Zeiten, in denen es der Gesellschaft so schlecht geht, weil es insbesondere der Wirtschaft so schlecht geht.

Denn was ist Soziologie, wozu dient sie (siehe Bild)?
Ist es so, dass der Blick der Soziologie auf Betrübliches gerichtet ist? Scheidungsraten, Protestneigungen, karrierehinderliche Glasdecken, Schulhöfe als Kampfplätze... Sind die Untersuchungsgegenstände meiner Wissenschaft in erster Linie unerfreulicher Natur? Ist es ernüchternd, davon zu erfahren?

Nadine M. Schöneck
Nadine M. Schöneck

Der Gesellschaft – zutreffender: den gesellschaftlichen Entscheidungsträgern – erscheint es zielführender und vor allem lukrativer, in wissenschaftliche Disziplinen mit unmittelbarem Potential zu investieren. Investitionen in High-Tech im Bereich der Natur- und Ingenieurwissenschaften mögen sich rasch in barer Münze auszahlen, sie amortisieren sich schneller.

Mein Lebensgefährte ist habilitierter Volkswirt – und vor allem ist er ein Wirtschaftsliberaler. Ich hingegen ticke ganz anders. Mit großer Begeisterung liefern wir uns heiße Wortgefechte; ich zitiere aus einem kürzlich stattgefundenen Schlagabtausch:

Ich: Die Soziologie ist eine Wissenschaft, die – nicht weniger als die Ingenieurwissenschaften – zur Fortentwicklung der Gesellschaft beiträgt. Man erkennt das daran, dass sie in der Lage ist, soziale Ungleichgewichte aufzuzeigen, sodass dann der Staat eingreifen…

Er: Du meinst, dass dann der Steuerzahler zur Kasse gebeten wird, denn der Staat – das sind wir, die Steuerzahler.

Ich: Der Staat hat die Aufgabe, Ungleichgewichte zu bekämpfen!

Er: Warum sollte er? Es ist doch so, dass überall, wo der Staat eingreift, Marktkräfte empfindlich gestört werden. Der Staat sollte sich auf das Briefmarkenmonopol und die Landesverteidigung beschränken. Alles andere geht ihn nichts an. Greift er ein – zum Beispiel durch die Subventionierung unrentabler Branchen oder durch Sicherung von Mindestlöhnen –, wird Volksvermögen verschleudert.

Ich: Na, so einfach darf man das nicht sehen. Das Beispiel der Mindestlöhne zeigt doch sehr deutlich, welche Aufgabe hier auf den Staat zukommt: Verzichtete er auf die Sicherung eines Mindesteinkommens, würden viele völlig verarmen.

Er: Der Lohn ist der Preis für Arbeit – und Preise richten sich nach Angebot und Nachfrage. Werden bestimmte Arbeiten nicht hinreichend nachgefragt, dann muss der Preis für diese Arbeiten sinken. Nur so wird es erreicht, dass unrentabler Einsatz von Arbeit allmählich verschwindet und durch rentablere Beschäftigungsformen ersetzt wird. Frei bewegliche Preise – und damit auch Löhne – sorgen für einen optimalen Einsatz der zur Verfügung stehenden Ressourcen. Die Festlegung von Mindestlöhnen verhindert diesen Optimierungsmechanismus.

Ich: Aber man muss doch die betroffenen Menschen sehen. Es ist unmoralisch, auf jeden Fall aber ungerecht, wenn dieser so genannte Marktmechanismus dafür sorgt, dass deren sozio-kulturelles Existenzminimum unterschritten wird.

Er: Bei der Frage, was ein marktwirtschaftliches System leistet, geht es nicht um Moral und auch nicht um Gerechtigkeit, sondern um maximalen Ertrag. Nur wenn Gewinn- und Nutzenmaximierung das übergeordnete Ziel ist, wird optimal gewirtschaftet – und dann ist auch der Kuchen größer, der verteilt werden kann. Alternative Wirtschaftsmodelle zur Marktwirtschaft haben ihre diesbezügliche Unterlegenheit zur Genüge bewiesen.

Ich: Aha. Es ist also ein Kuchen da, der aufgeteilt werden soll. Und wer bitte, soll diese Verteilung vornehmen, wenn nicht der Staat?

Er: Auch dafür sorgt der Markt. Allerdings – das ist zuzugeben –, wenn es dabei zu unzumutbaren Härten kommt, müssen sozialpolitische Maßnahmen greifen – aber nicht, indem das freie Spiel der Marktkräfte gehindert wird, wie es zum Beispiel bei Preis- oder Lohnfestsetzungen der Fall wäre, sondern etwa durch Einkaufsgutscheine, die es Bedürftigen erlauben, ihre Situation zu verbessern.

Ich: Und wer finanziert diese Gutscheine?

Er: Na klar, der Steuerzahler – aber dadurch werden die Preisbildungsmechanismen auf Gütermärkten und auf dem Arbeitsmarkt weder behindert noch gestört, sodass nach dem Prinzip der Gewinnmaximierung die optimale Ressourcenallokation…

Ich: Das sagtest Du schon. Ich denke aber, dieses Prinzip greift zu kurz: Man muss sich doch darüber im Klaren sein, dass die Benachteiligung, die bestimmte Bevölkerungskreise durch das freie Spiel der Marktkräfte erfahren,…

Er: ...übergangsweise mag das so sein, aber längerfristig profitieren alle…

Ich: …dass dieses freie Spiel gesellschaftliche Folgekosten erzeugt, die in den Gewinnberechnungen der sich nach Deiner Ansicht optimal verhaltenden Marktteilnehmer nicht auftauchen. Diese Akteure externalisieren einen Teil der Kosten ihrer Vorgehensweise, indem die Verschärfung sozialer Ungleichgewichte zu sozialem Unfrieden, zu Spannungen, zu Unruhen führt – zu zusätzlichen und kaum kalkulierbaren gesellschaftlichen Kosten also.

Er: Zugegeben, da ist was dran…

Ich: Und diese Weitsicht leistet die Ökonomie wohl eher nicht. Deshalb ist es notwendig, dass sich die Soziologie in die Debatte über die Weiterentwicklung der Gesellschaft einmischt.

Ja, das alles sieht die Soziologie – und zwar schärfer, als es beispielsweise die wirtschaftswissenschaftliche Nachbardisziplin vermag.

Das Produkt der Soziologie – ich würde es als gesellschaftliches Orientierungswissen bezeichnen. Möglicherweise erscheint die Soziologie den Akteuren, die über die Verteilung von Fördermitteln entscheiden, aber genau deshalb nicht in gleichem Maße förderungswürdig wie andere Wissenschaften, weil sich gesellschaftliches Orientierungswissen tendenziell schlechter vermarkten – und schon gar nicht patentieren – lässt. Und weil die Soziologie einfach unbequem sein kann. Siehe obiges Wortgefecht...

Meine Hoffnung, die mich noch eine Weile am Wunsch festhalten lässt, Wissenschaft als Berufsziel zu nennen, gründet auf folgender Vermutung: Vielleicht verhält es sich mit der Gesellschaft auf der Makroebene wie auf der Mikroebene mit dem Menschen. Der Mensch startet als unbeschriebenes Blatt und ist zunächst darauf bedacht, seine Grundbedürfnisse zu befriedigen. Er wächst, sammelt Erfahrungen und wird reifer, eventuell sogar weise.
Jetzt erkennt er, dass es zu einem erfüllten Leben mehr bedarf als lediglich der Befriedigung seiner Grundbedürfnisse. So könnte auch die Gesellschaft irgendwann – und zwar in hoffentlich nicht allzu ferner Zukunft – so weit gereift sein, dass sie im Stande ist zu erkennen, dass auch Wissenschaften, deren Nutzen nicht unmittelbar ersichtlich ist und die sich medial nicht ganz so schillernd präsentieren lassen, ihren Wert haben.

Meine Aufforderung an alle, die über Entscheidungskompetenzen verfügen: Neben der Betonung des Marktgeschehens sollte sich eine hoch entwickelte Gesellschaft wie die unsere ein gutes Stück mehr leisten!
Ich halte es für falsch, vom Luxus wenig marktkompatibler Wissenschaften zu sprechen, denn die hoch gezüchtete Konzentration auf Produkte und Patente wird auf längere Sicht zu massiven gesellschaftlichen Kosten führen – vor denen etwa die Soziologie warnen kann. Hört man auf sie, so wartet auch hier ein Gewinn – ein immaterieller sowieso, über Umwege aber möglicherweise auch einer in barer Münze.

Beitrag von Nadine M. Schöneck

Zur Person

Nadine M. Schöneck studierte Sozialwissenschaft in Bochum, Austin/Texas und Oxford. Sie arbeitet gegenwärtig als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der FernUniversität in Hagen, wo sie auch ihr Dissertationsvorhaben verfolgt. Im vergangenen Jahr erfüllte sie sich einen alten Jugendtraum und trat der SPD bei.

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