Juni/Juli 2007

Umwelt ohne Bewusstsein

Seit das UN-Expertenpanel IPCC immer lauter vor dem Klimakollaps warnt und Russland seinen Nachbarn im kalten Winter 2006 nicht ohne politischen Hintergedanken den sprichwörtlichen Gashahn abdrehte, ist die Energiefrage aus der Müsli-Ecke auf die Vorderbühne der öffentlichen Debatte aufgestiegen. Für das Umweltbewusstsein ein zweischneidiges Schwert.

Wenn Europa von sich selbst spricht, dann als Hort von Demokratie und Menschenrechten und als weltgrößter Wirtschaftsraum. In der Synthese von Frieden und Wohlstand sei es ihm gelungen, seine inneren wie auch seine Außenbeziehungen durch die positive Kraft des guten Beispiels zu gestalten. So weit die Theorie.
Doch aus der Selbstinszenierung wird schnell Selbsttäuschung. Europa mag glückselig sein, eine auf sich allein gestellte Insel ist es deswegen noch lange nicht. Klima- und Energiefragen, in denen der Kontinent seine natürliche Benachteiligung nicht durch politische Hellsicht wettmachen kann, führen diesen Umstand deutlich vor Augen.

IPCC
(International Panel on Climate Change) Auch als Weltklimarat bekanntes Expertengremium, das 1988 vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) eingesetzt wurde.
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Starke Wirtschaftskraft braucht Energie. Wer – wie die heutige EU – davon mehr verbraucht als er produziert, ist von anderen abhängig. Und wer Energie, vor allem fossile Brennstoffe, liefern kann, hält damit potenziell ein Druckmittel in der Hand. Die Schreckensvision, dass ein Staat seine Energiemacht nicht nur wirtschaftlich, sondern womöglich auch unmittelbar politisch ausüben könnte, stieg am Horizont auf, als Russland Anfang 2006 der Ukraine und Weißrussland sprichwörtlich den Gashahn zudrehte. Und angesichts der UN-Prognose, die Temperaturen könnten aufgrund des Treibhauseffekts um bis zu 5,8°C steigen, bekamen Bürokraten und Bürger gleichfalls nasse Füße.

Mit einem Donnerschlag hatte die Energiepolitik ihr Mauerblümchen-Dasein verlassen, die kräftige Sonnenblume der sanften Energie darf nun auf dem Schlachtfeld geo- und wirtschaftspolitischer Überlegungen blühen: Energieeffizienz, Nachhaltigkeit und energietechnische Innovation treten an gegen Importabhängigkeit, weltweit steigende Nachfrage und überbeanspruchte Versorgungsketten. Mütterlich-bedeutungsschwer konstatiert die EU in ihrem Grünbuch „Eine europäische Strategie für eine nachhaltige, wettbewerbsfähige und sichere Energie“: „Höhere Preise, eine Bedrohung der Energieversorgungssicherheit und der Klimawandel in Europa wirken sich auf unsere Bürger aus.“
Neben außenpolitischen Vertragswerken und ökonomischer Lieferanten-Diversifizierung heißt die Lösung eindeutig: weniger Energie verbrauchen beziehungsweise vorhandene Energie besser nutzen.

Grünbuch Energie der EU
(eigentlich Grünbuch „Eine europäische Strategie für nachhaltige, wettbewerbsfähige und sichere Energie). 2005 veröffentlichtes Dokument als Diskussionsgrundlage für eine EU-weite Energie- und Klimapolitik.
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20 Prozent Energieeinsparungen durch höhere Energieeffizienz hat sich EU-Europa bis 2020 vorgenommen – und einen dazu passenden Strauß von Verordnungen und Richtlinien aus dem Hut gezaubert. Als zentrale Energiesünder bekommen nun auch Wohn- und Geschäftsgebäude ein Label für energiepolitische Korrektheit (Gebäudeenergieausweis)(Hier ein Link auf unseren Beitrag „Energiesparendes Bauen“). Unter dem Decknamen „Verringerung des Energieverlusts im Bereitschaftsmodus“ kommen Elektro-Kleingeräte in den – eigentlich vernünftigen – Genuss erhöhter Effizienzanforderungen. Last not least kann auch die Autoindustrie dank Verringerung des zulässigen CO2-Ausstoßes wieder ganze Serien kunststoffgefertigter Karossen bei steigenden Gewinnspannen ausliefern – ökologische Innovation als Wachstumsmotor.

Bezahlen muss das Ökowunder der Verbraucher – und sperrt sich ahnungsvoll gegen das bürokratisch organisierte grüne Gewissen: In einer Eurobarometer-Umfrage vom November 2006 hält nur ein Drittel der Befragten höhere Standards für ein geeignetes Mittel zur effizienteren Energienutzung; 59 Prozent lehnen es ab, „für grüne Energie mehr zu bezahlen“. Dagegen wünschen sich die Europäer mehr Informationen über effiziente Energienutzung und sind auch durchaus bereit, energiesparende Gewohnheiten anzunehmen: jeweils 49% stimmen den entsprechenden statements zu.

Aktionsplan Energieeffizienz der EU
Von der EU-Kommission verabschiedetes (und in regelmäßigen Abständen erneuertes) Dokument, das Politikfelder und konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der Energieeffizienz formuliert.
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Leider aber sind die Zeiten vorbei, als eine umweltgerechte Lebensführung der bewussten Entscheidung des Einzelnen entsprang. Das Gefühl, Fahrrad fahrend der Luft und auch sich selbst etwas Gutes zu tun, hat sich zum politisch erzwungenen Umweltaktionismus gewandelt. Statt mit dem Kauf der teureren Energiesparlampen zumindest längerfristig keine Miesen zu machen und ein paar Cent in die Hoffnung auf eine grünere Zukunft zu investieren, geben wir unser gesamtes Geld für zwangs-ökologisierte Produkte aus.

Die Umwelt ist aus ihrem esoterischen Äther auf den harten Asphalt europäischer Wohnsilos und Verkehrsadern geplumpst. Sie hat dabei das Bewusstsein verloren. Im „Alles-Öko-Europa“ beschließen Bürokraten, welche Fortschritte Forschung und Technik erzielen müssen, um den Wirtschaftsraum in ökologischer Balance zu halten. Der Verbraucher füttert unterdessen sein persönliches Nachhaltigkeits-Gewissen mit Öko-Labeln.

Politische Eingriffe in Energiefragen sind deshalb ein zweischneidiges Schwert: Die Bedeutung von Energie für Wohlstand und sogar politische Freiheit ruft nach Gestaltung auf höchster Ebene. Doch ohne die Mithilfe jedes Einzelnen wird der Erfolg mager ausfallen. Es ist Zeit, ökologisches Denken zur Bürgerpflicht zu machen. Aber ohne die untertänige Einhaltung von Verordnungen, sondern im Vertrauen darauf, dass aus Überzeugung wahres Umweltbewusstsein wächst – und aus diesem die Innovationen, die uns in Zukunft ein ebenso umweltgerechtes wie lebenswertes Leben ermöglichen.

Nachhaltigkeit
Ein von dem Deutschen Hans Carl von Carlowitz ursprünglich für die Forstwirtschaft erdachtes Konzept, das darauf beruht, von einer Ressource jeweils nur so viel zu verbrauchen, wie im selben Zeitraum auch nachwächst oder anderweitig ersetzt werden kann.
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Beitrag von Christiane Zehrer

Links zum Thema

  • Weltklimarat
  • Generaldirektion Energie und Verkehr der EU-Kommission
  • Eurotopics: Europäische Presseschau zur Energie- und Klimapolitik

Zur Person

Christiane Zehrer ist Redaketurin dieses Magazins und fragt sich manchmal, warum sie für Bioprodukte den doppelten Preis bezahlen muss. Da sie aber für den Weg zur Arbeit das Rad nimmt, spart sie Treibstoff und gelangt so zu einer ausgewogenen Kostenstruktur des umweltfreundlichen Lebenswandels.

Literatur

  • EU-Kommission (2006): Grünbuch. Eine europäische Strategie für nachhaltige, wettbewerbsfähige und sichere Energie. Brüssel, 8.3.2006 (endgültig).
  • EU-Kommission (2006): Aktionsplan für Energieeffizienz. Das Potenzial ausnutzen. Brüssel, 19.10.2006 (endgültig).
  • EU-Kommision (2006): Special Eurobarometer 258. Energy Issues. Fieldwork March-April 2006. Publication November 2006. Brüssel.
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