Oktober/November 2007

Macht hoch die Tür

Alte UniDie Gesellschaft ist im Wandel – und mit ihr die Universität. Neben den jungen Bachelor- und Masterstudenten tummeln sich immer mehr Alte in den Seminarräumen, um mit dem lebenslangen Lernen Ernst zu machen. Doch die Hochschulen sind damit überfordert – und sollten reagieren.

Im Jahr ihres 550-jährigen Bestehens feiert die Freiburger Universität sich selbst – und wird nachdenklich. Ein Kongress soll klären helfen, wo die Universität im Allgemeinen (und die Breisgauer im Besonderen) in der von globalem Wettbewerb, Exzellenzinitiative und Sparbeschlüssen arg zerzausten Zukunft stehen will. Um Grenzen soll es dabei gehen, denn, so heißt es in der offiziellen Einladung zum Zukunftskongress, "nur Grenzen schaffen Identitäten. Sie grenzen ab, was anders ist und definieren dadurch erst das Eigene." Leichter gesagt als getan. Denn die Grenzkonflikte sind heftiger geworden, seit die Alma Mater alles und jeden zur Brust nehmen soll. Was wird nicht alles von ihr verlangt: Mehr Studenten auszubilden und vor allem bessere, exzellent soll sie sein und innovativ, ein Ort der Ideen, des Gesprächs und der Patente, ein Motor des Wissens, der Wirtschaft und der Bürgergesellschaft gleichermaßen. Und jetzt auch noch das: ein Tummelplatz für die Exponenten der alternden Gesellschaft.

Seit immer mehr rüstige Rentner ihren verlängerten Lebensabend dazu verwenden, mit desillusionierten Jugendlichen um Spitzenplätze in überfüllten Hörsälen und Seminarräumen zu rangeln, hat das Wort ,Langzeitstudent‘ einen völlig neuen Klang. Wer kennt sie nicht, die weißhaarigen Seminaristen der dritten Lebenshälfte, die dem verdutzten Historiker bereitwillig erklären, wie es in Stalingrad "wirklich" gewesen sei. Oder die geisthungrigen ,Hausmütterchen‘, die philosophische Lesekurse mit Biographiearbeit verwechseln. Höchste Zeit also für eine Grenzziehung!

Vorneweg: Nichts gegen die Alten an sich. Die Unkultur der Altersdiskriminierung (und ihre Schattenseite, der Jugendlichkeitswahn) haben schon viel zu viel Schaden angerichtet. Wie sehr wir auf die Alten, ihr Wissen und ihre Lebenserfahrung angewiesen sind, müssen wir Kinder der beschleunigungssüchtigen Spätmoderne mit eingebautem Frühverrentungsreflex erst wieder mühsam lernen.
Dennoch: Die Universität ist keine Altenbildungsanstalt. Man überfordert sie damit. Ihr Kerngeschäft ist die (Aus-)Bildung des wissenschaftlichen Nachwuchses, der jungen Ökonomen, Lehrer, Medizinerinnen und Juristen. Es gibt namhafte Hochschulreformer, die schon die Studiengänge der drei letztgenannten Professionen lieber an Fachhochschulen oder anderswo beheimatet sähen, mit guten Argumenten. Wie viel mehr gilt das erst für die Spätberufenen! Denn um echte Ausbildung, das heißt den Erwerb von Qualifikationen, die auf eine Tätigkeit im ersten Arbeitsmarkt vorbereiten, geht es den Seniorstudierenden ja nicht. Sie wollen sich nicht aus-, sondern – im Humboldtschen Sinne – weiter bilden, ihren von Familiengründung, Hausbau und Arbeitsleben verengten Horizont aufbrechen, und das in aller Ruhe. Universitas just for fun sozusagen.

Die Universität reagiert auf dieses nachvollziehbare Bedürfnis, indem sie gedankenlos ihre Türen öffnet. Doch weder die Lehrenden, noch die Studierenden – und auch nicht die Alten! – sind darauf wirklich vorbereitet. Wie auch? Weder bewilligen die Ministerien zusätzliche Studienplatz für die greisen Gäste, noch sind die Lehrenden, in der Mehrzahl junge, didaktisch unerfahrene Doktoranden und Tutorinnen (von den Professoren ganz zu schweigen), auf gehobene Erwachsenenbildung eingestellt. Und die eigentlichen Adressaten von Vorlesung, Seminar und Lektürekurs reagieren genervt oder einfach nur befremdet. Denn Alte und Junge verfolgen unterschiedliche Ziele, sind unterschiedlichen oder eben gerade keinen Zwängen mehr unterworfen, pflegen verschiedene Lernkulturen und einen anderen Umgang mit Lebenszeit. Das ist allen Beteiligten oft nur unterschwellig klar.

Statt zukünftig im Kernland der Studierenden ein breites Orchideenfeld der müßigen Alten anzulegen, sollte die Universität deshalb behutsamer – und produktiver zugleich – vorgehen: mit funktionaler Entdifferenzierung.

Das heißt: Auf der einen Seite sollte die Universität dankbar und gastfreundlich sein gegenüber jenen Alten, die fest im Berufsleben verwurzelt sind und in die Hörsäle und Labors zurückstreben, um ihr berufliches Profil zu schärfen und mit dem abgenutzten Schlagwort vom lebenslangen Lernen Ernst zu machen; die also tatsächlich einen Bachelor- oder Mastergrad erwerben möchten. Diesen Kommilitonen mit ihrer unschätzbaren Praxiserfahrung die Immatrikulation zu verweigern, liefe tatsächlich auf Altersdiskriminierung hinaus und wäre in einer alternden Gesellschaft regelrecht borniert. Umgekehrt heißt das aber auch: Die Bachelor- und Master-Senioren müssen sich den gleichen Formalia und Zwängen unterwerfen wie die Regelstudierenden. Auf der Verfahrensebene des Studiums, innerhalb des Credit point-Systems darf und soll es keine Diskriminierung geben, keine negative und auch keine positive. Gleiches Recht und gleiche Pflichten für alle, sozusagen. Auf diese Weise werden die Alten zum integralen Bestandteil der universitären Ausbildung – und nicht zu Feierabendhumanisten, die als Betriebsstörung wahrgenommen werden.

Für die andere, weitaus größere Gruppe der Seniorstudierenden aber, die Bildung um ihrer selbst willen suchen, sollte die Universität lieber ein eigenes Angebot schaffen, also mit Ausdifferenzierung statt mit Öffnung und Integration reagieren.
So könnte es beispielsweise in jedem Institut ein Altenseminar geben, das die ungenutzten Diensträume und die leer stehenden Hörsäle in den offiziellen Semesterferien nutzt; in dem Emeriti und außeruniversitäre Praktiker ein Curriculum jenseits der credit point-fixierten Bologna-Universität entwerfen und damit das hohe Ideal Humboldts pflegen und glaubhaft personifizieren.

Mittel- und langfristig könnte eine solche akademische Altenschule ielleicht auch ein verlockendes Angebot für die Jüngeren sein, die den Bologna-Betrieb satt haben; die von der Lebens- und Berufserfahrung der Alten in einer Umgebung jenseits der Regelstudienzeit profitieren wollen, weil sie dort den frischen Hauch jener gar nicht so veralteten Universität spüren, die wir gerade munter abwickeln.

Beitrag von Christian Dries
Bildquellen: Christian Dries

Links zum Thema

  • Zur Jubiläums-Webseite der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.
  • Zum Humboldt-Labor (Zukunftskongress); mit zahlreichen Diskusionsbeiträgen zur Zukunft der Hochschule.
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