August 2004

"Liberalität ist keine Frage des Alters"

Leonard J. Koch sciencegarden verleiht den "Stein der Weisen" an Prof. Erik Fischer. Der Bonner Musikwissenschaftler verbindet traditionelle, moderne und postmoderne Sichtweisen in Lehre und Forschung. Innerhalb eines konservativen Faches beschäftigt er sich auch mit MTV, der Avantgarde und aktueller Filmmusik. Er ist so zum Anlaufpunkt für herausragende Studierende geworden.
Ein Interview.

sg: Welche Erfahrungen haben Sie in Ihrem Studium gemacht?

EF: Da ich mich in ganz verschiedenen Fächern umgesehen habe, sind es sehr gemischte Erfahrungen. Die primären Prägungen sind für mich aber durch die Reform-Universität Bochum gekommen. Mein Studium begann 1966; da herrschte ein Klima für sehr allgemeine und kritische Fragen, die auch die ganze Institution Universität betrafen. Zudem waren wir ganz wenige Studierende in einer offenen Atmosphäre. Aber es gab auch die verhärteten Strukturen, den "Muff unter den Talaren", den man damals noch handgreiflich erleben konnte. Das führte auch zu einer eigentümlichen Spannung, die mit dem Lebensalter wenig zu tun hatte. Es gab einen alten Rektor in Bochum, einen evangelischen Theologen, der sehr weit darin ging, Interessen für Studierende zu entwickeln. Und es gab auch die Jüngeren, die 40 Jahre Anpassung durchlaufen hatten, dann endlich Professor – und dementsprechend konservativ – geworden waren. Liberalität ist keineswegs eine Frage des Alters.

sg: Welche Fächer haben Sie studiert?

EF: Ich habe angefangen mit Literaturwissenschaft und Altgermanistik, Pädagogik und Musikwissenschaft. Philosophie habe ich gleich mit dazu genommen. Ich hatte damals große Schwierigkeiten, mich schon eindeutig zu binden. Zunächst war mein Schwerpunkt die Literaturwissenschaft. Ich hatte den Luxus, über 20 Semester studieren zu können, mit allen Ergänzungen und Ausweitungen. Eine Zeit lang habe ich noch Psychologie studiert und mich bei der Slawistik umgeschaut, also eigentlich die Idee der Universitas gelebt. Heute gibt es diese Möglichkeit im Rahmen des Regelstudiums nicht mehr, nicht einmal unter idealen Voraussetzungen. Das war damals eine sehr offene und freie Situation, die mich bis heute prägt. Die Universität gab einem nicht nur eine Arbeitsmöglichkeit, sondern sie nahm einen an. Es ist nicht wie heute, dass einem nach sechs Jahren Arbeit an einem wichtigen Thema durch das Hochschulrahmengesetz gleichsam Berufsverbote drohen. Ich habe von 1966 bis 1971 mein Magisterstudium absolviert, dann aber erst 1980 promoviert und mich schließlich 1989 habilitiert.

sg: Hatten sie schon früh Ziele für Ihren Berufsweg?

EF: Eigentlich nicht. Ich wollte immer pädagogisch arbeiten und habe ab 1972 zwei Jahre lang Deutsch und Musik an einem Gymnasium unterrichtet. Das war eine wichtige Erfahrung, die mir aber auch gezeigt hat, dass ich vielleicht besser an der Universität arbeiten sollte. Mein Ziel war es dann, eine Dissertation zu schreiben, die so profund war, dass sie einen weiteren Weg eröffnete.

sg: Sie haben interessengeleitet studiert. Glauben Sie, dass es die Kreativität des Denkens, das Querdenken befördert, wenn man engagiert, aber nicht zielorientiert studiert?

EF: Ja, auf jeden Fall! Man hat versucht Kreativität auch theoretisch zu begründen: Sie hat jedenfalls sehr viel damit zu tun, dass man an irgendeiner Stelle die Ebene wechselt, und zwar an einer, die nicht vorher bestimmbar ist. Ein so traditionelles Fach wie die Musikwissenschaft muss daher erfrischt werden mit theoretischen Fremdanregungen. In den 1970er Jahren waren das zum Beispiel der russische Formalismus, der Prager Strukturalismus oder der französische Poststrukturalismus und die Diskursanalyse, dann kamen technologische Ansätze hinzu. Wir haben versucht diese neuen Ansätze auf musikwissenschaftliche Fragen anzuwenden, und dies kann Kreativität freisetzen. Wie gesagt: Man wechselt die Ebene, die Blickrichtung, die Bezüge. Man brauchte dafür verschiedene Brückenköpfe, um von da aus auf ein anderes Gebiet zu gehen. Fehlen diese, dann bleibt man ganz brav in den Strukturen und Tradition seines Faches. Man kommt dann, stromlinienförmig, zwar beruflich weiter, aber nicht inhaltlich.

sg: Wie reagierte die Universität auf diese theoretischen Innovationen?

EF: Es gab einen großen Riss zwischen den traditionellen Orientierungen an der Universität und dem, was in der Welt des Denkens gerade ablief. Es gab aber auch einige junge Assistenten, die gefördert wurden, die zeitgemäß orientiert waren. Jürgen Link beispielsweise, mein Vorgänger als wissenschaftlicher Assistent in Bochum, war Diskursanalytiker und ihm habe ich viel zu verdanken. Hier gab es schon Unterschiede zwischen den Älteren und den Jungen. Viele Lernprozesse vollzogen sich in freien Arbeitsgruppen. Man erzeugte Wissen, wollte lernen, Neues probieren – und andere Ziele gab es nicht. In der Institution Universität waren damals neue Denkrichtungen noch nicht angekommen, also haben wir Parallelewelten geschaffen. Man suchte dann einen zumindest liberalen Doktorvater, der das zwar nicht mitvollzog, aber wenigstens duldete oder akzeptierte. Aber dafür braucht man Glück – es gab von dieser Sorte nicht viele. Ich habe damals Habilitationsverfahren erlebt, da herrschte nicht nur Missverstehen, sondern völliges Nichtverstehen. Wir hatten alle Thomas Kuhn gelesen, wussten also zumindest, was ein ‚Paradigma’ ist und wie der normale wissenschaftliche ‚Betrieb’ läuft, deshalb waren wir relativ illusionslos

sg: Warum wird man dann Professor? Aus dieser kreativen Atmosphäre der Parallelwelt hinein in die verknöcherte Institution?

Erik FischerEF: Das völlig Verrückte dabei ist, wenn man meine Biographie betrachtet, wie sie heute auf der Homepage steht, dann wird sie vorgeblich von hoher Kontinuität und Zielgerichtetheit geprägt. Es konnte scheinbar gar nicht anders kommen: Promotion, Stipendium, Habilitation, Hochschuldozentur, Professur – traumhaft glatt, oder? Wenn man es aber selbst erlebt hat, kann man sich nur amüsieren, welche Konstruktionen nachher zu dieser Abbildung führen. Die Karriere wird durch größte Zufälligkeiten bestimmt, ist mit Risiken behaftet. Es gibt Momente, in denen man meint, es gehe überhaupt nichts mehr weiter. Ich habe beispielshalber nur sechs Wochen vor dem Ausschlusstermin die erste Verbeamtung bekommen. Das sind Momente, an die ich offen zurückdenke und an denen ich sehe, dass man das nicht planen kann. Man kann nur versuchen die zu überzeugen, die über einen entscheiden, mehr nicht. Und selbst diesen Vorgang sehe ich zunehmend kritisch und weiß kaum noch, ob ich heute überhaupt noch jungen Wissenschaftlerinnen oder Wissenschaftlern raten kann, sich auf diesen Betrieb, wie er sich gegenwärtig entwickelt, einzulassen.

sg: Dieser Betrieb verändert sich sehr, aus der Perspektive des Nachwuchses wird es enger, restriktiver und es gibt Berufsverbote durch das Hochschulrahmengesetz. Inhaltlich wird aber gefordert, dass man genauso frei und spielerisch mit Wissen umgeht wie früher. Wie nehmen Sie diese Veränderungen und die Studierenden heute war?

EF: Eine schwierige und heikle Frage. Die Studierenden verändern sich ganz offenbar, man kann dabei zuschauen. Man beobachtet, dass natürlich nicht Kompetenzen verloren gehen, sondern sich nur umschichten. Die Klage über den Verlust der Bildung setzt sich seit Jahrhunderten andauernd fort, wir finden sie beim Archipoeta nicht anders als bei Humboldt. H. M. Enzensberger hat in "Mittelmaß und Wahn" anschaulich geschildert, wie die ältere Formation von Wissen überheblich auf das zurückschaut, was eben nicht mehr da ist. Das beobachte ich sehr handfest, während die Älteren vornehmlich klagen. Als ich 1989 über mittelalterliche Musik gelesen habe, waren noch alle Studenten überzeugt, dass dies genau das Wissen ist, was sie brauchen. Einige lebten diese alte musikalische Kultur auch praktisch und schufen sich elaborierte Zusammenhänge. Wenn ich heute darüber referiere, brauche ich einen völlig anderen Ansatz, um überhaupt erst einmal zu zeigen, was das Fremde am Mittelalter ist, denn als Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der gegenwärtigen ‚Geschichtskultur’ meinen wir heute, dass das historisch Ferne im Grunde nah sei, – aber das sind "Normalisierungen" von etwas, was eigentlich nicht mehr ursprünglich erfahren wird. Wir können lediglich Bruchstücke besichtigen, mehr nicht. Diese Spannung macht für mich als Lehrer die Sache sehr schwierig. Auf der Seite der Studierenden sehe ich freilich auch Vorteile. Eine feste Bildungstradition, also zum Beispiel die absolute Verbindlichkeit der antiken Literatur, die für mich noch die vertraute Welt ist, existiert für die Studierenden heute nicht mehr. Es gibt keinen Tag, an dem ich mich nicht mit lateinischen oder griechischen Texten beschäftige, um diese Bezüge zu pflegen. Für meine Generation ist das nicht unüblich, es ist kein Zwang, sondern selbstverständliches Interesse. Die Studierenden heute, die diese Bezüge nicht haben, kennen hingegen eine große Freiheit im Umgang mit Themen, die sie auch in andere Kontexte einlesen können. Ich muss mich heute viel weniger den Normsetzungen unserer antiken und christlichen Kultur widmen und diese dekonstruieren. Ich kann sofort mit Armenien, Syrien, Alexandria oder Kiew anfangen, weil die Studierenden dafür frei sind. Studierende heute wissen bestimmte Dinge nicht, haben dafür aber viele andere Kompetenzen. Latein ist für sie nur eine scheinbar unnötige Mühe. Ich habe mich sehr dafür eingesetzt, dass wir Latein zwar empfehlen, aber nicht mehr zur zwingenden Voraussetzung für unser Studium machen. Der Kontext, in dem die Beschäftigung mit Latein früher stand, existiert nicht mehr. Und wer über die russische Oper arbeiten will, soll lieber Russisch lernen, um näher an diese Kultur zu kommen. Dass Latein dennoch eine wunderbare Sprache ist, hat damit gar nichts zu tun.

sg: Mir ist aufgefallen, dass bei Ihren Kollegen Mozart-Portraits an der Wand hängen. Bei Ihnen liegt ein Video von "Sex and the City" herum und mit Ihren Studenten schauen Sie ab und zu MTV. Wie kommt es zu so verschiedenen Orientierungen?

EF: (Lacht) Ich bin auch in der Medienwissenschaft tätig, daher das "Sex and the City"-Video. Grundsätzlicher ist aber, dass ich nicht viel vom naiven Festhalten an "Authentizität" halte. Viele Fachkollegen sind interessiert an Werk und Autorschaft, das sind noch immer die leitenden Kategorien. Der Rezipient hat nichts anderes zu tun, als das Werk kontemplativ so gut wie möglich zu verstehen. In der Literaturwissenschaft wurde diese Sichtweise schon in den 1960er Jahren in Frage gestellt. Diesen methodischen Schritt in die Rezeptionsästhetik oder -geschichte, und das war ja nur ein Anfang, hat die Musikwissenschaft bislang noch kaum geschafft. Etliche Musikwissenschaftler kultivieren bis heute die großen Namen, halten sich an diese enge Auswahl und schränken damit auch ihre Forschung sehr stark ein. Musik ist natürlich viel mehr als eine Abfolge der wenigen "Genies". Aber auch der allgemeine Diskurs ist der stetigen Weiterentwicklung und Veränderung der Musik – und des Musik-Begriffs – nicht mehr gefolgt, man hat vielmehr einen Traditionsbruch konstruiert und festgeschrieben. Die Musik nach 1910 heißt noch immer (!) "Neue Musik". Und das Publikum, und mit ihm auch viele Musikwissenschaftler, bleiben lieber bei der alten Musik, in ihren Augen der schönen, richtigen, "klassischen" Musik. Nach 1910 ist scheinbar alles neu, kompliziert und unerquicklich. Man kann das heute auch als Musikwissenschaftler behaupten, und solch eine Aussage wird nicht sanktioniert. Dass Videoclips eine musikalische Kunstform sind, sollte heute eigentlich keiner ernsthaft bestreiten können. Aber gerade Musikwissenschaftler scheinen ironischer Weise dazu zu neigen, eher mit geschlossenen Ohren durch die Welt zu laufen. Für sie bleibt "Le Sacre du Printemps" von Strawinsky, ein Werk von 1913, fortwährend ‚modern’ und ‚neu’. Noch mehr als "neue" Musik werden aber alternative, ungewohnte Analysemethoden abgelehnt. Es herrscht oftmals die Vorstellung, dass die Musikwissenschaft die Würde der großen Komponisten verteidigen müsse. Man hält sich nicht nur musikalisch an das 19. Jahrhundert, sondern bleibt dort auch methodisch stecken. Viel spannender erscheint es mir hingegen, nach wissenschaftlichen Methoden zu suchen, die sowohl auf antike Musik wie auf die "Klassik", auf Avantgarde-Kunst wie auch auf MTV angewandt werden können.

sg: Hört ein Musikwissenschaftler anders Musik als ein Laie? Hören Sie noch mit Genuss oder wird es schnell zur Arbeit?

EF: Es gibt sicherlich verschiedene Weisen mit Musik umzugehen. So sind viele Musikwissenschaftler zugleich auch Musiker. Ich habe lange Klavier studiert und bin auch Jazz-Schlagzeuger gewesen. Dann kann es hilfreich sein, die Werke, die man erforscht, auch selbst zu spielen. Bartok ist verständlicher, wenn man ihn quasi in den Fingern hat. Es gibt also zumindest drei Möglichkeiten: den Praktiker, der selbst spielt, den Hörer und den Wissenschaftler. Als privater Mensch kann ich Musik einfach anhören. Den Wissenschaftler interessiert nicht nur die Werkstruktur, sondern auch der gesamte kulturelle Kontext. Man kann diese Zugänge nicht völlig voneinander trennen, aber natürlich Schwerpunkte setzten. Ich habe auch Musik – die ich jetzt nicht verrate! –, die ich einfach einmal auflege. Bei dieser Frage gibt es zwar das Klischee, dass Musikwissenschaftler die Musik hassen, weil sie sie kalt analysieren. Das trifft aber gewiss nicht zu, denn die meisten lieben – wie auch ich selbst – die Musik. Öfter anzutreffen ist allerdings das Gegenbild dessen, der die Wissenschaft nur gering achtet; denn es gibt durchaus Kollegen mit dem Komplex, dass sie "nur" Musikwissenschaftler sind. Sie wollen eigentlich Musiker sein und setzen hier weiterhin ihre Hauptakzente. Das ist oft tragisch, weil wir letztlich nicht Künstler, sondern Wissenschaftler sind. Man muss sich irgendwann eindeutig entscheiden. Ich sage das auch Studierenden: Wir taugen für vieles, aber wir sind kein Ersatz für eine unerreichbare oder nach dem Hochschulstudium gescheiterte Künstlerkarriere. Wir machen nicht Musik, sondern Texte über Musik, das ist etwas anderes.

sg: Die Weihnachtszeit naht, haben Sie noch einen Tipp? Was sollte man auflegen?

EF: Nun, ich will keine Musik empfehlen. Dies entspricht auch nicht meinem Wissenschaftsverständnis. In dieser Zeit wende ich mich – auch als braver Protestant – immer wieder den Weihnachtsmessen der Gregorianik zu. Dies Ineinander von Sprache und Musik entzieht sich unseren sonstigen, historisch erst später gewachsenen Vorstellungen und beeindruckt mich stets aufs neue. Demgegenüber ist mir das 19. Jahrhundert mit seinen "Ingenieuren der Seele" etwas fremd geworden. Das sind aber Fragen der subjektiven Bewertung, des Geschmacks, nicht der Wissenschaft. Deshalb: Hören Sie, was Sie gern hören, oder wenden Sie sich doch expilzit einmal dem eher Unvertrauten zu. Vielleicht sind die Gesänge der Hildegard von Bingen, die David Lynch vor einigen Jahren mit Jocelyn Montgomery aufgenommen hat, inzwischen wieder erhältlich...

Das Interview führte Frank Berzbach, Vorbereitung und Mitarbeit: Martin Rohrmeier

Links zum Thema

  • Lehr- und Forschungsbereich Prof. Erik Fischer
  • Der Dokumentarfilm "Rhythm is it"
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