Soziologie

"Unsere Medien, unsere Täter"

Kein Jahr ist es her, dass der TV-Mehrteiler Unsere Mütter, unsere Väter eine lang andauernde, zum Teil hoch emotionale öffentliche Debatte inklusive juristischem Nachspiel ausgelöst hat. Bis heute ist Ulrich Herberts klugem Verdikt dazu in der taz vom 21. März 2013 im Grunde wenig hinzuzufügen. Das Hamburger Institut für Sozialforschung hat dem Thema - der Mini-Serie wie der Verarbeitung des Nationalsozialismus in anderen Medien - nun jedoch ein ganzes Heft seiner Hauszeitschrift Mittelweg 36 gewidmet.

Tatsächlich bietet die Generalkritik Christoph Classens am TV-Event ( Opa und Oma im Krieg ) wenig Neues: Dass der Film sich visuell an US-amerikanischen Serienformaten orientiert, war schon andernorts zu lesen. Auch die von Classen herausgestellte, fragwürdige Authentifizierungsstrategie - die geschickte Kombination von fiktionaler Filmhandlung einerseits, Dokumentationen und Talkrunden im Anschluss an die Ausstrahlung andererseits - ist kein Spezifikum des Mehrteilers. Ebenso wenig wie das platte, aber wirkungsvolle tragische Narrativ der ausweglosen Verstrickung vermeintlich völlig unschuldiger, hoffnungsfroher junger Menschen (die wirklich Bösen sind wie immer die fiesen SS-Bestien...) und sein relativistischer Charakter. Das Fazit Classens kann daher kaum überraschen: Unsere Mütter, unsere Väter mache den Krieg zum großen Meta-Subjekt, das seine Protagonisten formt, und sei entgegen anderslautender Ansprüche der Produzenten keine innovative Verarbeitung des Vernichtungskriegs.

Ein wenig ratlos hinterlässt den Leser auch der Beitrag Ulrike Weckels, die Reaktionen von Tätern und deutscher Bevölkerung auf alliierte atrocity -Filme wie z.B. Death Mills untersucht hat. Ihre These: Die Deutschen hätten nicht nur auf den jeweiligen Film reagiert, sondern auch auf die "(unterstellte) Beschämungsabsicht der Alliierten". Zwar habe sich kaum jemand als nicht beschämbar erwiesen - offen positive Reaktionen wären im besetzten Deutschland auch kaum vermittelbar gewesen -, es lasse sich jedoch nur im seltensten Fall feststellen,"[w]ie sehr und wessen genau sich die beschämbare breite Mehrheit schämte"...

Wesentlich aufschlussreicher ist hingegen der Versuch der beiden Nachwuchsforscher Janosch Steuwer und Hanne Leßau, auf Sebastian Haffners Frage "Wer ist ein Nazi? Woran erkennt man ihn?" eine historisierende Antwort zu geben. Anhand von exemplarischen Tagebuchaufzeichnungen verfolgen sie, wie sich definitorische Selbstaussagen von Zeitgenossen, die dem neuen Regime zunächst ablehnend oder kritisch gegenüberstanden, schleichend an die neuen (politischen) Lebensbedingungen anpassten. Die Frage, wer ein Nazi ist und wer nicht, wird nach der Machtergreifung Hitlers zur Aufgabe biographischer Selbstbestimmung aller "Volksgenossen". Vor 1933 galt als Nazi, wer sich zur Partei bekannte und damit politisch hinreichend von anderen Parteigängern unterscheidbar war. Danach gab das Regime allein den Rahmen vor, innerhalb dessen man Farbe zu bekennen hatte - ein Rahmen, der auch deshalb so stabil war, wie Steuwer und Leßau betonen, weil er in gewissen Grenzen individuelle Aneignungen und Abweichungen tolerierte und es auf eben diese Weise erlaubte, die eigene Biographie mit dem System kompatibel zu machen.

In der Literaturbeilage sucht Norman Ächtler nach der Thematisierung von Kriegsverbrechen und Judenverfolgung in deutschen Nachkriegsromanen. Sein Fazit: Die Rolle der Wehrmacht werde geschönt, der unbescholtene Landser dem niederträchtigen SS-Mann gegenübergestellt - die Vernichtungsdimension des Krieges aber durchaus nicht verschwiegen.

Das Highlight der Ausgabe ist Jens Wietschorkes kulturwissenschaftliche Analyse eines NS-konformen Reiseführers: Baedekers Generalgouvernement . 1943, auf dem Höhepunkt des Neuordnungs- und Vernichtungsfeldzugs der Nazis erschienen, ist das Buch weniger Fremdenführer denn performatives Propagandainstrument. Es führt der Leserschaft das besetzte Territorium als 'deutsche Landschaft' vor und erweist sich so als  kulturwissenschaftliche Fundgrube für die Untersuchung einer NS-Schlüsseldisziplin: der angewandten - sprich gewaltsamen - Raumplanung. In deren Geist präsentiert der Reiseführer mit bildungsbürgerlich-humanistischem Duktus eine "durchweg deutsch dominierte kulturelle Topografie". Indem Baedekers Generalgouvernement den Raum selektiere, stereotypisiere und vereinfache, so Wietschorke, mache er ihn ganz im Sinne der Homogenisierungs- und Sozialgärtnerphantasien der NS-Raumingenieure lesbar - und wiederhole damit die militärische Landnahme symbolisch noch einmal. Doch trotz dieser Veralltäglichungsstrategie der deutschen Besatzungsherrschaft offenbart er gerade durch das, was er auslässt, bzw. in einer "groteske[n] Reihe ungeheuerlicher Unterschlagungen" regelrecht auslöscht, die historischen Verhältnisse des Jahres 1943 mit ihrem "Ineinander von Geopolitik, Massenmord und medialem Diskurs" wie in einem Brennglas.

Baedekers Generalgouvernement ist mehr als nur ein Reiseführer: Während er im Plauderton die Normalität und Kontinuität der deutschen Besatzung herstellt, tritt er zugleich als "geschichts- und geostrategisches Papier" auf, als "autoritative[s] Tableau gouvernementalen Raumwissens". Aus dem Reisebrevier ist ein Kompendium für Kolonisatoren geworden - "eine glatte Umkehrung des Prinzips der Reise als Horizonterweiterung."

Du sollst schreiben!

Wer vor nicht allzu langer Zeit während des Studiums noch regelmäßig in akademischen Buchstabenwüsten verdurstete und auf der Suche nach kundiger Anleitung bei eigenen, ersten Schreibversuchen meist ins Leere lief, der sieht sich heute erfreulicherweise einer wachsenden Zahl wohlformulierter Monographien einerseits, einer stattlichen Phalanx an gedruckten Ratgebern und Workshops zum wissenschaftlichen Schreiben andererseits gegenüber.

Letztere versprechen "keine Angst vor dem leeren Blatt" (Otto Kruse) und begleiten den Schreibnovizen durch alle Unwägbarkeiten "von der Idee zum Text" (Helga Esselborn-Krumbiegel). Alttestamentarisch knapp mutet das soeben erschienene Vademecum des Hannoveraner Philosophieprofessors Dietmar Hübner an: Seine Zehn Gebote für das philosophische Schreiben , nur 80 Seiten kurz, gehören - das gleich vorweg - zum Besten (und nebenbei auch Unterhaltsamsten), was der Markt derzeit zu bieten hat; nicht nur für Philosophen!

Hübner schreibt nicht aus der Perspektive des Dienstleisters, sondern der des engagierten Dozenten, der sein Fachgebiet liebt und den die handwerkliche bzw. literarische Qualität der Haus- und Qualifikationsarbeiten seiner Studenten nicht selten befremdet. Dabei doziert er keineswegs von oben herab. Es gelingt ihm vielmehr auf engstem Raum konsequent und präzise und in lebendiger, direkter Sprache zu vermitteln, was eine gute, und das heißt immer auch: gut lesbare akademische Arbeit ausmacht - und dass an der Universität (jedenfalls in den Geisteswissenschaften) nur besteht, wer jenseits von "Facebook-Deutsch und Chatroom-Höhlenmalerei" die Grundregeln des Schreibens beherrscht. Diese sind dann rasch und ohne Umschweife aufgestellt: Interesse an der Sache, klare Struktur und Gedankenführung, Mut zum Selberdenken, Fairness im Urteil, guter Stil und Regelkenntnis, ausreichend breite Quellenbasis sowie schließlich formale Korrektheit.

Dass Hübner seine zehn Gebote selbst beherzigt, macht jede Seite des Büchleins eindrucksvoll deutlich. Auch Nichtphilosophen - und selbst erfahrene Scribenten - werden es mit Gewinn lesen, weil es nicht nur auf typische Anfängerfehler eingeht, sondern zugleich eindringlich daran erinnert, was gute Wissenschaft überhaupt auszeichnet (z.B. nicht die schwächsten, sondern stets die stärksten Argumente eines akademischen Gegenübers zu attackieren). Die Empfehlung des Autors, neben der Schreibpraxis immer wieder auf herausragende Texte - vornehmlich Weltliteratur - zurückzugreifen, um den eigenen Ausdruck zu schärfen, lässt sich auf ihn selbst anwenden: Unbedingt lesen!

Dietmar Hübner (2012): Zehn Gebote für das philosophische Schreiben. Göttingen, 80 S., 6,99 Euro.

Die Pathologie der Spielplätze

Wer unsere Gesellschaft kennen lernen will, muss regelmäßig die Spielplätze konsultieren. An Werktagen zu 95% Mütter mit ihren Kindern, keine Männer, auch da, wo nur die Lohas hingehen. In den zwei Monaten Erziehungszeit fahren die meisten Männer, strategisch für sie angenehmer, mit der ganzen Familie in Urlaub oder man geht halt mal zu dritt auf den Spielplatz. Die Frauen wirken nicht gerade entspannt, ihnen sitzt nämlich die zusätzlich zu erledigende Erwerbsarbeit im Nacken. Geht man als Mann hin, dann wird man ignoriert und bietet den anwesenden Damen eine Projektionsfläche für ihren Neid -- der eigene Mann geht schließlich lieber arbeiten. Samstags ein ganz anderes Bild: eigentlich fast nur hyperaktive, auffällig liebevolle Männer mit ihren Kindern; sie bearbeiten ihr schlechtes Gewissen und strengen sich nun an, damit die eigene Frau auch einmal in Ruhe Duschen gehen kann oder sogar zum Friseur. Der Samstag ist kein guter Tag für Frauen, weil die dann als Projektionsfläche für die Herren dienen, die ja viel lieber in einer Kneipe dem Fußball folgen würden und endlich mal nach einer harten Arbeitswoche in Ruhe ein Bier trinken. Das ist, denkt man darüber nach, eine ziemlich eindeutige, aber doch niederschmetternde empirische Einsicht: für beide Geschlechter! Der Autor ist ist zwar kein Fußballfan, aber was er mit einem Samstag so richtig anfangen soll -- also ein Samstag mit Kleinkind! -- das steht dennoch in keinem der gängigen Soziologiebücher. Bei den Psychopathologen habe ich noch nicht nachgeschaut, soweit sollte es auch nicht kommen. Es herrscht jedenfalls theoretischer wie empirischer Nachholbedarf!

Intellektuelles Wurzelgeflecht in Handbuchform

Gilles Deleuze und Félix Guattari gehören zu den herausragenden französischen Intellektuellen des vergangenen Jahrhunderts. Gemeinsam haben sie den aus der Botanik stammenden Terminus ,Rhizom' in die Philosophie eingeführt, als metaphorischen Gegenentwurf zum klassischen ,Baum' des Wissens. Während die Baumstruktur hierarchisch und dichotomisch ist, jedem Element einen eindeutigen Platz in einem festen Gefüge zuweist und ohne Querverbindungen, Sprünge und Uneindeutigkeiten auskommt, ist das Rhizom eine vielfältig in sich und mit anderen Rhizomen verflochtene, wild wuchernde Struktur von Verästelungen und Knollen.

So ähnlich, wie eine Art Sprossachsensystem, kann man sich die französische Philosophie des 20. Jahrhunderts vorstellen, mit ihren Verflechtungen in Richtung Phänomenologie und Psychoanalyse, den erhabenen Knotenpunkten – der Kaderschmiede École Normale Supérieure oder dem Collège de France –, ihren genialischen Sprösslingen à la Sartre und Foucault und intellektuellen Schattengewächsen wie Marc Richir, Étienne Balibar, Sarah Kofman oder Mikel Dufrenne, die über die Grenzen Frankreichs hinaus nicht mehr Vielen bekannt sind.

In ihrem Autorenhandbuch zur französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts haben die beiden Hagener Philosophen Thomas Bedorf und Kurt Röttgers dieses ausgreifende Geflecht nun in eine gleichermaßen benutzer- wie gegenstandsfreundliche Form gebracht. Denn obwohl die Herausgeber ein Theoriefeld mit deutlich identifizierbaren Konturen – Strukturalismus, Dekonstruktion, Diskurstheorie... – ausmachen, wollen sie in erster Linie die "die Vielfalt des französischen Denkens in seiner Breite abbilden", ohne dabei allzu scharfe historische und geographische Grenzen zu ziehen: Neben Nachkriegsautoren finden sich Denker des späten 19. Jahrhunderts; Belgier, Schweizer und vornehmlich auf Englisch publizierende Autoren stehen gleichberechtigt neben Franzosen. Man kann das (alphabetisch gegliederte) Handbuch daher getrost rhizomatisch lesen, von einem Verzweigungspunkt zum anderen. Die insgesamt 98 Artikel namhafter Expertinnen und Experten sind von unterschiedlicher Länge, aber ausnehmend hoher Qualität. Sie geben einen kurzen biographischen Abriss ihres Protagonisten, eine knappe Darstellung der zentralen theoretischen Innovationen nebst Ausblick auf Einflüsse und Umfeld sowie ausgewählte Lektürehinweise. Ein ausführliches Literaturverzeichnis, Begriffs- und Personenregister beschließen den kompakten Band, der den Blick auf "ein theoretisch fruchtbares Jahrhundert" weitet und dazu einlädt, sich tiefer in das französischen Denkgeflecht des 20. Jahrhunderts hineinzugraben.

Thomas Bedorf/Kurt Röttgers (Hg.) 2009: Die französische Philosophie im 20. Jahrhundert. Ein Autorenhandbuch. Darmstadt, 400 S., 79,90 Euro (Preis für Mitglieder der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft: 49,90 Euro).

Doppelte Einladung in die Soziologie

Hochschulabsolventen haben, so heißt es, gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Das mag für Wirtschaftswissenschaftler und Ingenieurinnen richtig sein. Für Soziologen sieht die Prognose schon anders aus. Wer sich also für die Wissenschaft von der Gesellschaft entscheidet, muss gute Gründe haben – oder überhaupt erst welche ausfindig machen.
Glücklicherweise herrscht an gedruckten Appetizern respektive einführenden Darstellungen für Studierwillige und Unentschlossene kein Mangel. Zu den herausragenden und insbesondere für Erstsemester empfehlenswerten Orientierungshilfen zählt ein handlicher Band aus dem Campus-Verlag. Der Untertitel ist Programm: Die beiden Herausgeber, Uwe Schimank und Nadine Schöneck, wollen Gesellschaft begreifbar machen, indem sie eine „Einladung zur Soziologie“ aussprechen. Genau genommen sind es dreizehn Einladungen, eingängig formuliert von namhaften deutschsprachigen Soziologinnen und Soziologen, darunter Michael Hartmann, Nicole Burzan, Armin Nassehi und Hartmut Rosa.

Die Autorinnen und Autoren des Bandes geben nicht nur einen kurzen Abriss ihrer jeweiligen Forschungsthemen – von den Dämonen der Beschleunigungsgesellschaft über Gleichheitsfiktionen in Paarbeziehungen bis zur Schlüsselrolle der Sozialpolitik und zum Doping im Spitzensport –, sie erzählen auch, mitunter sehr persönlich, was sie zur Soziologie gebracht hat, was sie an „ihrem“ Fach fasziniert.
Das ist im besten Sinne einladend – und gleichermaßen produktiv verwirrend. Denn nicht immer gehen Studienmotivation und wissenschaftliche Praxis Hand in Hand. Dass die Soziologie davon lebt, Verunsicherungswissenschaft zu sein, lieb gewonnene Gewissheiten und Alltagsüberzeugungen von einer Beobachterperspektive zweiter Ordnung aus in Frage zu stellen, macht der Band auf unterhaltsame Weise deutlich. Er vermittelt so einen ersten Eindruck von der besonderen Qualität soziologischen Denkens. Und er macht Lust auf mehr, allen Arbeitsmarktprognosen zum Trotz.

Wer die Forscherinnen und Forscher hinter den Texten näher kennen lernen will, hat nach der Lektüre des Sammelbands zwei Optionen: Er oder sie kann entweder gleich Soziologie studieren oder erst einmal das Medium wechseln: Im Internet finden sich ausführliche Viedeointerviews mit allen Protagonisten - eine zweite Einladung, der man ebenso gerne Folge leistet wie der ersten.

Uwe Schimank/Nadine M. Schöneck (Hrsg.) 2008: Gesellschaft begreifen. Einladung zur Soziologie. Frankfurt/M., 195 S., 18,90 Euro (auch als E-Book für 15,99 Euro erhältlich).

Lebenszeichen 2011: Kalender der bedrohten Völker

Vom "Westen" bedroht: Arhuacos in der Sierra Nevada, Kolumbien

Der im vergangenen Jahr verstorbene Anthropologe Claude Lévi-Strauss (1908 -2009) sah zuletzt sein Fach im „Verschwinden" begriffen. Das in der europäischen Eroberung und Kolonialisierung wurzelnde Vorhaben, „alle menschlichen Erfahrungen einzusammeln“, sei an ein Ende gekommen, da „keine der menschlichen Erfahrungen, von denen wir wissen können, von der westlichen Kontaminierung frei“ sei.

Tatsächlich scheint es, dass kaum noch ein Winkel des Planeten vor dem großen Vernichtungswerk des Westens, alles Andersartige sich einzuverleiben, verschont bleibt: Kaum ein Landstrich ohne Satellitenfernsehen, kaum noch ein Volk oder Menschengruppe, die unabhängig vom kapitalistischen (Welt-)Markt, für sich wirtschaften können.

Gewaltsame Landvertreibungen oder schleichende Umweltzerstörungen bedrohen genauso wie subtiler wirkende "Softpowers" der kulturellen Hegemonie ganz unterschiedliche Völker, die ihr Kulturgut gegen die "Kontaminierung" zu behaupten versuchen.

Für sie setzt sich hierzulande die Gesellschaft für bedrohte Völker ein, indem sie diesen ein Sprachrohr ist, Menschenrechtsverletzungen an kulturellen Minderheiten anklagt und ihnen Hilfestellung gibt.

Auch dieses Jahr gibt die Gesellschaft einen Kalender heraus, der die Öffentlichkeit informieren will und jeden Monat ein anderes Volk in seinem Behauptungskampf dokumentiert: 13 DinA3-Bögen stellen in Porträts und Momentaufnahmen so unterschiedliche Völker wie Inuits, Kayapó oder Saharauis vor, deren Schicksale uns kaum bekannt sind.

Auf den Kalenderblatt-Rückseiten finden sich auführliche Informationen zu den Problemen, Erfolgen oder Rückschlägen im Ringen der Völker um ein selbstbestimmtes Leben. Ergänzt werden diese Berichte -  etwa über den Irokesenbund, Irakisch-Kurdistan, die Republik Tuva in Sibirien oder das Autonomiemodell Südtirol – durch Informationen über die jeweilige Menschenrechtslage.

Wer im kommenden Jahr 2011 seinen kulturellen Horizont weiten und dies noch mit einem guten Zweck verbinden möchte, kann den Kalender auf der Homepage der Gesellschaft bestellen .

Kein Hitzefrei für die Soziologie

Die Gesellschaftstheorie beschäftigt sich mit nahezu allen Aspekten, die ihr relevant erscheinen. Der Einfluss der Religion sei unterschätzt, konnte man neulich lesen. Aber eins erscheint gar nicht: DIE HITZE! Die ist keine psychologische Eigenschaft, sondern hat strukturelle Wirkung. Sie verändert, was Menschen tun und lassen können. Es gibt gegen sie kaum Schutz. Während Bewegung gegen Kälte hilft, sind wir hohen Temperaturen einfach ausgeliefert. Dass es kein schlechtes Wetter gäbe, sondern nur die falsche Kleidung -- dieses Sprichwort definiert ungute Wetterlagen nur im Hinblick auf Kälte und Regen; dabei sind die kaum ein Problem mehr, seit der Mensch Wolle verarbeiten kann und Regenschirme benutzt. Und richtige Kleidung hilft eben nicht gegen Hitze; die Nackheit hat gleich mehrere Limitationen, selbst in der pornographisierten Gesellschaft: wir können weder nackt zur Arbeit gehen, noch mehr als alles ausziehen. (Fragen Sie einmal einen Lehrer.)

Dass die Hitze auf die Kultur einwirkt, sehen wir in den Ländern, in denen man zu Leben versteht: Italien, Spanien, Portugal, Südfrankreich, Griechenland. Siesta ist dort kein moralisches Vergehen, sondern lebensbejahende Anpassung. Sie erhöht die Geburtenrate, lässt die Menschen in Ruhe essen und Lethargie als Kulturgut erscheinen. Mann rührt langsam den nächsten Espresso um. Das Wetter könnte sich also als Gegenmacht zu Beschleunigung und zum flexiblen Kapitalismus erweisen. Wenn in Spanien die Wirtschaftspolitiker schimpfen, die Siesta sei ein wirtschaftlicher Nachteil, dann wünscht man sich die sofortige Entfernung der vollklimatisierten Herren aus ihren Ämtern. Der Kulturbeitrag der Siesta ist ebenso wichtig wie die Gemälde im Prado. Es gibt Volkswirte, die denken -- noch Max Weber und nicht nur Mathematik wahrnehmend -- über den Zusammenhang von Konfession und Arbeitsmoral nach. In protestantischen Ländern wird länger gearbeitet und weniger Urlaub gemacht; die Menschen sind unzufriedener. (Zudem dürfen sie nicht sündigen, weil sie nicht beichten können.) Aber was ist mit dem Wetter? Mit der Hitze? Ist Südeuropa deshalb katholisch? Und ist das in der postsäkularen Gesellschaft überhaupt die zeitgemäße Lösung?

Also ein weiterer Vorschlag für ein Graduiertenkolleg: "Wetter, Kultur und Gesellschaft"! Die Gruppe sollte unbedingt im Süden ansässig sein und sich erst ab 30°C treffen.

Absurder Nobelpreis

Der renommierte amerikanische Historiker und Politologe Howard Zinn empfand die Verleihung des Friedensnobelpreises an den US-Präsidenten als schockierend . Bevor er sich entsann, dass Obama nur ein weiterer Preisträger unter vielen ist, der Frieden verpricht, während er Kriege führt. Angesichts dessen sollte sich das Preis-Komitee am besten in den Ruhestand begeben:

I was dismayed when I heard Obama was given the Nobel Peace Prize. A shock, really, to think that a president carrying on two wars would be given a peace prize. Until I recalled that Woodrow Wilson, Theodore Roosevelt, and Henry Kissinger had all received Nobel Peace prizes. The Nobel Committee is famous for its superficial estimates, won over by rhetoric and by empty gestures, and ignoring blatant violations of world peace.

Yes, Wilson gets credit for the League of Nations -- that ineffectual body which did nothing to prevent war. But he had bombarded the Mexican coast, sent troops to occupy Haiti and the Dominican Republic and brought the U.S. into the slaughterhouse of Europe in the first World War -- surely among stupid and deadly wars at the top of the list.

Sure, Theodore Roosevelt brokered a peace between Japan and Russia. But he was a lover of war, who participated in the U.S. conquest of Cuba, pretending to liberate it from Spain while fastening U.S. chains on that tiny island. And as president he presided over the bloody war to subjugate the Filipinos, even congratulating a U.S. general who had just massacred 600 helpless villagers in the Phillipines.

The Committee did not give the Nobel prize to Mark Twain, who denounced Roosevelt and criticized the war, nor to William James, leader of the anti-imperialist league.
Oh yes the Committee saw fit to give a peace prize to Henry Kissinger, because he signed the final peace agreement ending the war in Vietnam, of which he had been of the architects. Kissinger, who obsequiously went along with Nixon's expansion of the war, with the bombing of peasant villages in Vietnam, Laos, and Cambodia. Kissinger, who matches the definition of a war criminal very accurately, is given a peace prize!

People should not be given a peace prize on the basis of promises they have made (as with Obama, an eloquent maker of promises) but on the basis of actual accomplishments towards ending war, and Obama has continued deadly, inhuman military action in Iraq, Afghanistan, and Pakistan.

The Nobel Peace Committee should retire, and turn over its huge funds to some international peace organization which is not awed by stardom and rhetoric, and which has some understanding of history.

Wer sich's leisten kann

Wen das Gerede von der "Neuen Bürgerlichkeit" ebenso befremdet wie den Berliner Soziologen Hans-Peter Müller, wird sich über dessen Ausführungen in der Januar-Ausgabe des Merkur freuen . Dort fragt Müller, warum die Rede von einer (neuen) Bürgerlichkeit grassiert, wo doch "die gegenwärtige gesellschaftliche Verfassung weit entfernt von einer bürgerlichen Gesellschaft klassischen Zuschnitts ist und Vorstellungen vom Bürgertum eine Sozialformation umreißen, die lange schon der Vergangenheit angehört." Dass Anspruch und Wirklichkeit meilenweit auseinanderklaffen, legt der Soziologe in seinem Essay ebenso dar, wie er den Nieder- und Untergang des Bürgertums historisch umreißt. Müller stellt fest, dass "vor dem Hintergrund der Gesundung von Unternehmen und Staat auf dem Rücken der Bürger [...] den Betroffenen die Rede von »neuer Bürgerlichkeit« als angesonnenes Wert-, Stil- und Habitussyndrom wie purer Zynismus vorkommen" muss. Und weiter: "Sie ist ein Synonym für zu geringe Löhne und Einkommen, zu geringe private Kaufkraft und nur schwache private Vorsorgefähigkeit, höhere Kosten für Lebenshaltung, höhere Abgaben und Steuern und trotz veritabler Wirtschaftskonjunktur und einem Rekordsteueraufkommen für den Staat kein Hoffnungsschimmer am Horizont. Das Resultat ist Verunsicherung, massive Statusangst bis weit in die Mittelschicht und geringe Zuversicht."
Müllers Worte tun gut in Zeiten, in denen diese Mittelschicht auch in Europa ökonomisch, sozial und kulturell zerstört wird. Sein Fazit ist allerorten nachzuvollziehen: Viele Bürger würden gern dem neuen Narrativ der Bürgerlichkeit folgen, allein es fehlen ihnen die Mittel dazu."

Neue Ausgabe: Schwärme

Liebe Leserinnen und Leser,

die neue Ausgabe von sciencegarden ist online!
In diesem August mit dem Schwerpunkt "Schwärme".

Wenn Touristen im winterlichen Rom auf der Spanischen Treppe stehen und ihren Blick über die Ewige Stadt schweifen lassen, dann sind viele "Ahs!" und "Ohs!" zu hören. Oft gelten die Begeisterungsrufe den Staren, die sich über der Stadt sammeln und im Schwarm fantastische Formationen bilden: eine fließende, konzentrierte Bewegung wie bei einer Lavalampe. Kein Dirigent steuert die Bewegung der Gesamtheit. Es passiert alles wie von selbst. Auch andere Tiere folgen in der Masse scheinbar einer Geisterhand. Genau das fasziniert Wissenschaftler: Wie geht das? Und warum?

Auf diese und andere Fragen haben unsere Autorinnen und Autoren - allesamt Studierende des Studiengangs Online-Journalismus an der Hochschule Darmstadt - Antworten gesucht.

Bei ihren Recherchen stießen sie nicht nur auf Zoologen, sondern auch auf Informatiker, die nach dem Vorbild der Natur ihre Software gestalten. Und sie befragten Sozialwissenschaftler und Philosophen, ob sich Menschen überhaupt wie Schwarmtiere verhalten. Herausgekommen ist ein abwechslungsreiches Multimedia- Dossier in drei Rubriken.

Außerdem ändert sciencegarden ab diesem Sommer erneut seinen Erscheinungsrhythmus. Neben den gewohnten Startausgaben zu Monatsbeginn, darunter auch die bei Leserinnen und Lesern besonders beliebten Dossiers, veröffentlichen wir einzelne Beiträge zwischendurch.

Viel Spaß bei der Lektüre
wünscht im Namen der Redaktion

Christian Dries

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